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Falsche Weichenstellung

Gespräch mit Andreas Buro* über die Folgen des Irakkriegs, das Völkerrecht und die europäisch-amerikanischen Beziehungen

Das folgende Interview, das Thomas Klein mit Andreas Buro geführt hat, wurde in der Tageszeitung "junge Welt" veröffentlicht.


Frage: Nach dem Brüsseler »Mini-Gipfel« Ende April, an dem die Regierungschefs der Länder Frankreich, Deutschland, Belgien und Luxemburg teilnahmen, sprach der britische Premier Tony Blair davon, es drohe die Spaltung der EU. Er wolle ein einflußreiches Europa, aber an der Seite der USA, »nicht als ihr Rivale«. Die vier Regierungschefs betonten dagegen, es gehe ihnen nicht um Rivalität, sondern um einen starken europäischen Pfeiler innerhalb derNATO. Wer hat recht?

Andreas Buro: Ich halte beide Einschätzungen für unzutreffend. Freilich ist EU-Europa ein Kooperationspartner der USA als Teil des Lagers der reichen Industrieländer mit dem gemeinsamen Interesse an kapitalistischer Globalisierung im westlichen Stil. Es ist aber gleichzeitig ein Konkurrent der USA, nicht zuletzt mit seinem Euro, der für den Dollar als »Weltgeld« durchaus gefährlich ist.
Die neue Aufrüstungswelle der vier Regierungen zielt nun darauf, die EU-Staaten möglichst unabhängig von den USA militärisch interventionsfähig zu machen. Sie wollen auf eigene Faust und nach eigenen Interessen Militär »bis zum Hindukusch« einsetzen können. Damit streben sie nach einer eigenen Option auf Militäreinsätze jenseits der unter US-Führung stehenden NATO. Ein solches Vorhaben hat nichts mit Verteidigung zu tun.

F: Das heißt, die sich derzeit in der EU abspielende Entwicklung ist in außen- und sicherheitspolitischer Hinsicht von sehr weitreichender Bedeutung und alles andere als ein Sturm im Wasserglas, wie einige meinen?

Ja, und was die Regierungen hier vorhaben, ist außerdem eine falsche, eine anachronistische Weichenstellung. Sie leitet eine neue Runde in der Aufrüstung der EU ein – wie die zuständigen Minister schon angekündigt haben – und drängt alle dringend gebotenen Formen der zivilen und politischen Konfliktbearbeitung in den Hintergrund.
Damit stellt sich auch die Frage, ob die EU gar die US-Rüstung überrunden will. Das ginge angesichts der bestehenden Kräfteverhältnisse nicht nur schief, es würde auch über Jahrzehnte Ressourcen verschleudern, die dringend für die Lösung der sozialen sowie Energie- und Umweltprobleme benötigt werden. Ganz zu schweigen von den Ressourcen, die im globalen Maßstab zur politischen und sozialen Stabilisierung benötigt werden. Eine Aufrüstung der EU würde deren Abhängigkeit von den USA nur weiter vertiefen, indem sie dauerhaft an die militarisierte US-Außenpolitik – um es in einer Kurzformel zu sagen – gefesselt werden würde.

F: Nach dem der Irak-Krieg militärisch entschieden ist, wird Kritik an der Friedensbewegung laut. Die Befürchtungen, der Krieg werde viele Tausende von Toten kosten und es drohe eine Ausweitung des Konflikts, seien Fehleinschätzungen gewesen. Können Sie diese Kritik teilen?

Nein, denn noch ist unklar, wie viele Opfer der Krieg kostete und täglich noch kostet und wie groß das Ausmaß der Zerstörung ist. Unklar ist auch die Einstellung der verschiedenen Teile der irakischen Gesellschaft gegenüber den Invasoren. Es kann nur darüber spekuliert werden, welche Konflikte dem militärischen Sieg folgen werden. Von der Nachkriegsordnung wissen wir nun, daß die USA auf eine Protektoratsadministration mit geringen Beteiligungsmöglichkeiten für irakische Politiker zusteuern.
Wir wissen auch noch nicht genau, wie sehr die Region destabilisiert wurde. Gibt es aktive Empörung, oder hat der schnelle militärische Sieg zu Resignation in den arabischen und islamischen Ländern geführt?

F: Aber eine Zwischenbilanz könnten Sie doch schon ziehen?

Fakt ist: Die Globalisierungspolitik der Triade, also der Staaten der Industriezentren in Westeuropa, Nordamerika und Ostasien, insbesondere die der USA, haben heftige Reaktionen in anderen Ländern und Kulturen ausgelöst. Ob diese sich in nächster Zeit als Attentatsterrorismus als Reaktion auf den Kriegs-terrorismus entladen, ist derzeit eine offene Frage.
Die Friedensbewegung setzt jedenfalls auf zivile Konfliktlösung, und sie hat keinen Grund, sich mit irgendwelchen gewaltsamen Formen des Konfliktaustrags zu solidarisieren.

F: Zum ersten Mal haben bereits vor Kriegsausbruch in vielen Ländern der Erde Millionen Menschen ihren Protest auf die Straße getragen. War das ein einmaliges Ereignis oder hat sich in der weltweiten Friedensbewegung etwas verändert?

Was wir erlebten, war eine Internationalisierung der Friedensbewegung. Daß dies möglich wurde, hing in hohem Maße mit der vorher gehenden Globalisierungskritik von Seattle bis Genua zusammen. Die Kooperation von Friedensbewegung und ATTAC ist ein wichtiges Ergebnis dieser breiten Mobilisierung. Sie sollte erhalten und weiter ausgebaut werden.

F: Wenn ich Sie recht verstehe, sind das Aufkommen der globalisierungskritischen Bewegung und die Internationalisierung der Friedensbewegung zum einen, und der Irak-Krieg zum anderen, zwei Seiten einer Medaille: Ergebnis der Globalisierungspolitik der letzten Jahre?

Richtig. Der Irak-Krieg sowie die Ankündigung von Präventivkriegen durch Washington sind Schritte im Prozeß der Globalisierung im Rahmen einer unipolaren Machtkonstellation. Die einzige Globalmacht will nach ihren Interessen und mit ihren überlegenen militärischen Mitteln Globalisierung gestalten.
Vorrangig geht es um vier Ziele: Beherrschung der Ölvorkommen, Regionalmacht-Rolle, Ausbau der militärischen geostrategischen Position und nicht zuletzt Durchsetzung der Marktöffnung im Sinne des Neoliberalismus. Alle anderen Begründungen – wie Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen, Einführung der Demokratie, Führung eines gerechten Krieges – sind vorgeschobene Behauptungen zur Legitimierung des Krieges.

F: In gewisser Weise markierte dieser Krieg aber auch einen Bruch im Prozeß der Globalisierung: Interessensdivergenzen der von Ihnen als Triade bezeichneten Zentren traten in ungekannter Schärfe zutage.

Ja. Der US-Krieg gegen den Irak markiert den offenen Ausbruch des Kampfes in und außerhalb der Triade um die Weltordnung, die sich seit 1989 herausbildet. Die gegenwärtige US-Administration nimmt hierfür einen großen Verlust an Glaubwürdigkeit in Kauf, den die USA als demokratisch-rechtliche Vormacht in großen Teilen der Weltöffentlichkeit besaß. Damit verdeutlicht sie ihre Mißachtung gegenüber der Meinung anderer Völker. Die nach dem 11. September gewonnene Solidarität ist wieder verspielt.

F: In bezug auf die weitere Entwicklung im Irak und im Nahen und Mittleren Osten sind nun aber Großbritannien, Polen und natürlich vor allem die USA politisch am Zug, die EU scheint außen vor.

Beim Wiederaufbau im Irak ist die EU in einer Zwickmühle: Sie kann einerseits nicht an einem Scheitern interessiert sein, da hierdurch die ganze Region destabilisiert würde. Trägt sie andererseits zu einem Erfolg bei, so bestätigt sie damit die US-Strategie des präventiven Angriffskrieges. Der Irak-Krieg ist also ein Testfall für die US-Strategie, ob sie ihren Weltmachtanspruch militärisch durchsetzen und die Kosten dafür zumindest teilweise auf ihre Konkurrenten abwälzen kann.

F: Spielt in diesem Zusammenhang die Tatsache eine Rolle, daß der Krieg keine völkerrechtliche Legitimation hatte?

Insofern, als die schwere Beschädigung der UN durch die völkerrechtswidrige Entscheidung der USA und Großbritanniens, den Krieg aus eigener Machtvollkommenheit zu beginnen, bewußt betrieben wurde. Allerdings dürfen wir nicht vergessen, daß die »neue NATO« in ihrer Grundsatzerklärung ebenfalls Angriffskriege ohne Sicherheitsratsbeschluß vorsieht und dies auch im Kosovo-Krieg praktiziert hat.
Die NATO-Staaten beabsichtigen also alle den Bruch des Völkerrechts und der UN-Charta. Die UN-Weltordnung wird somit nicht nur von den USA, sondern auch von den anderen »Starken« mehr oder weniger in Frage gestellt. Deshalb und aus anderen Gründen bezeichnete die rot-grüne Regierung den Irak-Krieg auch nicht als völkerrechtswidrig.

F: Welchen Charakter hat Ihrer Auffassung nach die Auseinandersetzung innerhalb der Triade, wenn es nicht ums Völkerrecht ging?

Es ist keine grundsätzliche zwischen Recht und Unrecht, sondern es geht in dem zugleich auf Zusammenarbeit und Konkurrenz beruhendem Verhältnis um die Einfluß- und Zugriffsmöglichkeiten der Staaten. Wir sollten dabei die »Achse der Aggressiven« nicht unterschätzen. Die EU beabsichtigt unter Führung von Frankreich und Deutschland die Antwort auf die Herausforderung der USA durch militärische Aufrüstung der EU zu geben, um eventuelle militärische Interventionen – zum Beispiel auf dem Balkan – möglichst eigenständig betreiben zu können.
An der neoliberalen Globalisierungspolitik der Triade gegenüber den anderen Ländern ändert der triadeninterne Konflikt um den Irak grundsätzlich nichts. Es geht intern nur um sogenannte »nationale Interessen« und um die Stärkung bzw. Schwächung der EU in der Auseinandersetzung mit den USA.
Die schwächere Seite – die EU – muß mehr Interesse an der Erhaltung internationalen Rechts und der UN haben, weil ihr dies erlaubt, sich im Konflikt mit den USA wirksamer der zivilen Instrumente zu bedienen. Auf dieser Ebene kann sie Einfluß ausüben, nicht aber, wenn die Konflikte militärisch ausgetragen werden. Dieser graduelle Unterschied ist nicht unwichtig.

F: Müßte sich nicht – wenn die deutsch-französische Kritik ernst gemeint wäre – das Verhältnis der EU zu anderen Ländern grundsätzlich ändern?

Aktuell ist davon nichts in Sicht. Es ist weder eine ernsthafte Zuwendung zu einem Dialog mit den arabischen und islamischen Staaten erkennbar, noch gibt es eine Überprüfung des Eigenverschuldens des Westens an der Empörung über die westliche Globalisierungspolitik. Dementsprechend ist auch keine wesentliche Änderung der Politik der Triade-Staaten gegenüber der arabisch-islamischen Welt zu erwarten.

F: Welche Schlußfolgerungen ergeben sich aus Ihrer Einschätzung für die politischen Orientierungen in nächster Zeit?

Es sollte darum gehen, die Internationalisierung der Friedensbewegung zu sichern und zu erweitern. Dazu gehören Partnerschaften mit Friedensgruppen in den USA, um diese zu unterstützen. Ferner ist ein Ausbau der Kooperation zwischen Globalisierungskritik und Friedenspolitik wichtig. Dadurch werden die Ursachen und Zusammenhänge von Konflikten viel stärker in das Bewußtsein der Gesellschaft gebracht. Gemeinsame Kampagnen zur friedenspolitischen Bedeutung eines konsequenten Ausbaus alternativer Energien erscheinen mir sehr sinnvoll. Die Energieversorgung, die Verteilung von Wasser, das Verhalten internationaler Konzerne zu erforschen und dazu Aktionen und Kampagnen zu starten, kann sehr lehrhaft sein. Außerdem dürfen wir die falsche Weichenstellung der EU, selbst Interventionsstreitkräfte mit allen Folgerungen aufzubauen, nicht aus dem Auge verlieren.

F: Bei dem Treffen der EU-Außenminister Anfang Mai auf Rhodos wurde erstmals eine eigene EU-Sicherheitsdokrin erörtert. Diese sicherheitspolitische Debatte ist nach Ansicht aus europäischen Regierungskreisen schon deshalb nötig, weil Befürchtungen die Runde machen, der Iran könnte als nächstes von der Bush-Regierung ins Visier genommen werden. Brüssel will den Iran offenbar drängen, seine Atomindustrie vollständig der Kontrolle der Internationalen Atomenergie-Behörde zu unterwerfen, um einer möglichen Kriegsbegründung den Boden zu entziehen. Ist das ein Aspekt der anfangs angesprochenen, möglichen Rivalität zwischen der EU und den USA?

Zunächst einmal: Ziel sollte schon sein, daß nicht neue Atommächte entstehen, wodurch das Risiko eines Atomkrieges wächst. Und daß die vorhandenen Potentiale endlich abgebaut werden.
Wenn der Iran durch nicht-militärische Mittel veranlaßt werden kann, auf Atomwaffen endgültig und verifizierbar zu verzichten, so wäre dies sehr zu begrüßen. Dadurch würde auch tatsächlich den USA eine Legitimation für Krieg entzogen.
Ich kann allerdings nicht erkennen, daß die EU-Aufrüstung im Rahmen der Sicherheitsdoktrin dazu einen Beitrag leisten könnte, noch könnte sie die USA an einem Angriffskrieg hindern. Was wäre denn am 20. März 2003 anders gewesen, hätte die EU über eine eigene bedeutende Interventionsstreitmacht verfügen können? Die richtige Weichenstellung besteht darin, die zivilen Möglichkeiten der Konfliktbearbeitung zu stärken. Dafür muß die EU Mittel und Fähigkeiten einsetzen. Das ergäbe eine Friedensperspektive und würde ihr eine eigenständige Politik gegenüber den USA ermöglichen, an der sich auch viele Interessen aus den ärmeren Ländern ankoppeln könnten.

* Andreas Buro ist emeritierter Professor für Internationale Politik an der Universität Frankfurt. Er war Mitbegründer der Ostermarsch-Bewegung der 60er Jahre. Heute ist er friedenspolitischer Sprecher des Komitees für Grundrechte und Demokratie.

Aus: junge Welt, 10. Mai 2003


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