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"Richtervorlage zur Frage der Wehrgerechtigkeit unzulässig"

Bundesverfassungsgericht weist Kölner Verwaltungsgericht zurück - Allgemeine Wehrpflicht verstößt nicht gegen Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes


Worum es geht

Das Bundesverfassungsgericht hat am 22. Juli die Richtervorlage des Kölner Verwaltungsgerichtes vom Dezember 2008, die Wehrpflicht sei angesichts der Wehrungerechtigkeit grundgesetzwidrig, als unzulässig abgewiesen (Aktenzeichen 2 BvL 3/09). Der Vorlagenbeschuss genüge den Anforderungen nicht, da das Kölner Verwaltungsgericht seine Entscheidung "lediglich pauschal und unzureichend" begründet habe. Nach Auffassung des Verwaltungsgerichtes könne nicht mehr von der grundgesetzlichen Norm der Pflichtengleichheit gesprochen werden, "wenn nur noch eine Minderheit Dienst leistet und der Rest gesetzlich von der Dienstleistung befreit ist".

Das Bundesverfassungsgericht setzt mit seinem Abweisungsbeschluss seine Rechtsauffassung fort, der "allgemeinen Wehrpflicht" eine verfassungsrechtliche Sonderstellung zu gewähren. Trotz der Wehrpflichtwillkür sieht das Bundesverfassungsgericht keinen offensichtlichen Verstoß gegen Artikel 3 des Grundgesetzes, wonach "alle Menschen vor dem Gesetz gleich" sind. Und dies angesichts objektiver Zahlen, die das Gegenteil belegen: Ohne Dienst 60 %, Wehrdienst 16 %, Zivildienst- und Zivildienstersatzdienste 19 %, Katastrophenschutz, Polizei oder Zeitsoldaten 5 % (bezogen auf den Jahrgang 1985).

Mit diesem Beschluss hat das Bundesverfassungsgericht einmal mehr deutlich gemacht, dass die Aufrechterhaltung, die Aussetzung oder Abschaffung der Wehrpflicht keine juristische, sondern eine politische Entscheidung ist. Deutlich wird mit dem Beschluss aber auch, dass das Bundesverfassungsgericht der Politik, solange diese an der Wehrpflicht festhält, weiterhin juristische Rückendeckung geben wird.

Ralf Siemens


Wehrpflicht wird nicht angetastet

Bundesverfassungsgericht verwarf Urteil zu ungerechter Einberufungspraxis *

Die Einberufungspraxis der Bundeswehr ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Das Bundesverfassungsgericht verwarf in einem am Freitag (31. Juli) in Karlsruhe veröffentlichten Beschluß eine Vorlage des Kölner Verwaltungsgerichts, die Wehrpflicht für verfassungswidrig zu erklären und bestätigte damit Urteile von Bundesgerichten aus den vergangenen Jahren. Das Verwaltungsgericht sah den Grundsatz der Wehrgerechtigkeit verletzt, weil nur noch jeder fünfte Mann eines Jahrgangs zum Wehrdienst einberufen wird. Die Karlsruher Richter werteten die Vorlage aus Köln als »unzulässig«, weil das Gericht seine Überzeugung nicht in der erforderlichen Weise begründet habe. So sei die Zahl derjenigen, die Zivildienst ableisteten, nicht in die Berechnungen der Richter eingegangen.

Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) begrüßte die Entscheidung. Die Wehrpflicht habe sich unter veränderten politischen Rahmenbedingungen bewährt. Sie sei »sicherheitspolitisch notwendig und gesellschaftspolitisch sinnvoll«, sagte Jung. Der Karlsruher Beschluß stütze seine »Grundüberzeugung, daß sich die Wehrgerechtigkeit an der Zahl derjenigen jungen Männer orientiert, die der Bundeswehr tatsächlich für den Wehrdienst zur Verfügung stehen.«

Die FDP bekräftigte hingegen ihre Forderung nach einer Aussetzung der Wehrpflicht. Die Wehrexpertin der Partei, Birgit Homburger, erklärte: »Die Frage der Wehrpflicht ist keine juristische Frage, sondern bedarf dringend einer politischen Entscheidung.« Der Grundsatz der Gleichbehandlung werde »derzeit bei der Heranziehungspraxis zur Wehrpflicht massiv verletzt«. Nach Homburgers Angaben leisten derzeit weniger als 17 Prozent der zur Verfügung stehenden Männer Wehrdienst. Knapp 60 Prozent aller tauglichen Männer leisteten weder Wehr- noch Zivildienst. »Von Wehr- und Dienstgerechtigkeit kann also keine Rede mehr sein«, argumentierte Homburger.

* Aus: junge Welt, 1. August 2009


Richtervorlage zur Frage der Wehrgerechtigkeit unzulässig

Pressemitteilung Nr. 88/2009 des Bundesverfassungsgerichts - Pressestelle - vom 31. Juli 2009

Beschluss vom 22. Juli 2009 – 2 BvL 3/09 –

Der Kläger des Ausgangsverfahrens wurde vom Kreiswehrersatzamtes Köln zum 1. Oktober 2008 zur Ableistung des Wehrdienstes einberufen. Nach erfolglosem Widerspruch erhob er Klage beim Verwaltungsgericht Köln. Dieses ordnete im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes die aufschiebende Wirkung der Klage an und legte dem Bundesverfassungsgericht die Frage vor, ob die allgemeine Wehrpflicht gemäß § 1 Abs. 1, § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 21 WPflG mit dem Grundsatz der Wehrgerechtigkeit vereinbar sei.

Die Vorlage ist nach der Entscheidung der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts unzulässig. Sie entspricht nicht den Anforderungen an die Darlegung der Überzeugung des vorlegenden Gerichts von der Verfassungswidrigkeit der zur Prüfung gestellten Normen.

Der Vorlagebeschluss erörtert nicht in der gebotenen Weise die grundlegende Frage, welche Bezugsgrößen für die Beurteilung, ob das Gebot der Wehrgerechtigkeit als Ausprägung des Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzt ist, heranzuziehen sind. In Betracht kommt einerseits, die Zahl derjenigen, die tatsächlich Wehrdienst leisten, der Zahl derer gegenüber zu stellen, die nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen für den Wehrdienst zur Verfügung stehen (sog. Innenwirkung des Gebots der Wehrgerechtigkeit). Andererseits ist es möglich, die Zahl der tatsächlich zum Wehrdienst Einberufenen ins Verhältnis zur Zahl aller Männer eines Geburtsjahrgangs zu setzen (sog. Außenwirkung des Gebots der Wehrgerechtigkeit). Das Verwaltungsgericht geht davon aus, dass die Wehrgerechtigkeit verletzt ist, wenn gegenwärtig nur noch jeder fünfte Mann eines Jahrgangs zum Wehrdienst einberufen werde. Damit stellt es auf die Außenwirkung des Gebots der Wehrgerechtigkeit ab, ohne darzulegen, aus welchen Gründen es von Verfassungs wegen auf diese Sichtweise ankommt. Einer eingehenden Darlegung hätte es auch deshalb bedurft, weil das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 19. Januar 2005 die gegenteilige Auffassung im Einzelnen begründet hat.

Das Verwaltungsgericht setzt sich nicht damit auseinander, dass die Wehrpflicht auch durch diejenigen wehrdienstfähigen Wehrpflichtigen erfüllt wird, die den Zivildienst ableisten. Die Frage, ob der Grundsatz der Pflichtengleichheit nur jeweils innerhalb der Wehrdienstverpflichtung und des Ersatzdienstes oder aber auch im Verhältnis zwischen beiden Anwendung findet, wird nicht erörtert. Soweit das Verwaltungsgericht ausführt, es könne nicht unbegrenzt in der Macht des Gesetzgebers stehen, eine Lücke zwischen der Zahl der für die Bundeswehr verfügbaren und der Zahl der tatsächlich einberufenen Wehrpflichtigen durch sachgerechte Neuregelungen der Verfügbarkeitskriterien und Erweiterung der Wehrdienstausnahmen zu schließen, genügen die pauschalen Ausführungen ebenfalls nicht den Begründungsanforderungen. Die Frage, ob sich eine Verfassungswidrigkeit der gegenwärtigen Rechtslage aus dem Summierungseffekt mehrerer, jeweils für sich gerechtfertigter, aber eventuell sich zu einer nicht mehr hinnehmbaren Ungleichbehandlung addierender Einzelregelungen ergeben könnte, wird in der Vorlage nicht vertieft. Hierzu hätte es einer eingehenden Würdigung der einzelnen Wehrdienstausnahmen, Befreiungstatbestände und Zurückstellungsgründe sowie der Verfügbarkeitskriterien und - im Wege einer Gesamtschau - der Prüfung der Auswirkungen des Zusammenwirkens sämtlicher Einzelregelungen auf das Gebot der Wehrgerechtigkeit bedurft. Das Verwaltungsgericht hätte auch verfassungsimmanente Grenzen des Gebots der Wehrgerechtigkeit - etwa im Hinblick auf veränderte Anforderungen an die Verteidigungsbereitschaft vor dem Hintergrund der Integration der Bundesrepublik Deutschland in transnationale Sicherheitssysteme - zu würdigen gehabt.

Soweit sich das Verwaltungsgericht darauf beruft, die Gesetzeslage habe sich seit 2004 in einer die Verfassungswidrigkeit herbeiführenden Weise verändert, fehlt es an einem Vergleich der aktuellen mit den bis zum 30. September 2004 geltenden Bestimmungen, die das Verwaltungsgericht für verfassungsgemäß hält. In der Vorlage wird unter anderem nicht dargestellt, welche Auswirkungen die mit dem Zweiten Zivildienständerungsgesetz vom 27. September 2004 eingefügte Befreiungsmöglichkeit für verheiratete Wehrpflichtige, die Streichung des Verwendungsgrades T 3 sowie die Absenkung des Einberufungshöchstalters auf die Wehrgerechtigkeit haben. Das Verwaltungsgericht hat ferner nicht erläutert, wie es die Gruppe der sich als Soldaten auf Zeit oder Offiziersanwärter verpflichtenden Angehörigen eines Geburtsjahrgangs bewertet. Auch auf die nicht unbeachtliche Zahl derjenigen, die einen unter den sogenannten externen Bedarf fallenden Dienst - etwa im Zivil- und Katastrophenschutz oder im Vollzugsdienst der Polizei oder Bundespolizei - leisten, wird in der Vorlage nicht hinreichend eingegangen.

Quelle: Website des BVerfG; www.bundesverfassungsgericht.de

Hier geht es zum Urteil samt Begründung im vollen Wortlaut: www.bundesverfassungsgericht.de (externer Link).




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