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Verdächtige Freigiebigkeit in der globalen Klassengesellschaft

Zwei Kommentare zur Flutkatastrophe

Im Folgenden dokumentieren wir zwei Kommentare, die sich mit der asiatischen Flutkatastrophe befassen. Der erste Kommentar erschien in der schwedischen Zeitung "Aftonbladet", der zweite Kommentar in der "Oberhessischen Presse".


Die globale Klassengesellschaft wird sichtbar

Naturkatastrophen in armen Ländern werden selten zu großen Nachrichten. Jedenfalls nicht in der westlichen Welt. Überschwemmungen, Erdbeben und Erosionen, die für Millionen Menschen in gewisser Weise zum Alltag gehören, gelangen selten in schwedische, französische oder deutsche Schlagzeilen. Mit der Tsunamiwelle war das anders. Es ist, als ob ein Teil der Welt, den wir früher nicht gesehen haben, eine brutalere und ernsthaftere Welt, auf die Strände an der Bucht von Bengalen gespült wurde. In dieser Woche haben wir Berichte über die Situation burmesischer Gastarbeiter in Thailand erhalten, ein Problem, das eigentlich seit Jahrzehnten aktuell ist.

Vor der Flutwelle gab es 65 000 registrierte burmesische Arbeiter in der Region um Phuket und Phan Nga. Nach Angaben der Freiwilligenorganisationen, die in dem Gebiet arbeiten, sind rund 1 000 Burmesen umgekommen, als die Flut an die Strände schlug. Aber viele Flüchtlinge arbeiten illegal in Thailand, deshalb weiß niemand genau, wie viele verschwunden sind.

Diejenigen, die die Welle überlebt haben, sind jetzt doppelt betroffen. Die Behörden bieten allen Hilfe an, aber viele Burmesen wagen es nicht, diese Hilfe anzunehmen aus Angst, von der Polizei festgenommen und nach Burma ausgewiesen zu werden. Auch unter denen, die eine Arbeitserlaubnis haben, ist die Angst groß. Viele haben in der Flutwelle ihre Papiere verloren, und in dem Chaos, das in dem Gebiet um Phuket herrscht, gibt es keine Möglichkeit, neue zu beschaffen.

Burmesische Freiwilligenorganisationen sind seit rund einer Woche vor Ort, aber die Arbeit wird dadurch erschwert, dass viele Helfer selbst illegale Flüchtlinge sind. Am Mittwoch wurde eine Gruppe Helfer von einer wütenden Menschenmenge in dem Dorf Ban Thab Lamu misshandelt.

Viele Thailänder beschuldigen die Burmesen, verantwortlich zu sein für die Plünderungen, die es nach der Flutwelle gegeben hat, obwohl es keinerlei Belege für diese Beschuldigungen gibt, sagt Phaeng Fonwe über ein knackendes Mobiltelefon aus dem südlichen Thailand.

Sie ist eine der thailändischen EinwohnerInnen, die jetzt Seite an Seite mit den Burmesen arbeiten, um den Betroffenen zu helfen.

Unter dem Vorwand, dass sie nach Verbrechern sucht, schlägt die Polizei immer wieder zu. Über 1 500 Personen wurden schon ausgewiesen.

Das Schicksal der Burmesen nach dem Tsunami spiegelt eine Gesellschaft wieder, in der sich Flüchtlinge ständig in den exponiertesten Positionen befinden. Das ist überall auf der Welt das gleiche.

Allein in Thailand gibt es zur Zeit über eine Million Burmesen. Sie sind geflohen vor Armut und Arbeitslosigkeit, vor der Militärdiktatur und deren Krieg gegen die ethnischen Minoritäten. Die thailändische Regierung, die die UN-Flüchtlingskonvention nicht unterschrieben hat, hat rund 150 000 Personen in Lagern entlang der Grenze interniert. Die Übrigen leben in der Gesellschaft. Sie arbeiten in Textilfabriken und in der Landwirtschaft und rund um die Touristenparadiese im südlichen Thailand. Sie sind rechtlos. Sie arbeiten für die niedrigsten Löhne, haben die längsten Arbeitstage, und die Arbeitsbedingungen sind oft miserabel.

Das Paradoxon könnte nicht größer sein. Die schwedischen Touristen, die die Flutwelle überlebten, haben von der enormen Gastfreundschaft der thailändischen Gesellschaft berichtigtet. Gleichzeitig begegnet den Burmesen, die die Hotels gebaut, das Mittagessen für die Touristen aus dem Meer gefischt und ihnen in den Restaurants serviert haben, eine ganz andere Wirklichkeit.
Letzten Endes ein Spiegel der globalen Klassengesellschaft.

Jesper Bengtsson*

Aftonbladet, 15. Januar 2005 Stockholm

Übersetzung aus dem Schwedischen: Renate Kirstein

* Jesper Bengtsson ist Mitglied der Leitartikelredaktion des Aftonbladet (Anmerkung R.K.)


Verdächtige Freigiebigkeit

Von Johannes M. Becker

Was hat die Tsunami-Katastrophe vom 26. Dezember 2004 mit unserem Wirtschaftssystem zu tun? Auf den ersten Blick, außer der Abholzung der Mangrovenwälder am Strand, um Platz für Hotelanlagen für Touristen aus unseren Ländern und für die Zucht von Schalentieren zum Export in die kapitalistischen Länder zu schaffen, nicht viel.

Und dennoch sollten wir, trotz der überwältigenden Hilfsbereitschaft vieler, vieler Menschen auch hierzulande, nachdenklich werden. Tsunamis sind keine neue Erscheinung. Warum ist die Welt, die nach den Kriterien der Märkte und Profite funktioniert, die sich überdies "Informationsgesellschaft" nennt (aber nicht mehr "Klassengesellschaft" genannt sein will), sehr wohl in der Lage, jede Bewegung an den internationalen Börsen in Sekundenschnelle um den Erdball zu kommunizieren, aber ein Seebeben der Stärke 8,9 nicht einmal den Betroffenen in der Region? Offensichtlich sind uns die Interessen der Menschen in der Region Indischer Ozean sehr fern, wenn dort nicht gerade Schlimmes passiert.

Auch die plötzliche Freigiebigkeit der wirtschaftsstarken Länder muss nachdenklich machen: Es ist offensichtlich, dass hier ein globales Wettrennen um politischen und wirtschaftlichen Einfluss begonnen hat - u.a. wollen die USA ihr katastrophales Irak-Kriegs-Image in den islamischen Ländern verbessern (dabei machen die aus Washington zugesagten 0,5 Mrd. US-$ gerade einmal die US-Kriegskosten für drei Tage Irak-Besetzung aus). Und auch die EU-Staaten demonstrieren ihren gewachsenen Einfluss. Die zentrale Frage muss lauten: Werden die zugesagten Gelder auch wirklich fließen? Zweifel sind durchaus angebracht: Die Iranische Regierung merkte in diesen Tagen an, dass von den zugesagten Spenden in Milliardenhöhe beim persischen Erdbeben in 2003 nur ein verschwindend geringer Bruchteil ausgezahlt worden ist. Auch sind die versprochenen Hilfen nach den drei Kriegen des vergangenen Jahrzehnts, in Jugoslawien, Afghanistan und Irak, nur sehr begrenzt geflossen.

UN-Generalsekretär Annan hat Recht mit seiner Forderung nach einer internationalen Kontrolle und Koordination der Hilfsleistungen, vor allem der mittel- und langfristig zugesagten. Auch scheinen kommunale und regionale Partnerschaften Sinn zu machen, die gezielt Hilfe leisten können und die sich dem Einfluss direkter ökonomischer Interessen entziehen. Das alles soll die Spendenbereitschaft der Menschen hierzulande nicht beeinträchtigen.

* PD Dr. Johannes M. Becker, Koordinator am Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität, lehrt Politikwissenschaften.

Oberhessische Presse am 17.1.2005



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