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Die Auferstehung der "Meeresgöttin"

Sri Lanka ein Jahr nach dem Tsunami: Heroische Aufbauleistungen von Eisenbahnern. Verschärfung des Tamilenkonflikts

Von Hilmar König*

Unter Palmen auf einem Abstellgleis des kleinen Bahnhofs von Peralya stehen drei Eisenbahnwaggons – als eine Art Mahnmal des Tsunami, ein Museum auf Schienen. Mit Beklemmung schauen die Fahrgäste herüber, wenn der Expreß zwischen Colombo und Matara hier gemächlich vorbeizuckelt. Jeder hat seine persönlichen Erinnerungen an die Naturkatastrophe, dem in Süd- und Südostasien vor Jahresfrist mehr als 250000 Menschen zum Opfer fielen, 36000 allein in Sri Lanka. Hin und wieder steigt einer der Passagiere aus und schließt sich den täglich etwa 300 in- und ausländischen Besuchern an, die die rostroten Zeugen des schwersten Eisenbahnunglücks der Welt aus der Nähe betrachten, ein paar Hibiskusblüten ablegen und in stiller Andacht verharren.

Fatale Entscheidung

Die drei Waggons gehörten zum Expreß »Samudra Devi« (»Meeresgöttin«), der an jenem unheilvollen 26. Dezember vorigen Jahres von Trincomalee an der Ostküste über Kandy, Kalutara, Hikkaduwa nach Matara an Sri Lankas Südspitze unterwegs war. Etwa 1000 Passagiere, alte und junge, Familien, die nach Weihnachten heimkehrten, Händler, Bauern, Arbeiter und Angestellte saßen in den Abteilen. Der Zug stoppte plötzlich zwischen den Ortschaften Peralya und Telawatte. Lokführer Janaka Fernando, kurz zuvor erst als einer der Besten seines Faches ausgezeichnet, wunderte sich. Hier auf freier Strecke gab es noch nie einen Halt. Niemand wußte, daß vor zweieinhalb Stunden ein gewaltiges Seebeben vor Sumatra einen verheerenden Tsunami ausgelöst hatte, der nun auf Sri Lanka zuraste. Die Bahnbehörde ließ den Zug deshalb an einer, wie sie glaubte, geschützten Stelle, rund 300 Meter entfernt von Strand halten.

Niemand ahnte, daß sich schon nach kurzer Zeit die »Meeresgöttin« in eine Todesfalle verwandeln würde, daß unglaublich hohe Wellen den Expreß wie ein Riesenspielzeug aus den Schienen reißen, den Bahnkörper verwüsten und die Waggons bis zu 70 Meter landeinwärts schleudern würden. Nach der ersten Woge kamen sogar noch Hunderte Bewohner der beiden Ortschaften angerannt, um sich auf dem Zugdach in vermeintliche Sicherheit zu bringen. Sie liefen geradewegs in den Tod. Die Wellen löschten über 1300 Menschenleben aus. Die »Meeresgöttin« hatte in ihrem eigenen Element ein gräßliches Ende gefunden. Die 80 Tonnen schwere Diesellokomotive lag 30 Meter von den Gleisen mit abgerissenen Achsen auf der Seite. Die neun je 30 Tonnen schweren Waggons hatten sich aufgebäumt, umgedreht, hingen schräg in der Luft oder waren aufs Dach gekippt. Das Bild der Verwüstung komplettierten bis auf die Grundmauern zerstörte Häuser von Peralya und Telawatte. Ein paar Tage nach diesem Inferno gaben sich die Bahningenieure M. S. D. Fernando und H. L. R. Fonseka am Ort des Unglücks bei ersten Aufräumarbeiten optimistisch, daß in ungefähr drei Monaten wieder Züge zwischen Colombo und Matara verkehren könnten. Kein Augenzeuge wollte ihnen Glauben schenken. Denn die gesamte 130 Kilometer lange Bahntrasse glich einer Mondlandschaft. Brücken, Bahndämme, Bahnhöfe, Gleis- und Signalanlagen waren weggerissen oder unter meterhohem Sand und Schlick begraben. Doch den Eisenbahnern gelang das schier Unvorstellbare: aus eigener Kraft unter heroischen Anstrengungen in nur 57 Tagen die Strecke wieder zu rekonstruieren. Auch die Diesellok und sechs Waggons des Unglückszugs wurden repariert und wieder in Betrieb genommen. Die »Meeresgöttin« erlebte eine wundersame Auferstehung. Zehntausende Passagiere sind auf dem Schienenstrang inzwischen täglich von Colombo oder Matara aus unterwegs.

Das »Wunder« machte Priyal da Silva, der Generalmanager der Staatsbahn gemeinsam mit Tausenden gewerkschaftlich organisierten Eisenbahnern möglich. Sie arbeiteten Tag und Nacht gleichzeitig an vier Abschnitten der Trasse – unter komplizierten logistischen Bedingungen, es fehlte an Geld und Material. Sie arbeiteten mit Menschen, die selbst von der Naturkatastrophe traumatisiert worden waren, Tote in der Familie zu beklagen, mitunter Haus und Hof verloren hatten. Obendrein glaubten etliche einheimische Experten, die Mammutaufgabe sei nur mit ausländischer technischer, finanzieller und personeller Assistenz zu bewältigen. Gewerkschaftsfunktionär Sumathipala Manawadu ist sich jedoch sicher: Hätte man diesen Kurs eingeschlagen, wäre viel Geld verschwendet worden und in privaten Taschen verschwunden. Und es hätte bedeutend länger gedauert, die Strecke wieder befahrbar zu machen.

Verhärtete Fronten

Mit berechtigtem Stolz blicken die Eisenbahner auf ihr Werk, auch wenn noch viel zu reparieren und zu verbessern bleibt und die Züge nur mit stark verminderter Geschwindigkeit verkehren. Ihr Erfolg steht in starkem Kontrast zum Aufbautempo auf anderen Gebieten. Nur schleppend geht beispielsweise der Hausbau für die mehr als 500000 Obdachlosen voran. Zehntausende leben noch immer in provisorischen Unterkünften.

Besonders betroffen ist der Osten des Landes, den die volle Wucht des Tsunami traf. Allein dort kamen 20000 Menschen ums Leben, 300000 verloren ihr Dach über dem Kopf und alle Habe. Sämtliche Bemühungen, ihnen adäquate internationale Unterstützung zukommen zu lassen, scheiterten an politischen Machtkämpfen, an Mißtrauen und ethnischer Arroganz. Ein bereits zwischen der Regierung und den Befreiungstigern (LTTE) ausgearbeiteter Mechanismus, der die tamilischen Gebiete im Osten in die Rekonstruktion integrieren sollte, stieß auf die Ablehnung des Höchsten Gerichtshofes, nachdem singhalesische Chauvinisten vehement interveniert hatten. So bleiben bis dato nicht nur enorme Summen der ausländischen Milliardenhilfe nach dem Tsunami ungenutzt, sondern damit zerschlug sich auch die berechtigte Hoffnung, die gemeinsame Beseitigung der Folgen der Naturkatastrophe könnte die Wiederaufnahme des Friedensdialogs zwischen Regierung und Rebellen fördern. Das Gegenteil trat ein: Die Fronten verhärteten sich. Die LTTE bewertete die Ablehnung des Hilfsmechanismus als Bestätigung dafür, daß die tamilische Minderheit als zweitklassig behandelt wird.

Aus: junge Welt, 19.12.2005


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