Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Flutbilder, Bilderflut – Schlaglichter auf die Rolle von Hilfe heute

Von Thomas Gebauer, Geschäftsführer von medico international

Am 20. Mai 2005 veranstaltete medico international in Frankfurt/Main ein Symposium unter dem Titel "Solidarität statt Hilfe? – Zur Krise und den Perspektiven solidarischen Handelns". Den Eröffnungsvortrag hielt Thomas Gebauer, Geschäftsführer von medico international. Wir dokumentieren im Folgenden diesen Vortrag mit freundlicher Genehmigung des Autors.



Einleitung

Erwarten Sie bitte keinen bündigen Vortrag; das werden später andere zu leisten haben. Ich werde mich mit einigen Schlaglichtern auf den gegenwärtigen Zustand von Hilfe begnügen. Wenn es dabei hier und da polemisch zugehen sollte, dann ist das durchaus gewollt. Betrachten Sie das Ganze als ein warming up für die spätere Debatte.

Zunächst aber die gute Nachricht: unverkennbar waren in der Art, wie sich die deutsche Gesellschaft Anfang des Jahres mit dem Seebeben in Südasien auseinandergesetzt hat, auch Anzeichen einer wachsenden globale Verantwortung auszumachen. Alles deutet darauf hin, dass der herrschende Trend der gesellschaftlichen Entsolidarisierung nicht mehr unwidersprochen ist. Insbesondere unter jüngeren Menschen scheint das Bedürfnis nach sozialem Ausgleich wieder zu wachsen. Empörung und Mitgefühl sorgten für eine Hilfsbereitschaft, die nie da gewesene Dimensionen angenommen hat. Hilfsorganisationen, die für Solidarität und soziale Gerechtigkeit eintreten, können sich über eine solche Entwicklung eigentlich nur freuen. Und dennoch mischt sich in die Freude auch Unbehagen.

Denn in der Hilfe für die Opfer der Flut kamen nicht nur Solidarität und Mitgefühl zum Ausdruck, sondern auch vielfältige eigennützige Interessen. Unverkennbar ging es auch um Business und Machtpolitik, um Marketing und Legitimation, ja sogar um militärischen Nutzen und sozialen Ausschluss.

Ganz offenbar ist Hilfe zweischneidig. Ihren Ambivalenzen nachzuforschen, ist schon deshalb notwendig, um der drohenden Untergrabung von Hilfsbereitschaft entgegenzuarbeiten und Hilfe gegen jeden Versuch der weiteren Instrumentalisierung zu verteidigen.

I. Lissabon

Die Art, wie Menschen auf Katastrophen reagieren, hängt zuallererst von dem Verständnis ab, das sie von Katastrophe haben.

Bekanntlich hat es im Laufe der Geschichte immer Ereignisse gegeben, die wir heute als Katastrophen bezeichnen würde. Nicht Katastrophen sind neu, wohl aber verändern sich mit der Zeit ihre Deutungen. Ging es in der Vorstellung der Sintflut noch um eine göttlich auferlegte Buße für menschliche Schuld, also um eine theologische Deutung, rückt mit der europäischen Aufklärung die Verantwortlichkeit der Menschen selbst in den Vordergrund. Anlässlich des Erdbebens von Lissabon, das sich in diesem Jahr zum 250 Mal jähren wird, schrieb Rousseau in einem „Brief über die Vorsehung“: „Gestehn Sie mir, dass nicht die Natur zwanzigtausend Häuser von sechs bis sieben Stockwerken zusammengebaut hatte, und dass, wenn die Einwohner dieser großen Stadt gleichmäßiger zerstreut und leichter beherbergt gewesen wären, so würde die Verheerung weit geringer, und vielleicht gar nicht geschehen sein.“

Naturkatastrophen, so sieht es die Aufklärung, sind in dem Maße von Menschen gemacht, wie es die Menschen noch nicht vermocht haben, mit der Natur zu leben.

Fraglos brachte das Erdbeben von Lissabon vom 1. November 1775 (das übrigens auch von einem Tsunami begleitet war) eine kulturgeschichtliche Zäsur. Die plötzliche Zerstörung einer der blühendsten Städte Europas, bei der 30.000 Menschen den Tod fanden, führte zur Revision des optimistischen Lebensgefühl, das - historisch gesehen - gerade erst populär geworden war. Eine bemerkenswerte öffentlichen Auseinandersetzung über den Zustand der Welt entbrannte, an der Rousseau, Goethe, Kant, Kleist und viele andere teilhatten. Auch Voltaire empörte sich über eine Welt, die mehr mit der Rechtfertigung ihrer Verhältnisse beschäftigt war, als dass sie den Menschen gerecht werden wollte.

In seinem „Poème sur le Désastre de Lisbonne“ geißelte Voltaire die von Leibnitz beschriebene selbstzufriedene Überzeugung, dass alles gut sei und die existierende Welt notwendig die beste aller möglichen Welten. „’Alles ist gut’, sagt ihr, ‚und alles ist notwendig.’/Was? Die Welt im Ganzen, ohne den Höllenschlund,/ Der Lissabon verschlang, wäre weniger gut gewesen?“

Derart trug das Erdbeben von Lissabon nicht unwesentlich zur Konstitution des modernen Europa bei. Die aufgeklärten Gesellschaften begannen sich in einer Welt einzurichten, in der Katastrophen nicht mehr im Kontext von Sünde verstanden wurden, sondern als Risiken, mit denen man sich zu arrangieren hatte. Der katastrophale Anteil der Wirklichkeit wurde sozusagen konstant gesetzt, um gleichzeitig nach Möglichkeiten zu forschen, wie Katastrophen in ihren Auswirkungen kontrolliert werden können. An die Stelle religiöser Deutungen trat die Naturkunde; statt um Fürbitten und Opfer ging es fortan um Geologie, Seismologie und andere Wissenschaften.

Nun, ich will Sie hier nicht weiter mit einem Grundkurs über das Katastrophenverständnis der europäischen Aufklärung traktieren. Ich habe Ihnen all das nur deshalb so ausführlich in Erinnerung gerufen, weil einige der Grundüberzeugungen der Aufklärung während des Seebebens ganz schön unter die Räder gekommen sind.

Allerdings ging es postmodern zu, und wurden neben wissenschaftlichen Erklärungsversuchen auch wieder religiöse Deutungen vorgetragen und machten Berichte über wundersame Rettungen die Runde. Der deutsche Außenminister sprach von Demut. Das ZDF beseelte die Flutwelle zur „Mörderwelle“, ohne sich dabei bewusst gewesen zu sein, dass Mord eigentlich Vorsatz, zumindest aber einen Täter voraussetzen würde. Den Gipfel leistete sich die Bild-Zeitung mit dem Titel: „Terrorangriff der Natur – Will die Erde uns loswerden?“

Man sollte solche Blüten nicht vorschnell als Unsinn abtun. Einerseits ging es den Medien natürlich um die Quote (und mit der Angst und dem Unbegreiflichen lässt sich ja bekanntlich gutes Geschäft machen). Andererseits verweist die Mischung aus religiöser Rhetorik und öffentlicher Mobilmachung, dass auch hierzulande die Lektion aus der amerikanischen Wahlkampf gelernt wurde

Der Bezug zum Terrorismus macht deutlich, dass offenbar auch die Natur aus der Perspektive eines dualistischen Weltbildes betrachtet wird, das keinen Zweifel, keine Nuancen mehr kennt, sondern nur noch die Unterscheidung in gut und böse. Man ist entweder Teil der guten, aber durch feindliche Mächte bedrohten Menschheit oder Teil des dunklen Bösen, in diesem Fall der Natur, die außer Kontrolle geraten ist und offenbar in wilder Ehe mit Bin Laden lebt. Statt die Katastrophe in ihrer Komplexität zu begriffen, wird durch religiös-fundamentalistische Deutungen das Denken vereinfacht, ja sogar verhindert. Nicht mehr die kritischer Erörterung von Fragen der Ökologie (beispielsweise die problematischen Folgen der Abholzung von Mangrovenwäldern im Zuge der Tourismusentwicklung) stehen dann auf der Tagesordnung, sondern die Furcht vor weiteren „Angriffen der Natur“, denen schließlich nur durch weitere Eingriffe in die Umwelt begegnet werden kann. Derart erweist sich gerade die Dämonisierung der Natur als wunderbare Möglichkeit, alle jene in ihrem Verhalten zu rechtfertigen, die auf die vollständige und schonungslose Inwertsetzung aller natürlicher Ressourcen aus sind.

Wem eine solche Interpretation zu abenteuerlich erscheint, dem sei hier ein weiterer Beleg gegeben. Wenige Tage nach dem Seebeben verkündete die Präsidentin Sri Lankas allen Ernstes, dass die Flutkatastrophe eine Strafe dafür sah, dass die srilankische Gesellschaft die Ressourcen des Landes nicht schonungslos genug ausgebeutet habe.

Erneut tauchte also die Vorstellung einer Sintflut auf, diesmal nur in einem völlig neuen Kontext. Nicht göttliche Vorsehung ist mehr im Spiel, sondern jener global entfesselte Kapitalismus, von dem seine Apologeten in selbstzufriedenem Optimismus bekanntlich sagen, dass er die beste aller möglichen Welten geschaffen habe.

Alles deutet darauf hin, dass eine durch die Moderne überwunden geglaubte Religiosität auf breiter Front zurückkehrt. Sie offenbart sich nicht nur in einem zunehmenden Fundamentalismus, sondern auch und gerade in der Gestalt des siegreichen Kapitalismus. Walter Benjamin hat dies bereits Anfang der 20 Jahre in seiner Studie „Kapitalismus als Religion“ beschrieben. Der Kapitalismus, so Benjamin, sei eine dogmen- und theologiefreie "reine Kultreligion, vielleicht die extremste, die es je gegeben hat". Sie sei auf Dauer angelegt und stelle den "vermutlich ersten Fall eines nicht entsühnenden, sondern verschuldenden Kultus" dar. Die Konsequenz, die Benjamin an späterer Stelle zieht, ist erheblich: denn wenn es in der herrschenden Ordnung nicht mehr um die Sühne für Schuld, sondern um deren Legitimation als Ziel geht, dann bedeuten Katastrophen nicht mehr eine Unterbrechung der Geschichte, sondern werden deren Regel.

Die Hoffnung, das Seebeben in Südasien könne auf ähnliche Weise den herrschenden Diskurs erschüttern, wie dies das Erdbeben von Lissabon getan hat, hat sich bislang nicht bewahrheitet. Schon die Art, wie das Seebeben von einem Tag auf den anderen aus den Schlagzeilen verschwunden ist und dem unklaren Schicksal von Daisy, dem Hund des ermordeten Münchner Modemachers Moshammer Platz machte, ließ Zweifel aufkommen. Es sieht ganz danach aus, dass die Art, wie das Seebebens in Südasien von großen Teilen der Gesellschaft verarbeitet wurde, genau jene unheilvolle Entwicklung vorantreibt, die immer mehr Menschen dem Elend und der Schutzlosigkeit vor Katastrophen preisgibt.

II. Kleiderberge

Wenn Naturkatastrophen mit terroristischen Bedrohungen gleichgesetzt werden, sollte es nicht verwundern, wenn auch die Hilfe den Charakter einer militärischen Invasion annimmt.

Vielleicht ist es ihnen aufgefallen, wie heute in den Medien über die Hilfe berichtet wird. Da sieht man Helfer, die sich mit eindrucksvollem Gerät auf den Weg machen, Helfer, die sich Zugang in ein Katastrophengebiet verschaffen, Helfer, die Journalisten die Lage erläutern, Helfer, die sich mit bürokratischen Apparaten herumschlagen, Helfer, denen Politiker ihre Aufwartung machen, Helfer, die Opfer von Übergriffen werden und sich aus einem Einsatzgebiet wieder zurückziehen müssen, Helfer, die als die wahren und manchmal tragischen Helden in Talkshows und Benefizveranstaltungen gefeiert werden.

Die Opfer von Katastrophen erschienen dagegen oft meist als eine hilflos zusammengekauerte Masse menschlichen Unglücks, als Hintergrund für Spendensammlungen, möglichst dramatisch ins Bild gesetzt. Der Slogan, mit dem ein deutsches Spendenbündnis im letzten Jahr auf Werbung ging, lag da ganz im Trend: Retter gesucht, hieß es lapidar, wo früher mit kritischer Unterton wenigstens noch gestanden hätte: Rettung gesucht! Und vor allem für wen!

Um keine Zweifel entstehen zu lassen: es liegt mir fern, die Hilfe und die Helfer als solche verächtlich zu machen. In vielen Notsituationen gibt es keine Alternative zu unmittelbarer humanitärer Nothilfe oder zur Entsendung beispielsweise von Ärzten. Aber gerade weil das so ist, müssen Hilfsorganisationen sicherstellen, dass sie nicht am Ende nur neue Abhängigkeiten schaffen, statt die Wiedererlangung von Selbständigkeit zu fördern.

In den 50er-60er Jahren untersuchte die amerikanische „Akademie der Wissenschaften“ systematisch das Geschehen, das sich rund um plötzlich eintretende Katastrophen ereignet. Sie fand heraus, dass sich aus dem Kreis der Überlebenden von Katastrophen schon in der Impact-Phase, also dem Moment des Unglücks, sog. ad hoc Führungspersönlichkeiten hervortun, die maßgeblich die nachfolgenden Phasen, die Phase der Inventur (wie ist Hilfe möglich? wo sind Angehörige und Freunde?) sowie die Phase der Rettung (was ist zu tun?) gestalten. Höchst selten verharrten die Betroffenen in Schockhaltung oder Panik, sondern waren in erstaunlicher Weise unternehmungsfreudig. v Das war auch in Südasien der Fall, wo in den ersten beiden Wochen nach der Flutkatastrophe die Menschen auf bemerkenswerte Weise zueinander standen und sich in Nachbarschaftshilfe aktiv daran machten, die Schäden zu beseitigen. Erst durch die Invasion der Helfer wurden sie zu den Opfern, zu denen sie die hiesigen Medien schon zuvor gemacht hatten. Weil sich herumsprach, dass irgendwo Kleider und Nahrungsmittel verteilt wurden, verließen die Menschen ihre selbstbestimmten Wiederaufbaubemühungen und stellten sich in die Schlange der passiv Wartenden.

III. Mickey Mouse

Seit langem plädieren seriöse Organisationen für ein Hilfe, die sich an den Bedürfnissen und Rechten von Partnern orientiert, statt diesen von außen Hilfe überzustülpen, die sich am Ende als Selbstzweck entpuppt.

Es ist nicht überliefert, ob sich in den Walt Disney-Tüten, die Joschka Fischer Anfang des Jahres den Kindern im islamischen Aceh überreicht hat, tatsächlich Beispiele der großen kulturellen Leistungen der westlichen Wertegemeinschaft befunden haben. Dafür aber mehren sich die Anzeichen, dass viele der Gönner, die sich in der Hilfe für die Opfer des Seebebens hervorgetan haben, handfeste eigennützige Interessen verfolgen und alles daransetzen, um aus der Katastrophe möglichst viel Kapital zu schlagen.

Das indonesische Militär beispielsweise nutze die Gelegenheit zu strategisch bedeutsamen Zwangsumsiedlungen. Die USA versuchten ihr ramponiertes Image aufzupolieren und dabei zugleich China geostrategisch in Schach zu halten. Spekulanten in Indien und Sri Lanka wollen nun verhindern, dass die Fischer in die für den Tourismus interessanten Küstenregionen zurückkehren. Bürgermeister sehen in Hilfsprojekten eine willkommene PR-Aktion für die eigene Wiederwahl. Hilfswerke buhlten um den Zugang zu den Medien. Unternehmen präsentierten sich werbewirksam als Wohltäter (obwohl die 10 Mio. €, die beispielsweise die Deutsche Bank im ZDF übergab, weniger als die sprichwörtlichen „peanuts“ waren und schon gar nichts im Vergleich zu den Steuererleichterungen, die den Unternehmen in den letzten Jahren geschenkt worden waren). Das Außenministerium nutzte die Gelegenheit, um seinem Anspruch auf Übernahme des Entwicklungshilfeministeriums Nachdruck zu verleihen. Und die Bundesregierung zeigte sich auch deshalb so spendabel, um Deutschland für einen Sitz im UN-Sicherheitsrat zu empfehlen.

Besonders augenfällig tritt der Missbrauch der Wiederaufbauhilfe in Sri Lanka zutage. Dort sieht die Regierung die Katastrophe als willkommene Gelegenheit, ein lange gehegtes ökonomisches Modernisierungsprojekt durchsetzen zu können. Unbedingt soll die heimische Wirtschaft nun an die globalen Märkte angeschlossen werden. Voraussetzung für die Intensivierung der Agrarexportwirtschaft oder einer kapitalintensive Hochseefischerei ist der Bau küstennaher Autobahnen und vor allem von Tiefseehäfen. Die Kleinfischer, die gerade alles Hab und Gut verloren haben, stören solche Projekte. Mit der Begründung, man wolle die Menschen vor weiteren Katastrophen schützen, wurden küstennahe Bauverbote erlassen. Die Fischer sollen nun umgesiedelt werden; für sie entstehen mit ausländischer Hilfe fernab der Küsten neue Siedlungen, während die großen Hotels von den Bauverboten ausgenommen wurden.

Unversehens finden sich die Helfer in jener Rolle wieder, die während des Kolonialismus den Missionaren zugefallen war. Aber nicht mehr die ideologische Absicherung kolonialer Eroberungen ist heute das Ziel, sondern die Mithilfe bei der Globalisierung eines Wirtschaftsmodells, das Mensch und Natur nur noch aus dem Blickwinkel ihrer möglichst profitablen Verwertung betrachtet.

IV. Hubschrauber

Daraus erklärt sich auch der Bedeutungszuwachs der humanitären Hilfe gegenüber der Entwicklungszusammenarbeit. Wenn heute von Hilfe die Rede ist, geht es immer weniger um die nachhaltige Überwindung von Not und Unmündigkeit, sondern um das Abfedern jener Schäden, die eine auf wachsende Ungleichheit gründende Weltordnung tagtäglich produziert.

Der lange Zeit hoch im Kurs stehende Grundsatz: „Gib dem Hungernden einen Fisch, und er ist einen Tag satt; lehre ihn fischen, und er wird immer satt sein“, wirkt heute merkwürdig angestaubt. Wer im Angesicht eines hungernden Kindes nach den Ursachen des Hungers fragt, gilt in den Augen der Öffentlichkeit wenig glaubwürdig. Die heutigen Helfer halten sich nicht erst lange mit den Hintergründen einer Krise auf. Wo früher die Vorstellung einer anderen Welt zum Handeln motivierte, herrscht heute ein unpolitischer Pragmatismus, der sich nicht einmischen, keine Partei ergreifen will. Hilfe wird immer mehr aus ihrem sozialen Kontext herausgelöst und von technischen Erfordernissen überlagert. Effiziente Versorgungswege sind gefragt, leistungsfähige Abwicklungskapazitäten und eben Helfer, die unmittelbar zupacken.

Für die Vorstellung, die große Teile der Öffentlichkeit von einer glaubwürdigen Hilfe hat, steht emblematisch das Bild des weißen Hubschrauberpiloten, der vor einigen Jahren, als Mosambik von einer katastrophalen Überschwemmung heimgesucht wurde, ein neugeborenes Baby samt seiner Mutter aus einem umfluteten Baum rettete. Genau dieses Bild symbolisiert die von außen einschwebende und meist gleich wieder verschwindende Hilfe. In ihr scheint es keinen Kontext mehr zu geben und so auch keine Gesellschaftlichkeit. Die Möglichkeit der Rettung des Einzelnen versöhnt mit der katastrophalen Entwicklung der Welt, die so sehr der Rettung bedürfte. Die Erkenntnis, dass die Welt in Reiche und Arme, Mächtige und Ohnmächtige gespaltet ist, würde Empörung hervorrufen und Anlass zu Kritik geben. Dagegen wirkt eine Welt, die nur noch Helfer und Hilfsbedürftige kennt, weniger anrüchig, fast schon beruhigend.

Auch die Funktion der Bilder ist übrigens zweischneidig: „Wir brauchen die Bilder von den Katastrophen, weil sonst unser Geiz noch geiler wäre, unser Herz noch leerer“, schrieb Georg Seeßlen kürzlich im Spiegel und fügte hinzu, dass „die Barmherzigkeit mit eben der Unbarmherzigkeit der Bilder erkauft wird und das Unglück ausgerechnet in den Bildern aus dem Blick gerät.“

V. Zeltstadt im Irak

Vielen Hilfsorganisationen gilt die Komplexität des Geschehens, dass sich rund um Katastrophen und Krisen ereignet, als ein undurchsichtiges Gestrüpp aus Politik und Machtinteressen, in das man sich besser gar nicht erst hinein begibt. Statt sich der politischen Implikationen des eigenen Handelns zu versichern, pochen viele Helfer darauf, eine vom Politischen getrennte, reine humanitäre Hilfe leisten zu können. Ich halte die Vorstellung einer solchen Neutralität für eine gefährliche Illusion. Hilfe, auch die scheinbar unpolitische, mischt sich immer in bestehende Macht- und Kräfteverhältnisse ein.

Die Konsequenzen, die aus der Entpolitisierung des Humanitären folgen, aber sind erheblich. Wenn Hilfe nicht mehr im Kontext gesellschaftlicher Verantwortung und - daraus abgeleitet - bürgerrechtlicher Ansprüche gesehen wird, sondern alleine ihre moralische Seite zählt, dann wird Hilfe – wie übrigens auch der Appell zum Schutz der Menschenrechte - anfällig für vielfältige Instrumentalisierungen.

Schließlich bedient sich auch die politisch und wirtschaftlich Mächtigen, die für das Elend und die Ausgrenzung von Menschen verantwortlich sind, längst humanitärer Argumentationen und rechtfertigen ja selbst noch völkerrechtlich verbotene Präventivkriege mit dem Verweis auf die Menschenrechte. Das Verständnis von Menschenrechten, das in solchen Rechtfertigungsstrategien zum Ausdruck kommt, aber bleibt ein abstraktes, eines, das die Menschenrechte nicht mehr Kontext bürgerrechtlich verfasster Gesellschaften sieht. „Die Trennung zwischen Humanitärem und Politischem, die wir heute erleben“, schreibt der italienische Philosoph Georgio Agamben in seinem Buch „Homo Sacer“, „ist die extremste Phase der Entfernung zwischen den Menschenrechten und den Bürgerrechten. Letztlich können die humanitären Organisationen, die heute mehr und mehr zu den übernationalen Organen aufrücken, das menschliche Leben nur noch in der Figur des nackten Lebens erfassen und unterhalten deshalb gegen ihre Absicht eine geheime Solidarität mit den Kräften, die sie bekämpfen sollten.“ (Ende des Zitats). Der vom Politischen abgegrenzte Humanitarismus kann die Ausgrenzung von Menschen, wie sie sich tagtäglich und millionenfach in brasilianischen Favelas oder in afrikanischen Flüchtlingslagern ereignet, nur abfedern - und damit wiederholen. Wenn Hilfe auf die Sicherung des nackten Überlebens begrenzt wird, resultiert daraus eine Art Elendsverwaltung, die nichts mehr ändert, aber umso mehr den prekären Status quo, der in der Welt herrscht, stabilisiert.

Die Flüchtlingslager, die im Vorfeld des Irak-Krieges entlang der jordanischen Grenze aufgebaut wurden, um allen, die sich vor den erwarteten Kampfhandlungen in Sicherheit bringen wollten, Zuflucht zu bieten, sind bekanntlich leer geblieben. Die Flüchtlingswelle blieb aus.. Dennoch ist darin keine Fehlplanung von Hilfsorganisationen auszumachen (der Verlauf eines Krieges ist nur sehr begrenzt planbar), sondern nur ein Beleg dafür, wie weit die Arbeit von Hilfsorganisationen schon zu einem Teil sicherheitspolitischer Überlegungen geworden ist. Indem sie dafür sorgen, die sogenannten Kollateralschäden möglichst gering zu halten, erhöhen sie die öffentlichen Akzeptanz von Kriegen als ein probates Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele.

Aufschlussreich ist auch die Art, wie heutzutage Flüchtlingslager errichtet werden: Genormte Unterkünfte, schnurgerade aufgereiht, leicht militärisch zu kontrollieren, funktional, effizient. Die Idee eines menschenwürdigen Lebens spielt in den Plänen des internationalen Shelter-Baus, ob im Kontext von Naturkatastrophen oder von militärisch kontrollierten Umsiedlungen nirgendwo mehr eine Rolle. Die Umsiedlungsdörfer, die für die Opfer der Tsunami-Katastrophe in Indonesien aufgebaut wurden, gleichen auf frappierende Weise den strategischen Wehrdörfern, die Militärs in allen Bürgerkriegssituationen errichtet haben. Auch die von Otto Schily vorgeschlagenen Auffanglager für afrikanische Migranten, die entlang der nordafrikanischen Küste entstehen sollen, werden, so sie zustande kommen, nicht anders aussehen. Nur in ihrem Namen könnte es ein wenig Kosmetik geben. Sie sollen - wie es heißt - nun Begrüßungszentren heißen.

VI. Muss Hilfe soweit gehen?

„Muss Hilfe soweit gehen?“ titelte Anfang des Jahres die Bild-Zeitung, doch sah sie ihre Frage keineswegs im Kontext der Indienstnahme von Hilfe für sicherheitspolitische Zwecke. - Das Unverständnis der Blattmacher traf auch nicht die Tatsache, dass da ein von den Aufräumarbeiten sichtlich erschöpfter Soldat eine Massage erhielt, sondern dass es ein Thai war, den die jungen Schwedin massierte. Denn so haben wir nicht gewettet! Thai-Massagen für deutsche Männer sind okay, aber Schwedenmassagen für Thai-Männer?

Noch heute wird aus den Katastrophenregionen Südasiens berichtet, dass Hilfsorganisationen nach geeigneten Projekten Ausschau halten, um Spenden abfließen zu lassen. Nicht, dass es nicht nach wie vor den Bedarf für Unterstützung von außen gebe, doch korrespondiert das, was die Menschen vor Ort brauchen, nicht unbedingt mit den Erwartungen der heimischen Spender.

Viele Organisationen wollen nur Schulen und Waisenhäuser aufbauen, weil das bei den Spendern im fernen Ausland am besten ankommt. Zyniker raunen, dass die Zahl der zerstörten Schulen einfach nicht groß genug sei, um allen hilfsbereiten Organisationen entsprechen zu können. Und unter Srilankern geht längst der böse Satz um, man müsse wohl noch ein paar der überlebenden Eltern umbringen, um genügend Waisen zu haben.

Es ist höchste Zeit, das helfende Handeln wieder an den Bedürfnissen und Rechtsansprüchen der Betroffenen selbst auszurichten. Voraussetzung dafür ist die Beseitigung all jener Mythen, die sich um die Idee der Hilfe ranken.

Es stimmt einfach nicht, dass die Opfer von Katastrophen völlig hilflos und unfähig zu eigenen Wiederaufbaubemühungen sind. Auch ist es ein Irrglaube, dass es vor Ort an allem fehlt und nur die rasche Bereitstellung aller verfügbarer Hilfsgüter eine schnelle Wiederherstellung möglich macht.

Solche Mythen, die nicht zuletzt aus Publicity und Spenden-Gründen gepflegt werden, mobilisieren zwar die öffentliche Hilfsbereitschaft, führen aber oftmals zu völlig unangepassten Hilfeleistungen: Kartons mit zerschlissener Kleidung, abgelaufenen Medikamenten, Hundefutter für Hungernde, Raucherentwöhnungsdrops, Spaghetti-Sauce, Abmagerungsmittel, in Schweinefett gebackene Kekse, etc. etc.

Gemeinsam mit Experten der WHO warnen seriöse Hilfsorganisationen vor einem zu schnellen Handeln. Oftmals ist es besser, solange abzuwarten, bis die tatsächlich am Katastrophenort herrschende Bedarfslage klar zutage tritt. Davon aber ist die Wirklichkeit der Hilfe weit entfernt. Statt zunächst gemeinsam mit den Betroffenen zu planen, gibt es einen regelrechten run auf das Krisengebiet. Wer als erster vor Ort ist, erhöht seine Chancen, in die Medien zu kommen, Spenden zu sammeln, etc.

Gegen diese Auswüchse von Hilfe ist immer wieder angeschrieben worden. Bleibt zu fragen, warum sich all die Mythen so hartnäckig halten. Wenigstens drei Gründe will ich nennen.

Da ist einerseits die Tatsache, dass Hilfe mehr und mehr von wirtschaftlichen Interessen durchsetzt und so zwangsläufig zu einem Selbstzweck wird. Von „untying aid“ ist in der Brüsseler EU-Bürokratie heute die Rede, womit die Liberalisierung der Hilfsmärkte gemeint ist, um sie für profitorientierte Wirtschaftsunternehmen zu öffnen. Tatsächlich sind bereits Vorboten eines „Humanitär-Industriellen-Komplexes“ auszumachen, der eigene Waren-Messen unterhält, wie die alljährlich stattfindende „world trade and aid“, auf der neben Nahrungsmitteln, Rettungsbooten und Zelten auch Militär- und Sicherheitstechnik, Leichensäcke, Gasmasken und anderen Dienstleistungen angeboten werden.

Zweitens sind da die immer prekärer werdenden Vorgaben der Mediengesellschaft. Nur wer selbst im Bild und Ton sichtbar wird, wirkt in der Medienöffentlichkeit überzeugend. Ein entsandter Arzt, der mit T-Shirt, Fahne und eindrucksvollem Auto ausgestattet wird, ist natürlich in viel stärkerem Maße „visible“ als die lokalen Mitarbeiter von Partnerorganisation, die sich womöglich kaum von der Masse der Opfer unterscheiden.

Und da ist schließlich eine noch immer existierende paternalistische Grundhaltung, die den Mythos von der Hilflosigkeit der Opfer antreibt und auch das permanente Eingreifen in deren Belange legitimiert.

Jean Paul Sartre sprach in diesem Zusammenhang von einem „rassistischen Humanismus“, der daraus resultiert, dass das Elend der Welt nicht mehr vor den Hintergrund der eigenen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Dominanz verstanden wird, sondern allein als Problem des Südens. Aus solcher Perspektive erscheint die Lösung dann tatsächlich in der „humanistischen Aktion“ zu liegen, - der wohlmeinenden Hilfe für die armen Menschen im Süden, die leiden, weil sie eben so sind, wie sie sind. Die Welt leidet aber nicht an zu wenig Hilfe, sondern an Verhältnissen, die immer mehr Hilfe erforderlich machen.

VII. Anschubhilfe für die UN

Da Beistand in einem empathischen Sinne immer zielgerichtet ist und die nachhaltige Überwindung von Not und Abhängigkeit anstrebt, bedarf Hilfe immer auch einer gesellschaftspolitischen Idee. Für viele Hilfsorganisationen sind das die globalen Menschenrechte, wohlwissend, dass es in der praktischen Arbeit darum gehen muss, die Menschenrechte sowohl materiell zu fundieren als auch dafür zu sorgen, dass sie einen institutionell gefassten bürgerrechtlichen Rahmen bekommen.

Von letzterem sind die globalen Verhältnisse noch weit entfernt. Aber es gibt immerhin erste Erfahrungen, aus denen zu lernen wäre. Beispielsweise die „Internationale Kampagne für das Verbot von Landminen“, die sowohl im Ergebnis als auch in ihrer Struktur interessante Schritte auf dem Weg zu neuen Formen einer in globaler Solidarität eingebundenen Hilfe gehen konnte.

Der Erfolg der „International Kampagne zum Verbot von Landminen“ liegt vielleicht am wenigsten darin, ein Verbot von Anti-Personenminen angestoßen zu haben. Erfolgreich ist die Kampagne in einem viel allgemeineren Sinne gewesen. Sie hat es vermocht, über alle Grenzen hinweg eine internationale Öffentlichkeit zu erzeugen, die nicht nur kritisches Unbehagen zum Ausdruck brachte, sondern schließlich rechtlich bindende Entscheidungen erzwingen konnte. Erstmals in der Geschichte wurde ein Waffenverbot auf Druck der Öffentlichkeit durchgesetzt, erstmals wurde internationales Recht unter aktiver Beteiligung eines Netzwerkes von NGOs geschrieben und erstmals gelang es, ein Waffenverbot um humanitäre Verpflichtungen zu erweitern. So haben sich die Mitgliedsstaaten des Ottawa-Vertrages auch dazu verpflichtet, den Opfer von Minen weitreichende Hilfen zukommen zu lassen.

Weder unverbindliches „goodwill“ noch Paternalismus leiten eine solche Hilfe. Vielmehr sie ist eingebunden in eine global gesetzte neue Norm, die zwar außerhalb der Vereinten Nationen verhandelt wurde, aber nun vom Generalsekretär der Vereinten Nationen überwacht wird. Derart hat der öffentliche Druck, den die Minenkampagne entfalten konnte, tatsächlich eine Art Anschubhilfe für die UN geleistet, die aufgrund der internen Blockadepolitik einiger mächtige Staaten aus sich heraus keine Lösung gefunden hätte.

Was die NGOs eint, die in der Minenkampagne mitwirken, ist eine gemeinsame politische Agenda und nicht einseitige Abhängigkeit oder Vereinheitlichung. Selbstverständlich schließen sich unter solches Umständen Solidarität und Hilfe nicht aus. Hilfe aber ist dann eingebunden in einen Kontext, verfolgt eine politische Vision und wird legitimiert über Partner, die nicht nur gepflegte Opfer sind, sondern Mitstreiter im Bemühen um eine andere Welt.

Es ist der transnationale Raum, in dem sich Solidarität heute neu herausbilden muss. Eine Solidarität, die getragen wird von global tätigen Netzwerken, in denen eine Vielzahl von sozialen Projekten, Basisinitiativen, NGOs, kritischen Intellektuellen und Verbänden zusammenschlossen sind, um für gemeinsame politische Ziele einzutreten und dabei gemeinsame Strategien zu verfolgen. Nur einer solche „Gegenmacht“ wird es gelingen, für die Demokratisierung der weltgesellschaftlichen Verhältnisse zu sorgen, so wie es Walter Benjamin beschrieben hat: als der Griff der Weltgesellschaft nach der Notbremse.




Zurück zur Umwelt-Seite

Zur Globalisierungs-Seite

Zurück zur Homepage