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Die Veränderung der Weltordnung

Von Elmar Altvater *


Man kann sich aussuchen, was größeren Schrecken verbreitet: die astronomischen Verluste durch die globale Finanzkrise oder die ebenfalls astronomischen Kosten des Klimawandels. Der ist ebenso bittere Realität wie die Finanz- und Wirtschaftskrise. Wenn man außerdem in Rechnung stellt, dass nach FAO-Angaben 923 Millionen Menschen in der Welt Hunger leiden und dass die Energiekrise wegen der Begrenztheit der fossilen Ressourcen (Peakoil) keineswegs vorüber ist, auch wenn der Ölpreis derzeit sinkt, versteht man, dass selbst das einer kritisch-emanzipatorischen Weltsicht unverdächtige Weltwirtschaftsforum von Davos besorgt »globale Risiken« ausmacht, die die menschliche Sicherheit gefährden. Die Finanzkrise ist nur Teil einer Systemkrise der kapitalistischen Produktionsweise, die das Potential hat, die Weltordnung zu verändern.

Die »Mutter aller Krisen« ist das Konsum- und Produktionsmodell der kapitalistischen Metropolen. Es verlangt hohe Zuwachsraten der Produktivität, ist auf Massenproduktion und Massenkonsum ausgelegt und sorgt dafür, dass auch massenhaft Natur verbraucht wird: Rohstoffe, fossile Energie, und obendrein werden Landflächen und die Biodiversität durch Monokulturen beeinträchtigt. Zugleich sind die Industrieländer die Machtzentren der globalisierten kapitalistischen Welt und hätten daher das Potential, der systemischen Krise entgegen zu steuern – wenn denn die Eliten mitmachen würden. Doch sind deren Handlungsmöglichkeiten auf beiden Seiten des Atlantik durch die globale Finanzkrise eingeengt. Vor wenigen Wochen noch unvorstellbar viel Geld wird heute in das Finanzsystem gepumpt, um es vor dem Kollaps zu retten. Dieses fehlt dann, wenn Maßnahmen gegen den Hunger, gegen den drohenden Klimakollaps, oder auch nur zur Schaffung von Arbeitsplätzen zu finanzieren sind. So haben die Industrieländer die zugesagten 12 Milliarden Dollar gegen den Hunger auf 1 Milliarde zusammengestrichen. Hier wird nicht einmal gekleckert, bei der Bankenrettung hingegen massiv geklotzt.

Tendenzieller Fall der Profitrate

Wie konnte es überhaupt im Jahre 2008 zu der tiefsten Finanzkrise in der Geschichte des Kapitalismus kommen? Finanzielle Forderungen der Institutionen des Finanzsektors müssen real bedient werden. Doch die Möglichkeit, aus dem realen Akkumulationsprozess Überschüsse zur Bedienung finanzieller Forderungen abzuzweigen, geht zurück und gleichzeitig steigen die Renditeforderungen von finanziellen Investoren. Dieser in der Ökonomie bekannte Sachverhalt ist als Gesetz des abnehmenden Ertragszuwachses, als tendenzieller Fall der Profitrate, als säkulare Stagnationstendenz oder als Grenzen des Wachstums formuliert worden. Letztere sind auch eine Folge der irreversiblen Schädigungen der Ökosysteme. Sie verursachen zum Teil hohe Kosten und verringern die Profitabilität des Kapitals. Die ökologischen Kosten werden also größer; die Preissteigerungen der Rohstoffe, insbesondere der fossilen Brennstoffe, zeigen dies ebenso wie die Kosten des Klimawandels.

Wenn die realen Überschüsse geringer werden, können sich Renditebezieher noch eine Zeitlang schadlos halten, indem sie an einer »Akkumulation durch Enteignung« (David Harvey) teilhaben: eine Umverteilung größten Ausmaßes vom Süden in den Norden, von Schuldnern zu Kreditgebern, von denjenigen, die von Arbeit abhängig sind, zu den Geldvermögensbesitzern.

Gleichzeitig steigen die finanziellen Forderungen. Denn die weltweite Konkurrenz der Finanz-Standorte wird mit hohen Renditen und Zinsen geführt. Neue Finanzinstitutionen werden gegründet, um die Renditen zu steigern: Investmentbanken, verschiedenste Fondstypen, Zweckgesellschaften. Neue Finanzinstrumente werden auf den Markt gebracht mit hohen Renditeversprechen. Um die »Hebelwirkung« des Eigenkapitals zu steigern, werden mit einem Euro oftmals mehr als 100 Euro bewegt, um Überschüsse abzuzweigen, die die Eigenkapitalrendite enorm steigern. Der Finanzsektor wächst daher wesentlich schneller als die reale Ökonomie. Die Schulden der Verbraucher sind in den USA seit 1975 von weniger als 740 Milliarden auf fast 11 500 Milliarden US-Dollar oder von 62,0 auf 127,2 Prozent des verfügbaren Einkommens hochgeschnellt.

Kein Wunder daher, dass Kurzfristigkeit und Shareholder Value das unternehmerische Handeln bestimmen. Eine wachsende Verschuldung, der auf der anderen Seite ebenso wachsende Geldvermögen entsprechen, wird zum Treibstoff des westlichen Konsummodells. Doch es bewahrheitet sich, was John Maynard Keynes schon in den 1920er Jahren feststellte: Finanzmärkte sind instabil, und Instabilitäten können sich zu Finanzkrisen zuspitzen. Eine Spekulationswelle nach der anderen überrollte denn auch die verschiedenen Weltregionen, die daher seit der Liberalisierung nach der »neoliberalen Konterrevolution« (so stolz Milton Friedman über die 1970er Jahre) alle schwere Schulden- und Finanzkrisen durchmachen mussten.

Renditen von 20 Prozent und mehr auf das Eigenkapital bei Wachstumsraten von ein bis zwei Prozent sind nicht tragfähig. Die finanziellen Forderungen des Finanzsektors können real nicht mehr bedient werden. Sie erweisen sich daher als wertlos. Es entsteht ein immenser Abschreibungsbedarf, den niemand genau beziffern kann, weil die Deregulierung auch zu einer an Blindheit grenzenden Intransparenz geführt hat. Das Jammern der härtesten Neoliberalen über die »falsche Deregulierung« ist groß. Diese hätte eine »Gier« freigesetzt, die noch durch falsche Anreizsysteme honoriert worden sei. Da ist etwas dran, auch wenn man nicht die Gier als psychologischen Defekt interpretieren sollte, sondern als Eigenschaft der »Charaktermasken« im »Börsenspiel der Bankokraten« (Marx).

Die Krise lässt sich nicht bewältigen, indem Geld in die klammen Kassen der Finanzinstitutionen gespült wird. Denn damit wird nicht die reale Produktion jenes Überschusses angeregt, aus dem die finanziellen Forderungen allein befriedigt werden können. Es werden nur Löcher der Finanzinstitutionen gestopft, und zwar durch staatliche Finanztransfers.

Aber gibt es neue Anlagefelder und solvente neue Schuldner wie nach den Krisen in den 1980er und 1990er Jahren? Tatsächlich werden immer wieder neue Investitionsgelegenheiten in die Diskussion gebracht. Nun erweisen sich ökologische Krisen als gute Gelegenheiten für Akteure auf Finanzmärkten, auch wenn dabei Abstriche bei den bislang so üppigen Renditen gemacht werden müssen. Die Internationale Energieagentur (IEA) veranschlagt den Investitionsbedarf der Ölindustrie in den kommenden 20 Jahren auf 20 000 Milliarden US-Dollar. Obendrein hält es die IEA für notwendig, bis 2030 etwa 1300 Atommeiler ans Netz gehen zu lassen. Angesichts der Konflikte, die nur ein Atommeiler in Iran provoziert, ist dies ein geradezu selbstmörderisches Szenario.

Finanzjongleure im Klimaschutz



Auch im Klimaschutz bieten sich Investitionsgelegenheiten. Das Volumen des Emissionshandels wird mit bis zu 20 000 Milliarden US-Dollar beziffert, wenn dieser im Kyoto-II-Abkommen auf die ganze Welt ausgedehnt wird. Das sind übertriebene Erwartungen, da der Emissionshandel wohl nur dann in diesen Größenordnungen in Gang kommen kann, wenn die Finanzmärkte sich »normalisieren«. Und wenn man Klimapolitik mit »marktbasierten Instrumenten« den Finanzjongleuren überlässt, geraten Klimapolitiker in tiefe Depressionen.

Hinzu kämen noch Investitionen zur Extraktion mineralischer Rohstoffe und zum Anbau von Agro-Kraftstoffen, um Konsequenzen aus der rückläufigen Ölförderung zu ziehen. Es wäre ein gutes Geschäft, ganze Landstriche in Monokulturen von Agrosprit zu verwandeln und für die dazu notwendigen Investitionen das finanzielle Kapital bereitzustellen.

In diesen neuen Geschäftsfeldern könnte ein guter Teil des brachliegenden Kapitals investiv absorbiert werden. Nur wenn es den Banken gelingt, die durch die Nationalstaaten bereitgestellten Finanzmittel an Schuldner zu investiven Zwecken auszuleihen, ist eine Rückzahlung der Rettungspakete an die öffentlichen Kassen gewährleistet, sonst nicht. Der Preis wäre hoch, nämlich die ökologische Zerstörung und die Zuspitzung sozialer Konflikte.

Ein hoher Preis wird aber auch fällig, wenn die Mittel an den Finanzsektor nicht investiv verwendet werden. Dann müssten entweder die Steuerzahler die dann zu realisierenden Verluste übernehmen oder sie werden in einem inflationären Prozess umverteilt und »gestreut« und mithilfe einer Abwertung der Währung externalisiert. Die letztgenannte Möglichkeit haben freilich nur Länder wie die USA, deren Währung als Reservewährung gehalten wird. Interne politische Konflikte können zwar vermieden werden, doch drohen nun Auseinandersetzungen zwischen den USA und den Ländern mit großen Dollar-Reserven wie der EU, China und anderen Schwellenländern.

Die Globalisierung hätte nach dem Ende des Kalten Krieges eine Periode der friedlichen Entwicklung einleiten sollen. Dies war ein Versprechen, das bei liberalisierten Finanzmärkten nicht eingehalten werden konnte.

* Elmar Altvater ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin.

Aus: Neues Deutschland, 6. Dezember 2008



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