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284 Akten geschreddert

Geheimdienst vernichtete mehr Daten über Neonazis, als bislang zugegeben

Von René Heilig *

Der NSU-Untersuchungsausschuss verteidigt seine Rechte. Die Obleute wiesen in einem Gespräch mit Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) Desavouierungsversuche zurück. Unterdessen wurde bekannt, dass der Geheimdienst wesentlich mehr Akten zum Rechtsextremismus geschreddert hat als bislang zugegeben.

»Treppe«, »Tobago/Investor«, »Tonfarbe«, »Tusche«, »Tinte«, »Tacho« und »Tarif« - sieben Tage nachdem die mutmaßlichen Mörder des »Nationalsozialistischen Untergrundes« (NSU) tot in ihrem Wohnmobil gefunden worden waren, hat das Bundesamt für Verfassungsschutz 26 Datensätze der ominösen »Operation Rennsteig« geschreddert. Eine Folge war der Rücktritt des Behördenchefs Heinz Fromm. Erst am 4. Juli 2012 hatte der Bundesinnenminister auf Druck des Untersuchungsausschusses einen Vernichtungsstopp angeordnet. Bis dahin arbeitete der Reißwolf.

Heute wird Hans-Georg Engelke, der von Innenminister Friedrich beauftragte »Schredder-Ermittler«, dem Untersuchungsausschuss erklären, dass zwischen dem 4. November 2011 und dem 4. Juli 2012 neben den bekannten 26 sogenannten G-10-Akten 94 Personen- und acht Sachakten aus dem Bereich Auswertung sowie 137 Akten zur Anwerbung von V-Leuten und 45 zu Gewährspersonen vernichtet wurden. Insgesamt handelt es sich um 284 Akten. Nach Ansicht des Bundesdatenschutzbeauftragen Peter Schaar habe es dafür keinen gesetzlich vorgeschrieben Grund gegeben.

»In den weitaus meisten Fällen«, so versucht Engelke zu beruhigen, könne »eine Querverbindung zu Personen aus dem Umfeld des NSU ausgeschlossen werden«. Der Mann aus dem Hause Friedrich behauptet, es habe keine »gezielte ›Löschaktion‹ zur Vernichtung möglicher Belege für Querverbindungen zum NSU-Komplex« gegeben.

Das kann man glauben, muss es aber nicht. Die Untersuchungsausschussmitglieder aller Fraktionen sind noch wachsamer geworden, seit der neue Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz - wie es SPD-Obfrau Eva Högl gestern ausdrückte - »ganz gezielt« gegen den Ausschuss Stimmung macht und dabei falsche Behauptungen aufstellt. Von »Fouls der Exekutive« sprach die LINKEN-Obfrau Petra Pau.

In einem Hintergrundgespräch mit ausgewählten Journalisten hatte Hans-Georg Maaßen jüngst den Ausschuss als Sicherheitsrisiko dargestellt. Die Abgeordneten würden durch Indiskretionen V-Leute gefährden, die Anwerbung neuer Vertrauensleute erschweren und so den Rechtsextremisten in die Hände arbeiten. FDP-Obmann Hartfried Wolff empört zudem die Aussage, der Geheimdienst habe dem Ausschuss nur die Akten geliefert, die er selbst »für relevant« gehalten hat.

Für gestern Abend hatten die Obleute den Bundesinnenminister und den Schweriner Ressortchef Lorenz Caffier (CDU) - als Vertreter der Länder - zum Gespräch gebeten. Dabei sollte auch der Versuch des Bundesinnenministeriums zur Sprache kommen, die bislang 780 von Thüringen überwiesenen Akten zu sperren. Weitere 1000 Akten des Erfurter Verfassungsschutzes werden erwartet, das Landeskriminalamt avisierte 1700 Akten zum Rechtsextremismus.

Auch der Ku-Klux-Klan-Skandal in Baden-Württemberg zieht weitere Kreise. So soll ein V-Mann des Landesamtes für Verfassungsschutz Gründer und Anführer des rassistischen Ku Klux Klan in Baden-Württemberg sein. Zwei Polizisten aus dem Umfeld der vom NSU ermordeten Polizistin Michèle Kiesewetter waren Mitglieder in dem Rechtsextremisten-Verein. Nun kam heraus, dass ein Verfassungsschützer Anfang der 2000er Jahre eine Telefonüberwachungsoperation an den KKK-Extremisten Achim S. in Schwäbisch Hall verraten hat. Der Vorfall wurde vertuscht.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag 18. Oktober 2012


Amt entsorgt Beweise **

Im Bundesamt für Verfassungsschutz sind nach Enttarnung der neofaschistischen Terrorzelle »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) weit mehr Akten vernichtet worden, als bislang eingeräumt wurde. Neben der bereits bekannten Vernichtung von Akten zu 26 geheimdienstlichen Abhörmaßnahmen seien weitere 284 Akten aus dem Bereich Rechtsextremismus geschreddert worden, heißt es in dem Bericht des vom Bundesinnenministerium eingesetzten Sonderermittlers Hans-Georg Engelke, der am Mittwoch teilweise bekannt wurde.

Der NSU-Untersuchungsausschuß des Bundestags zeigte sich überrascht über Engelkes Befund. »Das ist für uns alle eine komplett neue Information«, sagte die SPD-Obfrau im Untersuchungsausschuß, Eva Högl, der Nachrichtenagentur AFP. »Wir wissen nicht, wer das angeordnet hat und was die Grundlage war.« Der Ausschuß will den Sonderermittler am heutigen Donnerstag als Zeugen vernehmen.

Engelke kommt in seinem Bericht zu dem Schluß, »daß es eine gezielte ›Löschaktion‹ zur Vernichtung möglicher Belege für Querverbindungen zum NSU-Komplex nicht gegeben hat«. Die zuständigen Beamten hätten die Aktenvernichtungen lediglich in dem Glauben angeordnet, damit den vorgeschriebenen Löschfristen nachzukommen. Das stellte Högl in Frage. »Der Bericht überzeugt mich in der Sache überhaupt nicht.« Der Verdacht, daß mit der Aktenvernichtung entweder ein Zusammenhang zwischen Verfassungsschutz und NSU oder ein Versagen des Verfassungsschutzes im Umgang mit V-Leuten vertuscht werden solle, sei nicht ausgeräumt. Engelkes Bericht zufolge fanden die Aktenvernichtungen zwischen dem Auffliegen des NSU-Trios am 4. November 2011 und dem am 4. Juli 2012 verhängten Vernichtungsstopp für Akten mit Bezug zum Rechtsextremismus statt.

Zudem wurden am Mittwoch weitere Details über die Verwicklung baden-württembergischer Sicherheitsbehörden mit dem rassistischen Ku-Klux-Klan (KKK) bekannt. Ein Mitarbeiter des Verfassungsschutzes habe den Leiter des KKK in Schwäbisch Hall darüber informiert, daß dessen Telefongespräche abgehört wurden, berichteten die Stuttgarter Nachrichten.

Innenminister Reinhold Gall (SPD) wollte am Mittwoch den geheim tagenden Innenausschuß des Landtags darüber informieren. Im Sommer war im Zuge der Ermittlungen zum Mord an der Polizistin Michele Kiesewetter in Heilbronn 2007 bekanntgeworden, daß zwei baden-württembergische Polizeibeamte vor zehn Jahren Mitglieder einer KKK-Sektion mit Sitz in Schwäbisch Hall waren. Offenbar waren sie nicht die einzigen: Am Dienstag hatte die Frankfurter Rundschau berichtet, ein V-Mann des Bundesamtes für Verfassungsschutz, selbst Mitbegründer der rassistischen Gruppierung, habe die Mitgliedschaft dreier weiterer Polizisten erwähnt. Darunter sei auch eine Polizistin des Rauschgiftdezernats in Stuttgart gewesen. Der Zeitung zufolge informierte das Bundesamt für Verfassungsschutz das baden-württembergische Innenministerium erst Monate später und verheimlichte die wahre Quelle. Den Polizisten habe man daraufhin nichts nachweisen können. Sie blieben unbehelligt.

Die Neonazigruppe NSU soll für die Ermordung von neun Migranten und einer Polizistin verantwortlich sein. Außerdem werden der Terrorgruppe zwei Sprengstoffanschläge mit insgesamt 23 Verletzten sowie eine Serie von Banküberfällen zur Last gelegt.

** Aus: junge Welt, Donnerstag 18. Oktober 2012


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