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Insel ade, Erde ade?

Japan und die Folgen: Prof. Heinz Kautzleben sieht keine Endzeit *


Von Katastrophenfilmen »geschädigte« Menschen mögen derzeit in Endzeitstimmung verfallen. Darum befragte KARLEN VESPER für dasd "Newue Deutschland" den ehemaligen Direktor des Zentralinstituts für Physik der Erde an der Akademie der Wissenschaften der DDR, HEINZ KAUTZLEBEN, seit 1992 Privatgelehrter und Mitglied der Leibniz-Societät.

ND: Angesichts zerstörerischer Natur- und vom Menschen ausgelöster Gewalten – sollte nicht Japans Bevölkerung schleunigst evakuiert werden? Etwa nach Südsachalin?

Kautzleben: Ein solcher Gedanke ist völlig unrealistisch, allein schon deshalb, weil Japan 120 Millionen Einwohner auf einer Landfläche von 378 000 Quadratkilometern hat. Die Insel Sachalin hat eine Landfläche von lediglich 72 500 Quadratkilometern und ist für die Aufnahme einer derart großen Zahl von Menschen, die außerdem an eine hohe Zivilisation gewöhnt sind, in keiner Weise auch nur annähernd vorbereitet.

Es gibt weitere Beben. Ein Science-Fiction-Thriller von 1981 hieß »Japan sinkt«. Kann sich auch der Geophysiker eine solche Apokalypse vorstellen?

Als erstes muss man sachlich sortieren. Am Anfang stand das sehr starke Erdbeben vom 11. März gegen 14.45 Ortszeit unter dem Meeresboden des Pazifik. Das Epizentrum befand sich etwa 80 Kilometer östlich der japanischen Küste, rund 250 Kilometer nördlich von Tokio, mit einer Magnitude – das ist das Maß für die dabei freigesetzte mechanische Energie – von 9,0. Seitdem ist die Lithosphäre, also die feste Gesteinshülle, in der Region noch nicht wieder zur Ruhe gekommen. Die tektonischen Spannungen sind noch nicht ausreichend abgebaut. Es gibt in der Tat immer wieder mehr oder weniger starke Nachbeben.

Das Beben vom 11. März hat gewaltige Verwerfungen bewirkt. Es führte zu sichtbaren Veränderungen an der obersten Erdoberfläche – zu Rissen, Verwerfungen, Verschiebungen mit Amplituden bis zu einigen Zehner Zentimetern und Risslängen von Kilometern.

Eben darum nochmals: Ist ein Untergang des Inselstaates wirklich nicht zu befürchten?

Das sind eigentlich zwei Fragen: eine nach dem physischen Absinken der japanischen Inselgruppe und die andere nach dem politisch-ökonomischen Untergang des Staates Japan. Der Staat Japan hat den Zweiten Weltkrieg mit unvergleichlich größeren Schäden als die infolge des aktuellen Erdbebens und eine Vielzahl von katastrophalen Erdbeben überstanden – das sagt eigentlich alles.

Zur ersten Frage: Man muss nur etwas rechnen können. Die tektonischen Platten verschieben sich pro Jahr um wenige Zentimeter, die eine taucht mit noch geringerer Geschwindigkeit schräg unter die andere ab. Wie lange würde es dauern, bis die über hundert Kilometern breite japanische Inselgruppe abgetaucht ist? Die kolportierte Angabe, dass die Küste infolge des Erdbebens um zwei Meter dezimiert sei, besagt bezüglich der großräumigen Plattenverschiebungen gar nichts, da sie ein Einzelereignis betrifft. Wichtiger als Zahlen ist, dass die Inselgruppe im Sinne der Plattentektonik kontinentalen Charakter hat und die kontinentalen Teile beim Abtauchen ihrer Lithosphärenplatten über die geologischen Zeiträume stets an der Erdoberfläche bleiben.

Es sind im Laufe der Erd- wie auch der Menschheitsgeschichte bereits Inseln verschwunden.

Bei den Inseln, die von der Landkarte verschwunden sind, handelt es sich um gänzlich andere geologische Bildungen, zum andern waren sie entschieden kleiner. Im Meer untergegangen sind vulkanische Bildungen, Sandinseln und vielfach Koralleninseln.

In Japan spuckt nun auch noch ein Vulkan. Zeichen für weitere Eruptionen? Vulkanismus, Seebeben und Tsunamis scheinen zugenommen zu haben in jüngster Zeit.

Die Dynamik des Erdinnern läuft nach Zeitmaßstäben ab, die wesentlich länger sind als die Lebenszeit eines Menschen. Was der Einzelne erlebt, lässt kaum Rückschlüsse zu auf die Prozesse im Erdinnern, schon mehr über die Festigkeit und die Schwächezonen der Lithosphäre. Eine einigermaßen zuverlässige, d. h. homogene Langzeitstatistik über Erdbeben und Vulkanismus in der geologischen Geschichte gibt es leider nicht. Die in den letzten Jahrzehnten zunehmende Zahl von relevanten Beobachtungen hilft nicht, verwirrt nur. Die Neigung der Medien, vor allem über Katastrophen zu berichten, trägt das Ihre dazu bei, dass viele Zeitgenossen glauben, die geologisch-geophysikalischen Katastrophen würden immer häufiger.

Die Erdachse hat sich verschoben. Droht eine Veränderung der Umlaufbahn? Werden wir aus unserem Sonnensystem ins dunkle Universum hinauskatapultiert?

Die kurzzeitige Verschiebung der Rotationsachse der Erde gegenüber der Figurenachse der Erde um etwa zehn Zentimeter infolge des Impulses durch das japanische Erdbeben am 11. März hat weder Bedeutung für das Leben auf der Erde noch wirkt sie sich auf die Umlaufbahn der Erde um die Sonne aus. Zum einen ist es schon erstaunlich, dass eine solche äußerst geringe Auslenkung überhaupt beobachtet werden konnte. Dank modernster Verfahren und Geräte der Satellitengeodäsie und der Radioastronomie. Umgekehrt werden solche Schwankungen der Rotationsachse in diesen Verfahren als sehr kleine Störungen – vergleichbar unvermeidlichen Messfehlern – behandelt und bei allen praktischen Anwendungen wie der globalen Ortsbestimmung mit Hilfe von Navigationssatelliten, bekannt als GPS, eliminiert.

Zum andern muss man daran denken, dass die Erde sich bei ihren Bewegungen im All und um sich selbst wie ein schnell rotierender Kreisel verhält. Ein solcher Kreisel ist außerordentlich stabil gegen alle Anstöße von außen – und auch von innen. So auch die Erde. In der gesamten Geschichte der Menschheit – und schon sehr lange vorher – war die Drehbewegung so stabil, dass sie sowohl als Zeitmaß, also die Tageslänge, und als Zeitmesser wie auch als geografisches Bezugssystem dienen konnte. Das gilt nach wie vor.

* Aus: Neues Deutschland, 16. März 2011


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