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Spreading Democracy / Die Ausbreitung der Demokratie

Die gefährlichsten Ideen der Welt. Von Eric J. Hobsbawm / The World's Most Dangerous Ideas. By Eric J. Hobsbawm

Im Folgenden dokumentieren wir einen Beitrag, den der Nestor der Sozialgeschichtsschreibung, Eric Hobsbawm, in der Zeitschrift "Foreign Policy" (Oktober/November 2004) veröffentlichte. Zunächst in einer von uns besorgten Übersetzung, anschließend im englischen Original.


Die Ausbreitung der Demokratie

Die gefährlichsten Ideen der Welt.

Von Eric J. Hobsbawm


Wir sind gegenwärtig Zeuge einer scheinbar geplanten Neuordnung der Welt durch die mächtigsten Staaten. Die Kriege in Irak und Afghanistan sind immerhin Teil eines vermutlich allgemeinen Versuchs, die Weltordnung durch die "Ausbreitung der Demokratie" zu schaffen. Diese Idee ist nicht nur eine Don Quijoterie - sie ist auch gefährlich. Die Rhetorik, die diesen Kreuzzug begleitet, impliziert, dass dieses System in seiner standardisierten (westlichen) Form übertragbar ist, dass es überall erfolgreich sein kann, dass es die heutigen transnationalen Probleme beseitigt und dass es eher Frieden bringen als Unordnung sähen kann. Kann es aber nicht.

Demokratie ist recht populär. 1647 verbreiteten die Levellers in England die einflussreiche Idee, wonach "die Regierungsmacht auf der freien Einwilligung des Volks" beruhen müsse. Sie forderten das Stimmrecht für Alle. Natürlich garantiert das allgemeine Wahlrecht noch kein besonderes politisches Ergebnis und Wahlen können nicht einmal ihre eigene Fortsetzung sicherstellen - siehe Weimarer Republik. Es ist auch unwahrscheinlich, dass demokratische Wahlen Ergebnisse hervorbringen, die Hegemonial- oder imperialen Mächten genehm sind. (Wenn der Irakkrieg abhängig gemacht worden wäre vom freien Willen der "Weltgemeinschaft", hätte er nicht stattgefunden.) Doch diese Ungewissheiten mindern nicht die Anziehungskraft demokratischer Wahlen.

Neben der Popularität der Demokratie gibt es noch mehrere andere Faktoren, die den gefährlichen und íllusionären Glauben nähren, Demokratie sei durch die Propagierung fremder Armeen wirklich herstellbar. Die Globalisierung unterstellt, dass sich die menschlichen Verhältnisse in Richtung eines universellen Musters bewegen. Wenn Tankstellen, iPods und Computer-Freaks sich auf der ganzen Welt gleichen, warum dann nicht auch die politischen Institutionen? Diese Sichtweise unterschätzt die Komplexität der Welt. Auch der Rückfall in Blutvergießen und Anarchie, der uns in vielen Weltteilen begegnet, hat den Gedanken an eine neue Weltordnung attraktiver gemacht. Der Balkan schien gezeigt zu haben, dass Regionen des Aufruhrs und der humanitären Katastrophen der - wenn nötig: militärischen - Intervention starker und stabiler Staaten bedürfen. Da eine wirksame internationale Regierungsgewalt nicht existiert, sind manche Menschenfreunde sogar bereit eine Weltordnung zu unterstützen, die von den US-Macht getragen wird. Doch man sollte immer misstrauisch sein, wenn Militärmächte vorgeben Gutes für ihre Opfer und die Welt zu tun, indem sie schwächere Staaten besiegen und besetzen.

Doch ein anderer Faktor ist vielleicht am wichtigsten: Die Vereinigten Staaten haben sich zu einer unausweichlichen Kombination aus Größenwahn und Messianismus entschlossen, die beide in ihren revolutionären Ursprüngen angelegt waren. Heute sind die Vereinigten Staaten unerreichbar in ihrer techno-militärischen Vorherrschaft, überzeugt von der Überlegenheit ihres Gesellschaftssystems und - seit 1989 - fernab von jeglichem Gedanken - den selbst die größten Weltmächte immer noch hatten -, dass ihre materielle Macht begrenzt sei. Wie Präsident Wilson (ein auf spektakuläre Weise gescheiterter Politiker in seiner Zeit) sehen moderne Ideologen in den Vereinigten Staaten eine vorbildliche Gesellschaft verwirklicht: eine Kombination aus Recht, liberalen Freiheiten, freiem Wettbewerb privater Unternehmen und mit festen Regeln versehene Wahlkämpfe mit allgemeinem Wahlrecht. Worauf es nur noch ankäme, sei die Wiederherstellung der Welt nach dem Vorbild dieser "freien Gesellschaft".

Diese Vorstellung ist gefährlich wie das Stochern im Nebel. Auch wenn die Aktion einer Großmacht moralisch oder politisch wünschbare Folgen haben mag, ist es verhängnisvoll, sich mit ihr zu identifizieren, denn die Logik und die Methoden der Staatsaktion sind nicht im Einklang mit dem universellen Recht. Alle etablierten Staaten stellen ihre eigenen Interessen voran. Wenn sie über die Macht verfügen und ein ausreichend "vitales" Ziel haben, rechtfertigen die Staaten (allerdings selten öffentlich) auch die Mittel. die zur Erreichung des Ziels eingesetzt werden - insbesondere wenn sie der Meinung sind, dass Gott auf ihrer Seite ist. Sowohl gute als auch böse Imperien haben die Barbarisierung unserer Epoche hervorgebracht, welcher der "Krieg gegen den Terrorismus" nun Tribut zollt.

Indem die Unverletzlichkeit universeller Werte bedroht wird, wird die Kampagne zur Verbreitung der Demokratie zu keinem Erfolg führen. Das 20. Jahrhundert hat gezeigt, dass die Staaten weder einfach eine neue Welt hervorbringen noch historische Transformationen abkürzen konnten. Auch können sie nicht einfach sozialen Wandel dadurch bewerkstelligen, dass Institutionen exportiert werden. Selbst innerhalb der Schranken nationaler Territorialstaaten sind die Voraussetzungen für eine wirkungsvolle demokratische Regierung dünn gesät: Ein Staat muss über Legitimität, Konsens und die Fähigkeit zur Konfliktschlichtung zwischen Interessengruppen verfügen. Ohne diesen Konsens gibt es kein souveräne Bevölkerung und daher auch keine Legitimität für rechnerische Mehrheiten. Fehlt dieser Konsens - sei er religiös, ethnisch oder beides -, so gibt es auch keine Demokratie (das ist z.B. der Fall mit den demokratischen Institutionen in Nordirland), oder der Staat ist gespalten (wie in der Tschechoslowakei), oder die Gesellschaft gleitet ab in einen permanenten Bürgerkrieg (wie in Sri Lanka). Sowohl nach 1918 als auch nach 1945 verschlimmerte die "Ausbreitung der Demokratie" ethnische Konflikte und führte zur Desintegration von Staaten in multinationalen und stark kommunalisierten Regionen - eine trostlose Aussicht.

Unabhängig von der geringen Erfolgschance leidet das Vorhaben, westliche demokratische Standards zu verbreiten, unter einem grundlegenden Paradox. Es wird überwiegend als Schlüssel zur Lösung der bedrohlichen transnationalen Probleme von heute aufgefasst. Ein immer größerer Teil des menschlichen Lebens entzieht sich dem Einfluss der Wähler: in transnationalen öffentlichen oder privaten Organisationen, die keine Wahlen oder zumindest keine demokratischen Wahlen kennen. Und Wahldemokratie kann außerhalb von politischen Einheiten wie den Nationalstaaten nicht wirksam funktionieren. Daher versuchen die mächtigen Staaten ein System zu verbreiten, von dem sie sogar selbst finden, dass es den aktuellen Herausforderungen nicht gerecht wird.

Europa ist der schlagende Beweis. Eine Organisation wie die Europäische Union (EU) könnte sich gut zu einer mächtigen und wirksamen Struktur hin entwickeln, weil sie - mit Ausnahme einer kleinen (wenn auch wachsenden) Zahl von Mitgliedsregierungen - keinen Wahlkörper hat. Ohne ihren demokratischen Mangel gäbe es die EU gar nicht und das Europäische Parlament hat auch keine Zukunft, weil es kein "Europäisches Volk" hat, sondern nur eine Ansammlung von Mitgliedsvölkern, von denen nicht einmal die Hälfte sich bei der EU-Wahl 2004 zur Wahl hinbemüht hat. "Europa" ist heute eine funktionierende Einheit, aber anders als die Mitglieder genießt es weder Legitimation in der Bevölkerung noch aus Wahlen hervorgehende Autorität. Von daher ist es keine Überraschung, dass immer dann Probleme auftauchten, wenn die EU die Basis der Verhandlungen zwischen Regierungen verlassen hat und zum Gegenstand demokratischer Kampagnen in den Mitgliedsstaaten wurde.

Der Versuch Demokratie zu verbreitern ist also in einem eher indirekten Sinn gefährlich: Er vermittelt jenen, die diese Form des Regierens nicht gut finden, die Illusion, dass sie es sind, die über jene regieren, die in Wahrheit regieren. Aber ist das denn so? Wir wissen heute einiges darüber, wie die tatsächlichen Entscheidungen für den Irakkrieg in mindestens zwei Staaten mit zweifellos echten Demokratien gefallen sind: in den Vereinigten Staaten und Großbritannien. Wahldemokratie und Abgeordnetenhäuser hatten mit diesem Entscheidungsprozess wenig zu tun - außer dass sie vielfältige Probleme aus Lüge und Verheimlichung hervorgebracht haben. Entscheidungen wurden in kleinen Gruppen vertraulich getroffen, nicht viel anders als in nicht-demokratischen Ländern. Glücklicherweise konnten die unabhängigen Medien in Großbritannien nicht so leicht umgangen werden. Aber es ist nicht die Wählerdemokratie, die notwendigerweise eine wirksame Pressefreiheit, Bürgerrechte und die Unabhängigkeit der Justiz sichert.

Aus dem Englischen: Peter Strutynski


Spreading Democracy"

The World's Most Dangerous Ideas

By Eric J. Hobsbawm

We are at present engaged in what purports to be a planned reordering of the world by the powerful states. The wars in Iraq and Afghanistan are but one part of a supposedly universal effort to create world order by "spreading democracy." This idea is not merely quixotic--it is dangerous. The rhetoric surrounding this crusade implies that the system is applicable in a standardized (Western) form, that it can succeed everywhere, that it can remedy today's transnational dilemmas, and that it can bring peace, rather than sow disorder. It cannot.

Democracy is rightly popular. In 1647, the English Levellers broadcast the powerful idea that "all government is in the free consent of the people." They meant votes for all. Of course, universal suffrage does not guarantee any particular political result, and elections cannot even ensure their own perpetuation-- witness the Weimar Republic. Electoral democracy is also unlikely to produce outcomes convenient to hegemonic or imperial powers. (If the Iraq war had depended on the freely expressed consent of "the world community," it would not have happened.) But these uncertainties do not diminish the appeal of electoral democracy.

Several other factors besides democracy's popularity explain the dangerous and illusory belief that its propagation by foreign armies might actually be feasible. Globalization suggests that human affairs are evolving toward a universal pattern. If gas stations, iPods, and computer geeks are the same worldwide, why not political institutions? This view underrates the world's complexity. The relapse into bloodshed and anarchy that has occurred so visibly in much of the world has also made the idea of spreading a new order more attractive. The Balkans seemed to show that areas of turmoil and humanitarian catastrophe required the intervention, military if need be, of strong and stable states. In the absence of effective international governance, some humanitarians are still ready to support a world order imposed by U.S. power. But one should always be suspicious when military powers claim to be doing favors for their victims and the world by defeating and occupying weaker states.

Yet another factor may be the most important: The United States has been ready with the necessary combination of megalomania and messianism, derived from its revolutionary origins. Today's United States is unchallengeable in its techno-military supremacy, convinced of the superiority of its social system, and, since 1989, no longer reminded--as even the greatest conquering empires always had been--that its material power has limits. Like President Woodrow Wilson (a spectacular international failure in his day), today's ideologues see a model society already at work in the United States: a combination of law, liberal freedoms, competitive private enterprise, and regular, contested elections with universal suffrage. All that remains is to remake the world in the image of this "free society."

This idea is dangerous whistling in the dark. Although great power action may have morally or politically desirable consequences, identifying with it is perilous because the logic and methods of state action are not those of universal rights. All established states put their own interests first. If they have the power, and the end is considered sufficiently vital, states justify the means of achieving it (though rarely in public)--particularly when they think God is on their side. Both good and evil empires have produced the barbarization of our era, to which the "war against terror" has now contributed.

While threatening the integrity of universal values, the campaign to spread democracy will not succeed. The 20th century demonstrated that states could not simply remake the world or abbreviate historical transformations. Nor can they easily effect social change by transferring institutions across borders. Even within the ranks of territorial nation-states, the conditions for effective democratic government are rare: an existing state enjoying legitimacy, consent, and the ability to mediate conflicts between domestic groups. Without such consensus, there is no single sovereign people and therefore no legitimacy for arithmetical majorities. When this consensus--be it religious, ethnic, or both--is absent, democracy has been suspended (as is the case with democratic institutions in Northern Ireland), the state has split (as in Czechoslovakia), or society has descended into permanent civil war (as in Sri Lanka). "Spreading democracy" aggravated ethnic conflict and produced the disintegration of states in multinational and multicommunal regions after both 1918 and 1989, a bleak prospect.

Beyond its scant chance of success, the effort to spread standardized Western democracy also suffers from a fundamental paradox. In no small part, it is conceived of as a solution to the dangerous transnational problems of our day. A growing part of human life now occurs beyond the influence of voters-- in transnational public and private entities that have no electorates, or at least no democratic ones. And electoral democracy cannot function effectively outside political units such as nation-states. The powerful states are therefore trying to spread a system that even they find inadequate to meet today's challenges.

Europe proves the point. A body like the European Union (EU) could develop into a powerful and effective structure precisely because it has no electorate other than a small number (albeit growing) of member governments. The EU would be nowhere without its "democratic deficit," and there can be no future for its parliament, for there is no "European people," only a collection of "member peoples," less than half of whom bothered to vote in the 2004 EU parliamentary elections. "Europe" is now a functioning entity, but unlike the member states it enjoys no popular legitimacy or electoral authority. Unsurprisingly, problems arose as soon as the EU moved beyond negotiations between governments and became the subject of democratic campaigning in the member states.

The effort to spread democracy is also dangerous in a more indirect way: It conveys to those who do not enjoy this form of government the illusion that it actually governs those who do. But does it? We now know something about how the actual decisions to go to war in Iraq were taken in at least two states of unquestionable democratic bona fides: the United States and the United Kingdom. Other than creating complex problems of deceit and concealment, electoral democracy and representative assemblies had little to do with that process. Decisions were taken among small groups of people in private, not very different from the way they would have been taken in nondemocratic countries. Fortunately, media independence could not be so easily circumvented in the United Kingdom. But it is not electoral democracy that necessarily ensures effective freedom of the press, citizen rights, and an independent judiciary.

* Eric J. Hobsbawm is emeritus professor of economic and social history at Birkbeck, University of London, and author of The Age of Extremes: A History of the World, 1914--1991 (New York: Pantheon Books, 1994

Source: Foreign Policy; September/October 2004
www.foreignpolicy.com



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