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Grundrechte ausgehebelt

Bürgerrechtsorganisationen veröffentlichten alternativen Verfassungsschutzbericht

Von Johanna Treblin *

Der Grundrechte-Report beklagt die Verletzung von Bürger- und Menschenrechten durch den Staat. Im Fokus steht unter anderem der Umgang mit Blockupy und Asylbewerbern.

Am Samstag kesselte die Polizei bei der Blockupy-Demonstration in Frankfurt am Main rund 1000 Demonstranten ein, setzte Pfefferspray ein und Schlagstöcke. Die Organisatoren der Demonstration haben nun Klage eingereicht, doch Beschwerden gegen einzelne Polizisten sind unmöglich: Wie üblich bei Demonstrationen trugen die Beamten keine Personenkennzeichnung. Das kritisierte am Donnerstag Beate Rudolf, Direktorin des Deutschen Instituts für Menschenrechte, bei der Vorstellung des Grundrechte-Reports in Karlsruhe. »Es ist geboten, die Identifizierung der Polizeibeamten und -beamtinnen im Einsatz sicherzustellen.« Der 1. Juni habe wieder gezeigt, wie wichtig dies als Schutz gegen Polizeigewalt sei.

Der Grundrechte-Report gilt als alternativer Verfassungsschutzbericht und wird jedes Jahr von Bürgerrechtsorganisationen wie dem Komitee für Grundrechte und Demokratie herausgegeben. Er schildert den Zustand der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland. Der aktuelle Bericht fokussiert auf die polizeilichen Ausschreitungen bei den Blockupy-Protesten im vergangenen Jahr, auf die Rolle von Verfassungsschutz und Politik im Rahmen der Untersuchungen der NSU-Morde sowie auf die Lebenssituation von Asylsuchenden.

Während der Blockupy-Proteste im Mai vergangenen Jahres setzte die Stadt Frankfurt das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit über vier Tage außer Kraft, heißt es im Bericht. Eine geplante Großdemonstration konnte erst nach einem Gerichtsentscheid stattfinden, alle anderen für die Tage vorgesehenen Protestaktionen wurden verboten. Während Verbote viele potenzielle Teilnehmer von Protesten abschrecken, haben die Menschen auch gelernt, »dass sie sich ihre Rechte nehmen müssen, dass sie mit kreativen Mitteln den Protest bunt, laut und friedlich machen können«, heißt es im Bericht.

Im Falle des »Nationalsozialistischen Untergrundes« fürchtet Autor Heiner Busch, dass er »wie so viele Geheimdienstskandale zuvor ohne angemessene Folgen im Sande verläuft«. Während die Politik von einem »Betriebsunfall« spreche, geht Busch von »Pannen mit System« aus. Anders sei es nicht zu bezeichnen, dass 17 V-Leute im Umfeld des Trios, das elf Menschen umgebracht haben soll, aktiv waren und die Täter trotzdem lange nicht gefasst wurden. Der Verfassungsschutz werfe fundamentale Fragen nach seiner demokratischen Legitimierbarkeit auf, stellten die Herausgeber fest.

Die Situation von Flüchtlingen in Deutschland wird im Bericht anhand mehrerer Beispiele beschrieben. So fordern die Herausgeber ein menschenwürdiges Existenzminimum auch für Asylsuchende sowie Eltern- und Erziehungsgeld für Migranten. Der Zustand der Verfassungswirklichkeit zeige sich gerade am Umgang mit den Schwächsten in der Gesellschaft, kritisiert Marei Pelzer von Pro Asyl. Insbesondere Serben und Mazedonier seien massenhaft im Asylverfahren abgelehnt und abgeschoben worden. »Mit einem rechtsstaatlichen Verfahren hat dies nichts mehr zu tun«.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 7. Juni 2013


Ausgesprochen schlechtes Zeugnis

Bürgerrechtsorganisationen prangern Verstöße gegen grundgesetzlich verbriefte Rechte an

Von Markus Bernhardt **


Es ist schlecht bestellt um die Umsetzung der Grund- und Freiheitsrechte in Deutschland. Zu diesem Schluß kamen am Donnerstag Vertreter jener Organisationen, die im Karlsruher Schloßhotel den »Grundrechtereport 2013« vorstellten. Der Bericht, der jedes Jahr von insgesamt acht Bürgerrechtsorganisationen – darunter die Humanistische Union, Pro Asyl, die Vereinigung demokratischer Juristinnen und Juristen und die Neue Richtervereinigung – herausgegeben wird, gilt der kritischen Öffentlichkeit im Gegensatz zu den von den bundesdeutschen Inlandsgeheimdiensten herausgegebenen Publikationen gleichen Namens tatsächlich als Verfassungsschutzbericht.

In diesem Jahr werden schwerpunktmäßig die mangelnden Kontrollmöglichkeiten einer demokratischen Öffentlichkeit bezüglich der fragwürdigen Aktivitäten von Geheimdiensten behandelt – etwa in puncto der vom neofaschistischen Terrornetzwerk »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) begangenen Mord- und Anschlagsserie.

Auch setzen sich mehrere Dutzend renommierte Publizisten und Bürgerrechtler in dem nun vorgelegten Bericht mit Beschränkungen der Versammlungsfreiheit durch Auflagenbescheide der Polizeibehörden, mit Platzverweisen und Videoüberwachung auseinander. Darüber hinaus wird der diskriminierende Umgang mit Flüchtlingen, die in der Bundesrepublik nicht selten Opfer von staatlichem Rassismus werden, anhand zahlreicher Beispiele wie etwa den »Sonderbehandlungen« von Migranten bei der Eheschließung, der Nichtanerkennung von Verfolgungsgründen und der Anwendung des EU-Bürgerschaftsrechts, thematisiert.

Weitere Beiträge beschäftigen sich mit Verstößen gegen die grundgesetzlich verbriefte Würde des Menschen und den letzten verbliebenen Resten des Asylrechts, den Datenschutzverstößen des sogenannten sozialen Netzwerkes »Facebook« und der staatlichen Abschiebepolitik. Breiten Raum nehmen auch Verstöße gegen das Recht auf körperliche Unversehrtheit bei »Begegnungen« zwischen Polizeibeamten und Demonstranten ein, wie sie erst Anfang Juni bei den Aktionstagen des antikapitalistischen »Blockupy«-Bündnisses in der Bankenmetropole Frankfurt am Main zu beobachten waren.

Anläßlich der Vorstellung des »Grundrechtereports« forderte Ulla Jelpke, innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, den Gesetzgeber auf, »die Rechte der Bürgerinnen und Bürger gegenüber der Polizei zu sichern« und »endlich eine verbindliche Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamte auf Bundes- und Landesebene« einzuführen, da »Prügelpolizisten sich nicht länger durch die Anonymität ihrer Uniform und den Korpsgeist ihrer Kollegen geschützt fühlen« dürften. »Der brutale Polizeieinsatz mit Pfefferspray, Schlagstöcken und Quarzhandschuhen gegen eine angemeldete Demonstration und die stundenlange Einkesselung von friedlichen Blockupy-Aktivisten in Frankfurt haben am Wochenende erneut gezeigt, daß in der Bundesrepublik das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit von der Polizei nach Gutdünken außer Kraft gesetzt wird«, kritisierte die Bundestagsabgeordnete am Donnerstag weiter. Zudem sprach sich Jelpke erneut für ein Verbot von Pfeffersprayeinsätzen durch die Polizei aus.

Grundrechte-Report 2013 – Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland; Herausgeber: T. Müller-Heidelberg, E. Steven, M. Pelzer, M. Heiming, H. Fechner, R. Gössner, U. Engelfried und F. Behrens; Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2013, 240 Seiten, Preis 10,99 Euro

** Aus: junge Welt, Freitag, 7. Juni 2013


Ohne Rechte

Von Johanna Treblin ***

Der alternative Verfassungschutzbericht kommt zur rechten Zeit: Der Polizeieinsatz bei den Blockupy-Protesten am vergangenen Wochenende in Frankfurt am Main hat die Repressalien gegen die Blockupy-Demonstranten vom Vorjahr noch getoppt. »Wir sind entsetzt, in welch unvorstellbarer Weise Grundrechte ausgehebelt wurden«, kommentierte Elke Steven vom Grundrechtekomitee bei der Vorstellung des Grundrechte-Reports am Donnerstag den Einsatz. Diese Aussage gilt nicht nur für Blockupy, sondern auch für die übrigen Berichtsthemen zum Umgang mit den Bürger- und Menschenrechten in Deutschland, darunter die NSU-Morde und die Lebenssituation von Asylsuchenden.

Vor einer Woche hat sich ein Asylbewerber in der Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge im brandenburgischen Eisenhüttenstadt das Leben genommen, nachdem ihm seine Abschiebung angekündigt worden war. Er hatte psychische Probleme und keine adäquate medizinische Betreuung erhalten. Das Asylbewerberleistungsgesetz legt für Flüchtlinge lediglich eine medizinische Notversorgung fest und grenzt sie von einer regulären Gesundheitsversorgung aus. Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Urteil allerdings klargestellt, dass die Menschenwürde auch für Flüchtlinge gilt. Daran muss sich die Politik halten. Der Grundrechtereport fordert daher, das Asylbewerberleistungsgesetz abzuschaffen. Das wäre ein richtiger Schritt zur Durchsetzung der Grundrechte für alle in Deutschland lebenden Menschen.

*** Aus: neues deutschland, Freitag, 7. Juni 2013 (Kommentar)


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