Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

SPD Braunschweig fordert Abschaffung der Wehrpflicht

Es tut sich also doch etwas an der Basis

Am 17. März 2001 fasste der Braunschweiger SPD-Unterbezirks-Parteitag auf Antrag des Ortsvereins Kralenriede folgenden Beschluss:

Abschaffung der Wehrpflicht, Freiwilliges Soziales Jahr
Die Wehrpflicht in der Bundesrepublik wird aufgehoben.
Damit die sozialen Institutionen durch den Wegfall des Zivildienstes nicht benachteiligt werden, wird das Angebot des Freiwilligen Sozialen Jahres wesentlich erweitert und attraktiver gestaltet.

Begründung:
  • Der Verteidigungsfall ist auf absehbare Zeit nahezu ausgeschlossen.
  • Fast alle Länder Europas haben inzwischen die Wehrpflicht abgeschafft oder stehen kurz davor.
  • Die Wehrgerechtigkeit kann nicht mehr gewährleistet werden: Nur 1/3 der Wehrpflichtigen werden jetzt noch zur Bundeswehr eingezogen. Die Zahl wird sich weiter verringern.
  • Der Kosovokrieg hat gezeigt: Militäreinsätze sind unmenschlich und kaum begrenzbar. Die Zivilbevölkerung und zivile Ziele werden nicht geschont. Kriegführen ist nicht mehr verantwortbar.
  • In der Zukunft müssen neue Modelle von Konfliktbearbeitung entwickelt und umgesetzt werden. Einrichtungen wie der Zivile Friedensdienst als Konfliktprävention müssen von Deutschland entschiedener gefördert werden und ermöglichen eher die dauerhafte und finanzierbare Lösung von Konflikten.
  • Die Platzierung von Zivildienstleistenden auf Arbeitsplätzen im sozialen und Dienstleistungsbereich ist bei der Knappheit von Arbeitsplätzen nicht mehr sinnvoll.
  • Die notwendige Spezialisierung der Bundeswehr kann nur durch Längerdienende sichergestellt werden.

Die Antragskommission empfahl:

"Satz 1 Ablehnung" (Mündliche Begründung: Der Antrag widerspreche der Beschlusslage der Partei und passe nicht in die politische Landschaft)
Entgegen der Empfehlung der Antragskommission ist der Antrag einschließlich Satz 1 mit überwältigender Mehrheit angenommen worden. Zur Begründung der Antragsteller sprach Frieder Schöbel. Wir dokumentieren seine Rede:

Liebe Genossinnen und Genossen,
zu dieser Stellungsnahme der Antragskommission muss ich doch etwas sagen. Man kann nicht einfach den ersten Satz dieses Antrags weglassen, weil er nämlich den Wesensgehalt des Antrags ausmacht und wir doch um dessentwillen diesen Antrag gestellt haben. So wird unsere Absicht in ihr Gegenteil verkehrt. Auch müssten dann folgende Fragen überhaupt erst noch geklärt werden: Wenn die Wehrpflicht nicht abgeschafft wird, woher sollen dann die Leute und das Geld kommen, mit denen der freiwillige Soziale Dienst attraktiver gestaltet werden soll? Dieser Parteitag ist, glaube ich, selbstbewusst genug, um über die Beschlusslage der Partei kritisch zu diskutieren und notfalls die politische Landschaft von unten her zu verändern, wenn es die Sachlage erfordert. Wie anders sollen Diskussionsprozesse in der Partei in Gang kommen?

Zu der Sachlage gehört auch, dass die Wehrgerechtigkeit einfach nicht mehr gegeben ist. Wenn nur noch 1/3 der jungen Männer gebraucht wird und damit nur 50 % eingezogen werden, ist es äußerst ungerecht, wenn von den Kriegsdienstverweigerern 100 % eingezogen werden, nur weil sie als Zivis für unser Gesundheitswesen inzwischen unentbehrlich geworden sind. Besonders ärgerlich ist, dass unser "guter" Minister Scharping schon mehrfach mit falschen Zahlen gearbeitet hat, um eine Wehrgerechtigkeit zu beweisen, die keine ist. Dies hat ihm die Zentralstelle für Kriegsdienstverweigerer nachgewiesen.

Außerdem sollten wir uns einen Moment auf die Entstehung der Wehrpflicht besinnen. Sie ist ja 1955 von der SPD nur mit großen Bauchschmerzen mit getragen worden und, wie wir heute denken, in einer extrem zugespitzten politischen Situation, nämlich der des Kalten Krieges. Und ursprünglich war sie im Grundgesetz der Bundesrepublik überhaupt nicht vorgesehen. Sie ist also ein absolutes Ausnahmegesetz und heute eine nur noch künstlich aufrecht erhaltene Belastung für junge Männer.

Auch die Französische Revolution hat sie nicht deshalb geschaffen, weil, wie der damalige Kriegsminister Carnot sagte, "jeder Bürger ein geborener Soldat" sei, sondern als eine Notmaßnahme, um die damals Frankreich bedrohenden preußischen und österreichischen Heere abzuwehren. Dass kurz vorher die Nationalversammlung per Dekret (16.12.1793) erklärt hatte, stehende Heere und jede Art von Wehrpflicht seien mit der Würde und der Freiheit des Individuums unvereinbar - das wird gern vergessen. In der Weimarer Zeit haben herumstreunende Angehörige der Reichswehr sicher manches Unglück angerichtet und gerade auch Sozialdemokraten wurden oft "hopps genommen", hatten darunter zu leiden. Bei einem historischen Vergleich wäre aber keineswegs sicher, ob Berufsheere insgesamt größere Verbrechen angerichtet haben als Wehrpflichtigenarmeen - gerade wenn wir an die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts denken.

Es geht also um die Aufhebung einer Einschränkung von Freiheitsrechten der Menschen. Dass eine Berufsarmee um so vieles gefährlicher sei als eine Wehrpflichtigenarmee, ist, denke ich, jetzt im 3. Jahrtausend, eine Legende. Schließlich haben wir sehr wachsame Medien und sind keine Bananenrepublik. Wir haben doch ein gutes Stück weit eine demokratische Erziehung entwickelt.

Nein, es ist endlich dringend geboten, dass wir die Verschwendung von Geldern für eine unsinnige Ausbildung stoppen - und dass für die Ausbildung immer noch Geld fehlt, haben wir heute von unserer Kultusministerin wieder gehört. Wir brauchen es dringend auch für das Training von Friedensfachkräften und Konfliktlösungsberaterinnen und -beratern und letztlich auch für unsere Schulen. Ebenso dringlich ist, dass wir eine ehrliche Rechnung aufmachen, was das Gesundheitswesen eigentlich kostet, dass wir dort vollwertige Arbeitsplätze anstelle derjenigen schaffen, die derzeit von Zivildienstleistenden mit Minimallöhnen zwangsweise ausgefüllt werden müssen.
Ich bitte darum, unseren Antrag in der vorgelegten Form anzunehmen.

Zurück zur Seite "Wehrpflicht-Zivildienst-Kriegsdienstverweigerung"

Zurück zur Homepage