"Durch die 'Extremismusklausel' sehen wir die Arbeit gegen Antisemitismus nachhaltig diskreditiert und gefährdet"
Die Task Force Education on Antisemitism wendet sich in einem Offenen Brief an die Bundeskanzlerin sowie an Ministerin Schröder und Minister Friedrich (Wortlaut)
Task Force Education on Antisemitism
c/o American Jewish Committee
Leipziger Platz 15
10117 Berlin
An
Frau Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
Bundeskanzleramt
Willy-Brandt-Straße 1
10557 Berlin
Frau Bundesministerin Dr. Kristina Schröder
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Glinkastraße 24
10117 Berlin
Herrn Bundesminister Dr. Hans-Peter Friedrich
Bundesministerium des Innern
Alt-Moabit 101 D
10559 Berlin
Offener Brief der Task Force Education on Antisemitism zur „Extremismusklausel“ für Förderprojekte des BMFSFJ und des BMI
Berlin, 4. März 2011
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Dr. Merkel,
Sehr geehrte Frau Bundesministerin Dr. Schröder,
sehr geehrter Herr Bundesminister Dr. Friedrich,
als Mitglieder des Netzwerks Task Force Education on Antisemitism möchten wir mit diesem
offenen Brief unserer besonderen Besorgnis über die Zukunft der pädagogischen und
zivilgesellschaftlichen Arbeit gegen Antisemitismus Ausdruck verleihen. Wie Sie wissen, hat das
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend eine sogenannte
„Demokratieerklärung“ zur Fördervoraussetzung für Projekte aus den Bundesprogrammen
„Toleranz fördern – Kompetenz stärken“ und „Initiative Demokratie stärken“ gemacht. Auch auf das
Förderprogramm „Zusammenhalt durch Teilhabe“ des Innenministeriums wurde sie mittlerweile
ausgeweitet. Durch diese als „Extremismusklausel" bekannt gewordene Erklärung sehen wir die
Arbeit gegen Antisemitismus nachhaltig diskreditiert und gefährdet.
Die Task Force Education on Antisemitism ist ein Netzwerk von Projekten, Institutionen und
Einzelpersonen, das sich bereits seit 2002 in der pädagogischen Prävention und Bearbeitung von
Antisemitismus engagiert. Unser Netzwerk vereint Praktikerinnen und Praktiker aus dem Feld der
politischen Bildungsarbeit gegen aktuellen Antisemitismus und der historisch-politischen
Bildungsarbeit sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und ist heute ein wichtiger Träger
der Weiterentwicklung und Qualitätssicherung pädagogischer Arbeit gegen aktuellen
Antisemitismus.
In unserer Arbeit stehen wir täglich für eine demokratische Kultur ein. Dabei beziehen wir uns
selbstverständlich auf die im Grundgesetz verankerten demokratischen Werte, die eine
Konsequenz aus zwölf Jahren nationalsozialistischer Herrschaft, aus Holocaust, Krieg und
anderen nationalsozialistischen Massenverbrechen darstellen.
Antisemitismus verstehen wir als eine grundlegende Infragestellung der Demokratie und ihrer
Werte. Äußerungen antisemitischen Inhalts lassen sich in der Geschichte der Bundesrepublik über
das gesamte Spektrum demokratischer Parteien verteilt nachweisen. Antisemitische Haltungen
sind damit keine Besonderheit bestimmter gesellschaftlicher Minderheiten. Sie lassen sich auch
nicht mit einem diffusen und wissenschaftlich höchst umstrittenen Begriff von
„Extremismus“ fassen. Antisemitismus findet sich in allen gesellschaftlichen Schichten und
Gruppierungen. Langzeitstudien renommierter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, von Prof.
Dr. Wilhelm Heitmeyer bis hin zu Prof. Dr. Elmar Brähler und PD Dr. Oliver Decker, belegen diese
Tatsache eindrücklich.
Demokratie ist für uns kein reines Glaubensbekenntnis, das sich mit einer staatlich verordneten
Unterschrift erfüllen lässt. Eine demokratische Gesellschaft lebt von kontroversen Haltungen und
Debatten. In unseren Seminaren und Workshops zu aktuellem und historischem Antisemitismus
zeigen wir Jugendlichen und (jungen) Erwachsenen auf, dass Demokratie von Aushandlungsprozessen lebt und nicht in Worthülsen gegossen werden kann. Die Stärkung des
Bewusstseins, selbst Einfluss auf gesellschaftliche Prozesse nehmen zu können, trägt unserer
Überzeugung nach zur Abwehr von Antisemitismus und zur Demokratieförderung bei.
Der „Beutelsbacher Konsens“ der politischen Bildung ist für uns eine Richtschnur der
pädagogischen Arbeit. Die in ihm enthaltenen Prinzipien des Überwältigungsverbots und der
Kontroversität stellen wesentlich verbindlichere Richtlinien dar, als es eine wie auch immer
formulierte „Demokratieerklärung“ zu leisten vermag. Gerade das Kontroversitätsprinzip stellt
sicher, dass im pädagogischen Prozess unterschiedliche Standpunkte und Alternativen
thematisiert werden. Jugendliche, aber auch Erwachsene sollen durch politische Bildung ja gerade
in die Lage versetzt werden, eine politische Situation zu analysieren und im Sinne ihrer Interessen
zu beeinflussen. Eine Instruktionspädagogik hingegen, die demokratische Wahrheiten vorgibt, aber
keinen Raum zur Entfaltung von gegensätzlichen Positionen bietet, lehnen wir aus fachlichen
Gründen ab.
Gerade auf einem Arbeitsfeld wie der Bildungsarbeit gegen Antisemitismus mit ihrem politisch und
moralisch hochsensiblen Charakter ist es notwendig, der Kontroversität einen großen Raum zu
geben und sich nicht auf normatives Handeln zu beschränken. Wenn die Zielgruppen unserer
Arbeit das Gefühl vermittelt bekommen, dass das Agieren von Pädagoginnen und Pädagogen der
verlängerte Arm obrigkeitsstaatlichen Handelns ist, wird diese Arbeit unglaubwürdig.
Der Zwang für die betroffenen Träger, eine „Demokratieerklärung“ zu unterschreiben und mit ihr
dafür Sorge zu tragen, dass Kolleg/inn/en, Referent/inn/en und Kooperationspartner/innen sich zur
freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennen, forciert ein gesellschaftliches Klima des
Misstrauens. Die langjährige Arbeit gegen Antisemitismus – und gegen andere Formen
gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit – gerät so unter einen Generalverdacht, nicht auf dem
Boden des Grundgesetzes zu stehen.
Eine Pädagogik, die auf demokratischen Prinzipien beruht, braucht Vertrauen. Sie benötigt das
Vertrauen sowohl in unsere Projektpartner/innen und in die Referent/inn/en bei unseren
Veranstaltungen als auch in die Zielgruppen unserer Arbeit. In der pädagogischen Arbeit sind
Risiken und Uneindeutigkeiten, genauso wie in der Demokratie, nie auszuschließen. Weder lässt
sich Vertrauen per Dekret und Unterschrift gewinnen noch lassen sich demokratische Prozesse auf
diesem Wege fördern.
Als Bildungsträger erachten wir es zudem nicht als unsere Aufgabe, unsere Kolleg/inn/en,
Partner/innen und Referent/inn/en auf ihre Verfassungstreue hin zu überprüfen und für das
Bundesministerium Dossiers über unsere Rechercheergebnisse anzulegen.
Wir bedauern es sehr, dass das Bundesfamilienministerium trotz der zahlreichen Appelle von
unterschiedlichen Organisationen und Einzelpersonen sowie der verfassungsrechtlichen Bedenken,
die z.B. im Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages geäußert wurden, an der
Verpflichtung zur Unterschrift der „Demokratieerklärung“ festhalten will. Wir bitten Sie jedoch
dringend, diese Entscheidung – auch vor dem Hintergrund unserer fachlichen Einwände – noch
einmal zu überdenken und die Klausel nicht weiter anzuwenden.
Dieses Schreiben übersenden wir zur Kenntnisnahme auch den Mitgliedern des unabhängigen
„Expertenkreises Antisemitismus“ der Bundesregierung.
Mit freundlichen Grüßen
Hanne Thoma, Ingolf Seidel
Koordination Task Force Education on Antisemitism
Im Auftrag von folgenden Trägern, Projekten und Personen der Task Force Education on Antisemitism:
(Es folgen zahlreiche Organisationen und Einzelpersonen)
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