Offen für "Geheimdienstfolklore"
Der seltsame Sinneswandel der Grünen in Sachen Verfassungsschutz
Von Rainer Funke *
Die geplante Neuausrichtung des
Verfassungsschutzes greift aus Sicht
der Grünen zu kurz. Im Hickhack von
Bund und Ländern sei »die nötige
umfassende Reform auf der Strecke
geblieben«, sagte dieser Tage Grünen-
Fraktionschefin Renate Künast.
Dürfen die Grünen als weiser gelten,
weil aus einst revoltierende
Ökos und Pazifisten inzwischen
Rechtsanwälte, Ärzte, Forscher
und Berufspolitiker geworden
sind? Eine gewisse Automatik ist
nicht zu erkennen. Als auffällig erweist
sich, dass einst strikte
Kriegsdienstverweigerer in Regierungsverantwortung
Soldaten
nach Afghanistan und sonst wohin
schickten. Und auch im Streit um
die Zukunft des Verfassungsschutzes
ist Sinneswandel augenfällig.
Noch zeichnet sich in der Debatte
um die Morde der Naziterrorgruppe
NSU und den wieder
mal versagenden Inlandsgeheimdienst
ein eher unübersichtliches
Bild ab. Parteichefin Claudia Roth
sprach in einem Interview davon,
dass das ganze Konstrukt der Behörden
in Bund und Ländern vor
der »politischen Insolvenz« stünde.
Weshalb sie »eine Strukturreform
bis hin zur teilweisen oder
vollständigen Auflösung« des Verfassungsschutzes
forderte.
Abschaffung war kein Tabu
Für Susanna Tausendfreund, Innenexpertin
der bayerischen Grünen,
reicht es nicht, aus der Verfassungsschutz-
Abteilung im
Münchner Innenministerium, die
vor zehn Jahren (un)sinnigerweise
mit dem Katastrophenschutz zusammengelegt
worden war, wieder
ein eigenständiges Ressort zu
machen. Es bedürfe vielmehr einer
grundlegenden Reform, die ergebnisoffen
diskutiert werden müsse.
»Hier darf auch die Abschaffung
des Verfassungsschutzes kein Tabu
sein.«
Für eine solche Position gibt es
gute Gründe. 1998 hatte man im
Parteiprogramm klare Linien gezogen.
So hieß es, Geheimdienste
hätten »fast alle Aufgaben verloren
«. »Zwecks Arbeitsbeschaffung
« würden »krampfhaft neue
Aufgaben gesucht«, etwa die Beobachtung
der Scientology. Die
Auseinandersetzung mit extremistischen
Ideologien könne demokratisch
nur durch die öffentliche
Diskussion in der Gesellschaft
geleistet werden. »Für die Bekämpfung
von Straftaten krimineller
Organisationen ist die Polizei
und Justiz zuständig.« Beide verfügten
»mit dem Strafrecht auch
über ein geeignetes Instrumentarium
«, wurde weiter festgestellt.
»Die Geheimdienste sind schrittweise
aufzulösen. Solange dies
nicht geschehen ist, müssen vor
allem ihre nachrichtendienstlichen
Befugnisse begrenzt und die parlamentarische
Kontrolle verbessert
werden.« Die Argumente hört man
nur noch bei der LINKEN.
Nach dem jüngsten Skandal um
den Verfassungsschutz scheint es
bei den Grünen zumindest in der
Bundestagsfraktion ein Umdenken
gegeben zu haben. Innenexperte
Wolfgang Wieland, kurzzeitig Justizsenator
in Berlin, vergleicht die
Lage gegenüber der »Märkischen
Allgemeinen« mit der Situation des
Autofahrers, der sage, seine
Windschutzscheibe sei bekleckert,
die Sicht behindert, da könne er
sich gleich die Augen verbinden.
Wer den Verfassungsschutz abschaffe,
der werde im Ergebnis eine
Geheimpolizei haben. Die bisherige
Trennung sei eine Errungenschaft,
die verspielt würde.
Auch Fraktionschefin Renate
Künast meint, das historisch gut
begründete Trennungsgebot zwischen
Geheimdienst und Polizei
würde zu einer ungeheuren
Machtfülle bei letzterer führen.
1989 hatte sie noch laut einer
Rundfunksendung formuliert:
»Abschaffen ist die einzige Devise.
« Mit an die 60 Spitzeln hatte
Berlins Geheimdienst damals versucht,
die Alternative Liste in Berlin
auszuforschen. Das Feindbild
des Landesamtes begann im politischen
Spektrum gleich links neben
der CDU. Es beschäftigte
zwielichtige Gestalten, beschattete
SPD-Abgeordnete und Journalisten.
Es gab ständig undichte Stellen,
Intrigen, Indiskretionen und
gegenseitiges Blockieren, vernichtete
Akten. Man denunzierte Spitzenleute
der Polizei und wusste
ansonsten keineswegs, was man
hätte wissen sollen bis müssen.
Jede Uni kann's besser
Einem CDU-Abgeordneten wird
übrigens die sarkastische Bemerkung
zugeschrieben, würde man
Waffen ausgeben, hätte sich die
Frage nach dem Schicksal des
Landesamtes längst von allein gelöst
– man hätte sich gegenseitig
umgebracht. Selbst Eduard Vermander,
der im Juli 2000 den
Dienst als Chef des hauptstädtischen
Landesamtes für Verfassungsschutz
quittieren musste, gab
zu, irgendwie eine »bessere Detektei
« geleitet zu haben.
Der heutige Streit um das Für
und Wider entstand freilich auch
deswegen, weil sich der Verfassungsschutz
seit eh und je als
schlichtweg unkontrollierbar erwiesen
hat. Und zudem ein dauerhaft
unprofessionelles bis stümperhaftes
Agieren an den Tag legte,
was Künast immer mal wieder
Geheimdienstfolklore nannte.
Die angesichts der weiter andauernden
behördlichen Ermittlungsdesaster
angekündigten
schärferen Kontrollen durch Parlamente
dürften nach aller Erfahrung
daran nichts ändern. Politikberatung
oder Frühwarnsystem,
das könne jede Projektgruppe einer
Uni besser als der Verfassungsschutz,
so Künast gegenüber
»nd« vor fast genau 20 Jahren.
»Was wir tun, ist allenfalls ein
Kontrollversuch, der an der einen
oder anderen Stelle pieksen und
zwingen kann, endlich Vorschriften
zu erlassen, danach zu arbeiten,
das Amt in der einen oder anderen
Sache vorsichtiger zu machen
«, meinte Künast. Hat sich
daran seither etwas geändert?
* Aus: neues deutschland, Freitag, 31. August 2012
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