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Der Weltbürger als Untertan?

Macht, Öffentlichkeit und politische Sozialisation in der neuen Weltpolitik

Von Gerd Steffens*

Englische und amerikanische Beiträge zur Debatte über den Irak-Krieg oder die Neue Weltordnung bedienen sich in letzter Zeit nicht selten originalsprachlich verwendeter deutscher Begriffe, um Angelpunkte ihrer Argumentation zu fixieren. So spricht Ted Honderich in seinem umstrittenen Buch "Nach dem Terror" von "Realpolitik", wenn er das Politikmodell kennzeichnen will, dem seine Kritik gilt.(1) In Robert Kagans neokonservativem Manifest der Neuen Weltordnung (2) bildet das originalsprachliche Label "Machtpolitik" den Zentralbegriff eines Politikverständnisses, welches in polemischer Entgegensetzung zu verständigungsorientierten Versionen von Politik ("Beschwichtigungspolitik", "überschwänglicher Idealismus", "postmodernes Paradies", "Kantische Welt des ewigen Friedens") entwickelt wird. Sogar "Blitzkrieg", Inbegriff Hitlerscher Panzerstrategie und im Schlieffen-Plan als - dann fehlgeschlagener - Eröffnungszug des Ersten Weltkriegs zuerst konzeptualisiert, gelangt als Eckbegriff militärischer Flankierung des neuen Weltverständnisses wieder zu Ehren. In "Foreign Affairs" etwa findet Max Boot, dass der schnelle und mit geringen eigenen Opfern erreichte Sieg über den Irak den bisherigen "gold standard of operational excellence" abgelöst habe, den "the German blitzkrieg through the Low Countries and France in 1940" bis dahin gebildet habe.(3)

Begriffe, seien sie kritisch oder affirmativ verwendet, stellen sich nicht von ungefähr ein, und in den zitierten Fällen legen die Autoren offenbar Wert darauf, sie durch den originalsprachlichen Gebrauch historisch eindeutig zu situieren. Warum aber greifen heutige Autoren zu dieser historischen Referenz? Welche Züge des deutschen Kaiserreichs und seines schrecklichen nationalsozialistischen Wiedergängers sind es, die ein Paradigma konfigurieren, welches für heutige Situationen, Problemdefinitionen oder Weltsichten erhellend erscheinen kann? Oder sogar attraktiv: denn es sind ja die positiven Konnotierungen im Aufruf dieser Vergangenheit, die verblüffen, zumal sie aus der Perspektive der gegenwärtigen Eliten der westlichen Vormacht eine Lesart der deutschen Geschichte nahezulegen scheinen, die die Ankömmlinge auf dem "langen Weg nach Westen" (H. A. Winkler) ironisch wieder zurückschickt. Wie Weltsicht und Geschichtsdenken der neokonservativen Gruppe von rechten Politikern und Intellektuellen, die, kaum verborgen, eine Art Lenkungsausschuss der US-Regierung bilden,(4) sich in Handlungsaufriss und Regierungspraxis verknüpfen, hat niemand deutlicher als Robert Kagan offengelegt.(5) An seiner Argumentation lässt sich die Frage danach, welche Rolle den Menschen selbst, den Subjekten von Politik als gesellschaftlicher Selbststeuerung, in der neuen Weltpolitik eigentlich zukommt, in einem ersten Zugang profilieren.

München, nicht Auschwitz als paradigmatischer Ort der Geschichte?

"Wir sollten nicht länger so tun, als hätten Europäer und Amerikaner die gleiche Weltsicht oder als würden sie auch nur in der gleichen Welt leben. In der alles entscheidenden Frage der Macht - in der Frage der Wirksamkeit, der Ethik, der Erwünschbarkeit von Macht - gehen die amerikanischen und europäischen Ansichten auseinander".(6) Mit einer rhetorischen Geste, die an Carl Schmitt erinnert,(7) entwirft Kagan in diesen Einleitungssätzen eine antithetische Welt und entscheidet den Diskurs durch eine Fokussierung, die Auswege oder Differenzierungen nicht zulassen soll: Bist du für den freien Gebrauch der Macht der USA oder willst du ihn durch Regeln einschränken? Selbstverständlich ist mit "Macht" militärische Macht gemeint, und an der Bereitschaft zu ihrem Gebrauch entscheidet sich politisch alles. Wie viele Divisionen hat der Papst?, soll Stalin einst gefragt haben, und die Ironie der Geschichte hat es dann so gewollt, dass ein polnischer Papst zum Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums beigetragen hat. Wie viel High-Tec-Eingreiftruppen hat Europa?, fragt Robert Kagan, und der offenkundige Mangel europäischer Bereitschaft, in globaler militärischer Interventionsfähigkeit mit den USA zu konkurrieren, versetzt in seiner Sicht Europa in eine geschichtslose Zwischenwelt, ein postmodernes Paradies, eine Kantische Welt des ewigen Friedens. Dieses Paradies leistet sich Europa in Kagans Augen auf Kosten der USA, die in der "Hobbesschen Welt", der eigentlichen Welt politischer Realität und des Fortgangs der Geschichte, für Ordnung sorgen.

Unter dem ganz auf Machtpolitik und deren staatliche Akteure zentrierten Blick Kagans entsteht ein eigentümliches Bild der Geschichte des 20. Jahrhunderts, frei von gesellschaftlichen Kämpfen um Interessen, Anerkennung und Zugehörigkeiten, frei von konkurrierenden Gesellschaftsentwürfen und Ordnungskonzepten, von politischen Strömungen und Parteien oder von Massenbewegungen und ihren Akteuren. Als historische Folie verwendet lässt eine derart von gesellschaftlichen Zielen und Auseinandersetzungen entkoppelte staatliche Machtpolitik etwa von der Geschichte des Nationalsozialismus nichts anderes zurück als den Begriff des "Appeasement" als Metapher für die Ursünde gegen den Geist der Machtpolitik und als einzig zugelassene historische Lerngelegenheit. "München", nicht "Auschwitz" ist in dieser Sicht der Dreh- und Angelpunkt der neueren Geschichte, und daher ist "die ‚Lektion von München' ... immer noch das bestimmende Paradigma" für "das strategische Denken der USA",(8) offenbar ganz ungeachtet des nicht unbeträchtlichen Unterschiedes, ob, wie in München, ein Diktator im vollen Aufwind eines aggressiven Expansionismus handelt oder ob die Handlungsfelder diktatorischer Politik bereits auf - von außen zudem rigoros überwachte - Restbestände zusammengedrückt worden sind.

Demgegenüber ist in Europa die Erfahrung der beiden Weltkriege ganz anders, nämlich als Folge von Machtpolitik selbst interpretiert worden. Eben dieses Verständnis der eigenen Geschichte hat die Europäer in den Augen Kagans aber nicht über sich selbst aufgeklärt, sondern sie in einen "geopolitischen Traum" versetzt. Nicht Macht, sondern die Überwindung von Macht und die Unterwerfung aller zwischenstaatlichen Beziehungen unter die Herrschaft des Rechts wolle Europa nun als seine "mission civilisatrice" anbieten.(9)

In dieser Sicht wird eine verständigungsorientierte, auf das Medium des internationalen Rechts zentrierte Politik zu einer reinen Defizitform von Politik: Sie ist nur deshalb verständigungsorientiert und rechtsförmig, weil sie mangels eigener militärischen Mittel nicht machtförmig sein kann. Was phänomenologisch eine gewisse Plausibilität hat - dass der Schwache Zuflucht beim Recht sucht - ,wird zu einer unterbietenden Version von Darwinismus, wenn daraus ein kausales, gleichsam naturgesetzliches Verhältnis wird. "Als die Vereinigten Staaten schwach waren, verfolgten sie die Strategien der indirekten Einflussnahme, Strategien der Schwäche; nun, da sie mächtig sind, benehmen sie sich auch wie ein mächtiger Staat." (10)

Dieses schlichte, naturalistische Verständnis von Politik, nach welchem Menschen und Staaten gleichsam als Automaten der Natur nach Maßgabe von Stärke und Schwäche aneinander handeln, wird bei Kagan - anders als bei Hobbes - nicht einmal vertragstheoretisch balanciert. Während dort das wechselseitig unterstellte Interesse an Selbsterhaltung zur Grundlage der vereinbarten Unterwerfung unter das Gewaltmonopol des Staates wird und damit der ‚Kampf aller gegen alle', d.h. die Praxis, Konflikte durch Gewalt zu entscheiden, stillgestellt wird, wird diese Praxis in den Argumentationen von Kagan gerade geöffnet. Als eigentliche und unvermeidliche Form von Politik wird hier gerechtfertigt, dass der Starke nach nichts anderem als der Maßgabe seiner Stärke handelt. Erklärtermaßen sollen die Vereinigten Staaten in der angeblich "Hobbesschen Welt" keinesweg aus der Perspektive dieser Friedensordnung handeln, sondern unmissverständlich aus der ihrer eigenen Interessen. "Die Amerikaner möchten eine freiheitliche Weltordnung verteidigen und befördern. Aber die einzige stabile und erfolgreiche Weltordnung, die sich die Amerikaner vorstellen können, ist eine, in dessen Zentrum die USA stehen." "Realistischer Nationalismus" ist nach Kagan die außenpolitische Doktrin der Bush-Administration. Sie könne daran anknüpfen, dass der Internationalismus der Amerikaner "immer ein Nebenprodukt ihres Nationalismus" gewesen sei.(11)

Doppelmoral als Prinzip der neuen Weltordnung?

Die "Hobbessche Welt", als deren Held Kagan die USA auftreten lässt, ist aber eben nicht die Welt von Hobbes,(12) in der alle schließlich entdecken, dass das Problem, das jeder einzelne hat, das Problem aller ist und in der diese Entdeckung die Lösung bringt, sondern es ist eine streng zweigeteilte Welt von Drinnen und Draußen, in der es eine grenzüberschreitende Wirkung von Wechselseitigkeit nicht gibt. Es ist ja gerade das Eigentümliche solcher dichotomischer Weltbilder vom Carl Schmittschen Typ, dass die Unterscheidung von Drinnen und Draußen, Freund und Feind, "wir" und "sie", die Basisentscheidung der Weltkonstruktion ist, nach deren Logik die gegenseitige Anerkennung gleichen Rechtes eben nur "drinnen" in Betracht kommt. Deshalb sind solche Weltbilder notwendig mit einer klaren Trennung von Binnenmoral und Außenmoral verknüpft, und die moralischen Regeln, die das Binnenleben homogenisierter Gemeinschaften oft mit hoher Intensität von Wechselseitigkeit und Solidarität ausstatten, gelten gerade nicht im Umgang mit der Außenwelt. Es ist das geteilte Einverständnis in diese Spaltung der moralischen Welt und seine Bekräftigung in der moralischen Alltagspraxis, welches die hohe Kohäsion streng abgegrenzter Binnengesellschaften, z.B. der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft, bewirkt hat und bewirkt.

Eine solche moralische Aufspaltung der Welt in Sphären regelgesicherter Wechselseitigkeit und Anerkennung einerseits und der Rechtlosigkeit oder minderen Berechtigung andererseits nicht wieder zuzulassen, ist der Kern eines politisch-moralischen Konsenses gewesen, der in der Nachkriegszeit sich weithin durchgesetzt hat. Er hat sich in Europa in den historischen Selbstreflexionen ehemals faschistischer Gesellschaften und kolonialistischer Staaten sicher besonders prägnant und mit gesellschaftlicher Tiefenwirkung ausgeprägt, war aber keineswegs auf Europa beschränkt. Die allseitige Anerkennung des moralischen Universalismus - also des Verbots einer moralischen Zweiteilung der Welt - war ja nicht nur die moralische und legitimatorische Grundlage der antikolonialen Befreiungsbewegungen ebenso wie innergesellschaftlicher Emanzipationskampagnen, sondern sie bildete auch den selbstverständlichen und konkurrenzlosen Legitimationsrahmen für die Politikentwürfe beider Lager im Zeitalter der Systemkonkurrenz: Weder der kapitalistische Westen noch der sozialistische Osten hätte es sich leisten können, Politik anders als im Horizont des moralischen Universalismus zu formulieren.

Es ist eben dieser Nachkriegskonsens eines nicht hintergehbaren moralischen Universalismus, der in den Argumentationen von Robert Kagan zur Disposition gestellt wird. Seinen Vorschlag, das Prinzip des moralischen Universalismus durch ein Bekenntnis zum Prinzip der Doppelmoral, also der moralischen Zweiteilung der Welt, zu ersetzen, führt Kagan über Argumente des Blair-Beraters Cooper ein, der diese Revision der moralischen Basis von Politik für Europas vorrangige Aufgabe hält. Die Herausforderung bestehe "darin, sich an den Gedanken der Doppelmoral zu gewöhnen". "Im Umgang miteinander", so der Vorschlag für die neue Grundnorm der Weltpolitik, "halten wir uns an Recht und Gesetz, doch wenn wir im Dschungel agieren, müssen wir uns nach den Gesetzen des Dschungels richten".(13)

Überdeutlich signalisiert der Rückfall in die Bilderwelt primitiver Rechtfertigungen des Kolonialismus - ebenso wie der originalsprachliche Gebrauch hochsymbolischer und epochaltypischer Begriffe wie "Machtpolitik" und "Blitzkrieg" oder der Rückgriff auf einen Denkstil, der zu vorbehaltlosen Freund-Feind-Strukturierungen der politischen Welt zwingt - den Wunsch, Europa möge zu einem politischen Selbstverständnis zurückkehren, welches weder durch die Massaker des 1. Weltkrieges, noch durch Auschwitz oder den deutschen Vernichtungskrieg im Osten oder die kolonialen Unterdrückungspraxen und Befreiungskämpfe berührt ist. Was von Blair-Berater Cooper als rückwärtsgewandtes Lernprogramm für Europa formuliert wird, beschreibt, so Kagan, "die Gegenwart Amerikas".(14) Und weil Europa bislang nicht bereit ist, im Umgang mit der außereuropäischen Welt, wie der von Kagan zitierte Cooper unverblümt sagt, "auf die raueren Methoden einer früheren Epoche zurück(zu)greifen - Gewalt, Präventivschlag, Täuschung und was sonst noch notwendig sein mag", müssen die Vereinigten Staaten, in der Logik Kagans dies umso mehr: "Sie sind gezwungen, die Einhaltung gewisser internationaler Abkommen zu verweigern, die ihre Fähigkeit, in Robert Coopers Dschungel erfolgreich zu kämpfen, beeinträchtigen könnten. <...> Sie müssen mit einer Doppelmoral leben" - die aber, wie Kagan hervorhebt, nicht nur Last, sondern Sendung ist, weil sie "unter Umständen das beste- und vielleicht sogar das einzige - Mittel ist, um den Fortschritt der Menschheit zu befördern".

Citoyen bleiben oder Untertan wieder werden?

Dass die Lizenz zur Doppelmoral nicht nur gelegentlich und verlegen, sondern in aller Offenheit und systematisch in Anspruch genommen und praktiziert wird, unterscheidet die Politik der Bush-Administration von der ihrer nicht minder mächtigen Vorgänger so deutlich, dass in der Tat von einem neuen Politikstil gesprochen werden muss. Wenn Wechselseitigkeit nicht mehr als selbstverständliche Grundlage aller rechtlichen und politischen Beziehungen anerkannt ist (wie sehr auch in einzelnen Handlungen dagegen verstoßen werden mag), sondern als Gunst des Mächtigen selektiv und von Fall zu Fall nur gewährt wird, zerbricht der bisherige regulative Bezugsrahmen von Politik. Dieser nach dem 11. 9. und insbesondere mit dem Irak-Krieg demonstrativ herbeigeführte Politikwandel wirkt auf allen Ebenen des politischen Prozesses, nicht nur auf der verhältnismäßig hell ausgeleuchteten Bühne der internationalen Politik. Offenbar soll sich der gewollte Wandel in zwei Richtungen vollziehen: von oben nach unten und von partizipativ zu autoritär. Auch wenn seine Autoren sich erklärtermaßen nur für die "Staatenwelt" interessieren, so betrifft das neokonservative Projekt einer autoritären Restrukturierung auch die "Gesellschaftswelt" (Czempiel)(15); was auf der Ebene der Internationalen Beziehungen als Angriff eines imperialen Unilateralismus auf den Multilateralismus völkerrechtlich geordneter Beziehungen beschreibbar ist, stellt sich aus der Perspektive staatlicher Akteure mit der Aufkündigung eines partnerschaftlichen Beziehungsmusters durch die Supermacht als nötigende Wahl zwischen Gefolgschaft und Stigmatisierung dar. These dieses Essays ist, dass darüber hinaus das Konzept einer moralischen Zweiteilung der Welt, der Unterscheidung von Drinnen und Draußen, Freund und Feind als Matrix aller politischer Beziehungen auch die Individuen als Subjekte der politischen Willensbildung innerhalb der Staaten betrifft und sie vor die Wahl zwischen Gefolgschaft und Teilhabe, Anpassung und Widerstand stellt, also vor die Frage, ob sie "citoyens" bleiben oder "Untertanen" wieder werden wollen.

Es ist ja die von Kagan aufgerufene Welt der deutschen Machtpolitik, die auch das Paradigma der subjektiven Gestalt des Machtstaats, den "Untertan", hervorgebracht hat, dessen meisterhafte satirische Beschreibung durch Heinrich Mann sich so weitgehend mit der Wunschvorstellung der kaiserlichen Elite deckte. In der erzählenden Analyse des autoritären Charakters als der individuellen Passform der machtstaatlichen Ordnung zeichnet Mann den "Untertan" eben nicht nur als ein Resultat von Erziehung und Milieu, sondern auch als sich ständig erneuerndes Produkt der öffentlichen Repräsentation von Macht. In dieser Welt bildeten nicht Diskurse gesellschafts- oder klassenbezogener Selbstverständigung, sondern der Kult autoritärer, selbstbezüglicher Macht das primäre Medium politischer Sozialisation. Deren überwältigende Wirksamkeit trat nicht nur im "Geist von 1914" zutage, der begeistert vollzogenen kollektiven Selbstentmündigung; in der "Erfindung der Volksgemeinschaft" aus dem "Geist von 1914"(16) schuf sie zugleich den Rahmen eines bis 1945 dominanten subjektiven politischen Selbstverständnisses der unbedingten völkisch-nationalen Einordnung, an deren mentaler Gewalt die Weimarer Republik scheiterte und aus der individuell schließlich nur um den Preis der Flucht, der Freiheit oder des Lebens zu entkommen war.

Für den deutschen Machtstaat war das Einverständnis der Subjekte in ihre politische Entmächtigung Bedingung seiner Erhaltung und seiner Durchsetzungskraft. Mit diesem Machtstaat war Demokratie, wie sein scharfsinnigster Theoretiker, Carl Schmitt,(17) herausarbeitete, nur als akklamative Demokratie eines homogenen Volkskörpers, also tatsächlich als akklamativ legitimierter Führerstaat vereinbar, keineswegs aber als Arena gesellschaftlicher Interessen- und politischer Meinungskämpfe. Während akklamative Verhältnisse gleich welcher Art von der Bereitschaft der Subjekte leben, ihr Urteilsvermögen in der Homogenität ethnischer, kultureller oder nationaler Gemeinschaften aufzulösen oder sich als Untertanen dem "großen Ganzen" unterzuordnen, wie Heinrich Manns Protagonist Diederich Heßling, ist das Urteilsvermögen der Subjekte und deren Teilnahme am Meinungskampf die Existenzbedingung einer Demokratie, die die politische Form der Selbststeuerung von Gesellschaft sein will.

Die Differenz zwischen tendenziell identitärer und pluralistischer Demokratie lässt sich auch im Hinblick auf die Perspektiven beschreiben, aus denen die Welt wahrgenommen und beurteilt wird. In der Arena der Interessen- und Meinungskämpfe können sich grundsätzlich alle Sichtweisen zur Geltung bringen, und unter der regulativen Zentralidee der Wechselseitigkeit können sie ihre Beachtung einfordern und ggf. einklagen. Identitäre Herrschaftsmodelle hingegen sind in dem Maße stabil, wie es gelingt die Bürger auf die Perspektive der Herrschaft als alternativlose Zentralperspektive der Weltwahrnehmung und deren Erhaltung zu verpflichten.

Parolen wie "Deutschland über alles" oder "America first" drücken eben den identitären Anspruch des Perspektivenvorrangs des nationalen, machtstaatlich wahrgenommenen Interesses aus. Funktioniert die einvernehmende Kraft solcher perspektivischen Verpflichtung, so reduziert sich der Spielraum von Kritik auf die Marge an Effizienz, mit der das nationale Interesse verfolgt werden mag.

Ein eindrucksvolles Beispiel dafür bietet der Aufsatz des renommierten amerikanischen Politikwissenschaftlers Joseph Nye zur Situation "After Saddam".(18) Seine Kritik an der Politik der Bush-Administration bleibt vollständig innerhalb des Horizonts der Weltmachtpolitik aus nationalem Interesse, ja, er legt Wert darauf zu betonen, dass der Perspektivpunkt, aus dem er urteilt, kein anderer ist als der der Zentralperspektive nationaler Weltmachtpolitik. Deren neuen Grundriss, die Nationale Sicherheitsstrategie vom Sept. 2002,(19) begrüßt er einschließlich der Ermächtigung zu Prävention oder Präemption nachdrücklich als die richtige Antwort auf die Weltlage nach dem 11. 9. 2001. "But the administration has still not settled how to implement the new strategy most effectivily."(20) Nye empfiehlt der Regierung, die irrigerweise das Notwendige, nämlich militärische Lösungen, schon für das Zureichende halte, den ergänzenden Gebrauch von "soft power" ("moralische Eroberungen machen", hieß das übrigens in der politischen Sprache des deutschen Kaiserreichs), damit "others want what the United States wants". Wie schon im niedlichen Begriff "soft power" kategorial von Macht Verschiedenes, ja ihr Entgegengesetztes - Legitimität, Recht, Öffentlichkeit, Argumentation - der Macht kategorial einverleibt, als andere Version von Macht betrachtet wird, so lassen die andeutenden Konkretisierungen Nyes keinen Zweifel daran, dass an nichts anderes als an instrumentalisierende Handhabungen aus der Perspektive machtstaatlicher Weltpolitik gedacht ist.

Repräsentation von Macht und die Grammatik der Nicht-Anerkennung

Wer allerdings an kommunikativ und öffentlich erzeugter Geltung als eigentlicher Quelle legitimer Politik festhält, wird zu einer anderen Diagnose als der einer fehlerhaften Anwendung eines richtigen Konzepts kommen. Allein die Fülle von Handlungen der US-Regierung, die, zurückhaltend gesagt, kommunikativ irritieren, drängt mittlerweile zu der Frage, ob es sich statt um Ungeschicklichkeiten und Unterschätzungen im Bereich der "soft power" nicht um den systematischen Versuch handelt, eben diejenigen Sphären zu ruinieren, in denen rechtsförmig oder argumentativ öffentliche Geltung erzeugt wird. Die Sphären des Rechts und der argumentierenden Öffentlichkeit stehen einer entgrenzten Machtpolitik ja in zwei Hinsichten im Wege: Sie implizieren erstens die Anerkennung von Wechselseitigkeit, schließen Doppelmoralen also strukturell aus, und sie bilden zweitens ein Forum wirkungsvoller Kontrolle der Macht durch "citoyens" und gesellschaftliche Kräfte.

Diese weitreichende Annahme braucht sich nicht allein auf die offene Missachtung von Völkerrecht und UN im Zuge des Irak-Kriegs zu stützen. Auch die Verweigerung elementarer Rechte für die Gefangenen in Guántanamo (und vermutlich an weiteren Orten) und deren demonstrative menschliche Entwürdigung durch Käfighaltung und übergestülpte Kapuzen wie umgekehrt die weitgehende Freistellung amerikanischer Soldaten und Agenten von rechtlicher Verantwortung können nicht als Folge bloß situativer politischer Handlungsweise gedeutet werden. Gleiches gilt, wie zu zeigen ist, für die öffentliche Präsentation der US-Politik: Sie ist theatralische Inszenierung von Macht und ironische Verweigerung von Konsistenz.

"Auf dem Pferd dort, unter dem Tor der siegreichen Einmärsche, und mit Zügen steinern und blitzend, ritt die Macht", heißt es in Manns "Untertan",(21) und wer sähe heute nicht in einem parallelen Film Bush und Blair zur Pressekonferenz schreiten, leicht gegeneinander versetzt, ebenfalls "blitzend" und mit angewinkelten Armen, die Hände optimal zum imaginären Halfter. "Sie haben den Film ‚High Noon' gesehen? Wir sind Gary Cooper", sagt Donald Kagan, Vater von Robert und einer der neokonservativen Doyens.(22) Der kaiserliche Schauspieler Wilhelm II schuf noch selbst ein Leitbild aggressiver Männlichkeit, Bush (und Blair) besetzen als Schauspieler des Schauspielers das Körperbild des Westernhelden, dessen sportive Bereitschaft zu töten die Dinge wieder unter Kontrolle bringt. Alle Gründe für den Irak-Krieg, meint Norman Mailer, laufen schließlich auf einen hinaus: die Moral der sozialen Schlüsselgruppe, des weißen amerikanischen Mannes, zu heben.(23) "Wir können nur Vermutungen darüber anstellen, worin die Agenda unserer Regierung besteht. ... Wir haben wirklich keine Ahnung."(24) Die Ratlosigkeit Richard Rortys verdankt sich einer beispiellosen Distanz zwischen Tragweite der Handlung und Dürftigkeit der Begründung. Einen Krieg zu führen, der für jedermann offenkundig den Tatbestand eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges erfüllt, setzt, so sollte man meinen, wenn man sich überhaupt dazu entschließt, starke und beweissichere Gründe voraus und die Gewissheit, dass ihre Richtigkeit sich schließlich zweifelsfrei und für alle sichtbar erweisen wird. Nichts davon, wie bekannt, im Fall des Irak-Kriegs. Jeder angeführte "Beweis" konnte von kompetenter Seite sofort bezweifelt oder sogar widerlegt, jede politische Begründung mit starken Argumenten in Frage gestellte werden.

Aus der Perspektive der US-Regierung war die Frage von Beweisen, die öffentlich standhalten könnten, freilich irrelevant. Denn die Pointe des Handlungsrahmens, den sie sich in NSS 2002 geschaffen hatte und für dessen Anwendung auf den Irak die Resolution des Kongresses v. 10./11.10.2002 (25) der Regierung freie Hand gegeben hatte, bestand ja nicht nur darin, dass der Begriff der "Präemption" "von der Existenz einer unmittelbaren Bedrohung"(26) entkoppelt wurde. Der Begriff der "Bedrohung" selbst, als alles entscheidendes Kriterium, wird aus der ‚Sichtbarkeit', der Öffentlichkeit, in der Wahrnehmungen und Gründe geprüft werden könnten, in den rechtfertigungsfreien Raum der Bedrohungswahrnehmung der Herrschaftszentrale zurückgenommen. Dass dies damit begründet wird, dass terroristische Angriffsvorbereitungen ihrer Natur nach eben nicht sichtbar seien, macht die Sache schlimmer, weil damit der Unterschied zwischen terroristischer und staatlicher Gewalt eingeebnet wird, der ja in der Bindung an Recht und Verfahren, also in der öffentlichen Kontrolle staatlicher Gewalt besteht. Konflikttheoretisch gesehen installieren die Entgrenzungen von "Bedrohung" und "Prävention" (oder "Präemption" oder, wie es in NSS 2002 auch heißt, "antizipatorischer Selbstverteidigung") eine Spirale von Verdacht und militärischer Prävention, in der Handlungsfreiheit ständig in Handlungszwang umschlagen kann. Demokratietheoretisch betrachtet fixiert NSS 2002 ein Herrschaftskonzept, welches sich von der Last öffentlicher Rechtfertigung sogar äußerster Formen staatlicher Gewalt weitgehend befreit.

Aus der Perspektive dieses Konzepts gingen die Bush-Administration (und die Regierungen der Kriegs-Koalition) mit den Forderungen nach Beweisen und öffentlich standhaltenden Kriegsgründen, wie sie von den konkurrierenden Agenden der Irak-Politik der UN, den Normen des Völkerrechts und diskutierender Öffentlichkeiten ausgingen, gelassen bis demonstrativ verachtend um. Die katastrophalen Flops (27) von der plagiierten, zudem veralteten Diplomarbeit (Blair-Dossier und Powells "Beweis-Präsentation" am 5. 2. 03 vor dem Sicherheitsrat) über den mittels gefälschter Dokumente erfundenen Urankauf in Niger (Bushs Rede an die Nation 20. 1. 2003, wobei nicht störte, dass durch eine eigene Untersuchung die Fälschung bereits ein Jahr zuvor aufgedeckt worden war), die fahrbaren "Bio-Waffen-Labors" (Powell - Präsentation v. 5. 2. 03), die sich schließlich als meteorologische Einrichtungen erwiesen bis zu den angeblich binnen 45 Minuten einsatzbereiten irakischen Massenvernichtungswaffen ( Blair-Dossier v. 24. Sept 03) hinterließen bei ihren Urhebern offenbar weder Scham noch Reue.

Ganz unumwunden gestand der stellvertretende US-Verteidigunsminister Wolfowitz, der als Architekt der amerikanischen Irak-Politik gilt, einige Wochen nach Kriegsende in einem Interview, die Massenvernichtungswaffen des Irak seien keineswegs der wichtigste Kriegsgrund gewesen, sondern aus "bürokratischen Gründen" (!) in den Vordergrund geschoben worden, weil "es der eine Grund war, dem jeder zustimmen konnte".(28) Wolfowitz' Chef Rumsfeld hatte bereits während des Krieges, am 30.3.2003, sein Desinteresse sarkastisch deutlich gemacht ["Wir wissen, wo die Waffen sich befinden, um Tikrit und Bagdad herum, im Osten, im Westen, im Norden und im Süden"(29)], und Präsident Bush ließ seinen Sprecher die kurze Debatte um die Irreführung der Öffentlichkeit hinsichtlich der Massenvernichtungswaffen mit der Bemerkung beenden: "Der Präsident hat die Sache hinter sich gelassen. Und, offen gesagt, der größte Teil des Landes auch."(30)

Es wäre zu kurz gegriffen, das Desaster des nicht auffindbaren Kriegsgrundes auf Pannen sei es der Öffentlichkeits-, sei es der Geheimdienstarbeit oder der wissenschaftlichen Beratung zu schieben. Es ist vielmehr Ausdruck einer Selbstdarstellung von Macht und Machtpolitik, die einer Grammatik der Nicht-Anerkennung folgt. Die provokativen Dethematisierungen einer Frage, die vor dem Kriegsgang mit höchster Wichtigkeit und garadezu existentieller Dringlichkeit ausgestattet worden war, führen unüberhörbar eine Botschaft der Nicht-Achtung mit sich: Den Adressaten wird verweigert, worauf Kommunikation als Verständigung nur aufbauen kann: die Zuerkennung eines partnerschaftlichen Status, der Berechtigung, zu verstehen, Konsistenz und Widerspruchsfreiheit einzufordern, mithin die Bildung eines gemeinsamen Horizonts auf der Grundlage geteilter Regeln der Geltung.

Statt Diskurs und Teilhabe Treue und Gefolgschaft?

Während die nach dem Prinzip der Doppelmoral aus der Sphäre der Wechselseitigkeit Ausgeschlossenen sei es als "Schurkenstaaten" aus dem Geltungsbereich des Völkerrechts hinausdefiniert, sei es als "schlechte Menschen"(31) aus dem Geltungsbereich der Menschenrechte gedrängt werden, indem ihnen die Eigenschaft der mit Rechten ausgestatteten Person abgesprochen wird, zielt die Verweigerung von kommunikativer Wechselseitigkeit insbesondere auf diejenigen, deren rechtlicher Status aus der Perspektive der US-Administration (noch?) nicht in Zweifel gezogen werden kann: die demokratischen Staaten der OECD-Welt und deren Bürger.

Im Umgang mit den Staaten der OECD-Welt hat die US-Administration ihre Verkehrsform ohne viel Federlesens vom (jedenfalls grundsätzlich beachteten) Modus der Partnerschaft auf einen Modus der Gefolgschaft umgestellt. Wer der "Koalition der Willigen" nicht beitrat und sich stattdessen gar für einen selbständig urteilsfähigen Akteur hielt, wie die französische und die deutsche Regierung, kam an den Pranger öffentlicher Entwertung und Verachtung. Insbesondere Frankreich, dessen UN-Politik wesentlich dazu beigetragen hatte, die Begründungsschwäche der amerikanischen Position vor aller Welt sichtbar zu machen, sollte nach dem Sieg "gezüchtigt" und "bestraft" werden.(32) Handlungsleitend im Modus der Gefolgschaft sind bekanntlich nicht Einsicht und Überzeugung, sondern vorbehaltlose Treue gegenüber dem Herrn, dem man "durch Dick und Dünn" ohne eigene Prüfung von Richtigkeit oder Recht folgt. Die atemberaubende Verknüpfung modernster Technologie und beispielloser militärischer Macht mit den Verkehrsformen einer vormodernen sozialmoralischen Ordnung verweist erneut auf den konservativ-revolutionären Doppelcharakter dieser Politik und deren tiefgreifende Folgen: wenn politische Entscheidungen sich nicht mehr in Diskurs und Argumentation rechtfertigen müssen, sondern ihre Geltung durch Gefolgschaft gesichert wird, revidiert dies die Grundregel, der alle politischen Beziehungen bis zu den Teilhabeprozessen der Bürger folgen.

Auf nahezu skurrile Weise schlägt sich dieser Paradigmenwechsel von "Teilhabe" zu "Gefolgschaft" in einer quasi-höfischen Ordnung des symbolischen Zugangs zur Macht nieder, die an die Auszeichnung erinnert, die die Anwesenheit beim Levée des "Sonnenkönigs" bedeutete. Wer wann mit Bush telefoniert hat oder ihm hat die Hand schütteln oder gar - etwa durch ein "presidential drop-in"(33) - für einige Minuten mit ihm die Atemluft hat teilen dürfen wie ein deutscher Nachwuchspolitiker, gilt willigen Medien auch hierzulande als Nachricht über den eigentlichen Stand der Dinge. Andere Register erinnern an die brutaleren Seiten traditionaler Erziehungsverhältnisse. Lob und Tadel, einschließlich der Androhung von "ernsten Konsequenzen" und "Bestrafungen"(34) werden mit der betonten Gewissheit ihrer Anwendung ganz ungebrochen - jedenfalls solange die US-Administration noch glaubte, einen glänzenden Sieg errungen zu haben - in der Manier eines Oberlehrers der Weltgeschichte verteilt. Während Länder wie Spanien, die den Krieg unterstützt haben, so Colin Powell, "beruhigt sein können, weil sie sich auf der richtigen Seite der Geschichte befinden", sollte Frankreich offenbar in eine Art Vorhölle der Schurkenstaaten versetzt werden. Weil "Frankreich keine konstruktive Rolle gespielt" habe, seien "alle Aspekte unserer Beziehungen zu Frankreich" zu überprüfen.(35)

Frankreich und Spanien: Zwei Modelle des Umgangs mit der entgrenzten Macht

Auf andere Weise greift in die Struktur einer Geltung prüfenden und erzeugenden Öffentlichkeit eine Sprechhaltung ein, die ihre Äußerungen stets mit der Botschaft unbestreitbarer Gültigkeit einfärbt. Da sie aus dem Zentrum der Macht kommen, weiß der Hörer ja ohnehin um ihr Gewicht. Neu ist der stets aggressive Nebenton, der mitteilt, dass allein schon der Gedanke des Überprüfens oder Bezweifelns ganz und gar abwegig sei und als feindlicher Akt aufgefasst werde. Die Rhetorik der Alternativlosigkeit und unbestreitbaren Geltung bedient sich vor allem zweier Mittel: des Ausschlusses konkurrierender Perspektiven und der Immunisierung gegen Nachprüfung.

Ersteres ist beispielhaft an den Äußerungen von Condoleezza Rice, der Sicherheitsberaterin des US-Präsidenten, in einem Gespräch mit "Le Monde" zu beobachten.(36) Wie ein Leitmotiv durchzieht ein "je ne comprends pas" oder "L'Amérique ne comprend pas" ihre Aussagen über französische Positionen. Wie kann man der Befreiung des Irak die Anerkennung versagen, Amerika für gefährlicher halten als Saddam Hussein oder sich noch für Arafat interessieren? Die Äußerung des Unverständnisses zieht ihre rhetorische Wirkung aus der Unterstellung einer illegitimen Weltsicht, einer Perspektive, deren Horizonte sich aus der eigenen, richtigen, gar nicht erschließen. Es ist die Pariser Sicht der Problemstellung selbst, die nach Rice in Washington "großes Befremden" hervorgerufen hat. Nun hat Frankreich sich ja gar nicht anders verhalten als es nach der politischen Weltsicht der Neokonservativen, wie sie Robert Kagan so öffentlichkeitswirksam dargestellt hat und wie sie sich aus den strategischen Papieren der Gruppe (37) ergibt, zu erwarten war. Wie der französische Außenminister de Villepin ganz im Einklang mit den Erwartungen Kagans sagte, habe sein Land doch gar nichts anderes getan, als "die Legalität zu verteidigen" und dies werde es unter allen Umständen auch weiterhin tun.(38)

Aus der Perspektive der an ihrer Entgrenzung interessierten Macht ist es keineswegs widersprüchlich, ein Verhalten, welches dem eigenen Denkansatz nach nur logisch ist, dennoch als illegitim zu stigmatisieren. Soll Kommunikation vollständig strategisch, zwecks möglichst ungebundener Handhabung der Macht gebraucht werden, wenn also die Erzielung von Konsens keine Rolle mehr spielt oder nur noch eine punktuelle oder instrumentelle, so liegt es nahe, die Rationalitätsstrukturen von Argumentation und Verfahren zu destruieren, die ja den binden, der sich auf sie einlässt. Der Anspruch, im "Krieg gegen den Terror" präventiv und ohne Bindung an das Recht handeln zu können, zieht ein Kommunikationsverhalten nach sich, welches die Möglichkeit von Kommunikation selbst zerstört: Um nicht doch dem sanften Zwang der Argumente ausgesetzt zu sein, werden schon die Voraussetzungen ihrer Erzeugung aufgelöst: die Wechselseitigkeit der Anerkennung von Perspektiven und die implizite Anerkennung von Nachprüfbarkeits-Standards.

Letzteres zeigt sich im Kommunikationsverhalten der US-Administration und ihrer Verbündeten in zwei charakteristischen Ausprägungen: in der Verweigerung von Konsistenz, also von logischer Stimmigkeit und zeitlicher Festigkeit der eigenen Aussagen, wie sie im Spiel der Kriegsgründe ŕ la carte besonders deutlich und provozierend hervortrat, sowie in dem Anspruch, durch eigene Aussagen Wirklichkeit zu definieren und sie zugleich der Nachprüfbarkeit zu entziehen, indem Beweis- oder Begründungspflichten offensiv negiert werden. Diese Variante einer offensiven Begründungsverweigerung pflegt etwa der spanische Regierungschef Aznar, einer der Eifrigsten in der "Koalition der Willigen" und Initiator des Briefs der Acht, der in der Irak-Frage Europa spaltete. Aznar hat diese Haltung noch im August diesen Jahres, ausgerechnet am Tag des blutigen Anschlags auf die UN-Vertretung in Bagdad, auf die Spitze getrieben. Er weigerte sich mit Hilfe der absoluten Mehrheit des Partido Popular, in einer eigens einberufenen Sondersitzung des spanischen Parlaments zur Entsendung spanischer Truppen in den Irak und ihrer Situation dort Stellung zu nehmen.(39) Die provokative Abweisung schon der Berechtigung von Fragen geht einher mit einer bedenkenlos beanspruchten Definitionsmacht über das, was der Fall ist, ohne Rücksicht auf bekannte Tatsachen, offene Fragen oder ungeklärte Sachverhalte. "Aznar verdrehte vor dem Kongress die Berichte der Inspektoren" fasste El País die Ergebnisse von Recherchen und Textvergleichen zusammen. El País wies nach, dass Aznar rechnerische Differenzen in Zahlenangaben als Beweise für noch vorhandene Massenvernichtungswaffen ausgegeben hat, obgleich die Inspektoren selbst eine solche Interpretation in ihrem Bericht vom 27. 1. 03 ausdrücklich zurückgewiesen hatten.(40) Dieser Nachweis hinderte Aznar keineswegs daran, einen Monat später vor dem Parlament erneut zu behaupten, er habe seine Entscheidung zur Teilnahme am Irak-Krieg auf Berichte der UN gestützt, keineswegs auf - die mittlerweile ja diskreditierten - Geheimdienst-Berichte. Es fiel der spanischen Presse leicht, auch letzteres durch ein entsprechendes Zitat zu widerlegen, in welchem Aznar Anfang Februar die völlige Gewissheit und Beweiskräftigkeit der Geheimdienstangaben in starken Worten unterstrichen hatte.(41) Doch berührt dies einen Politiker wenig, der, gestützt auf eine absolute Mehrheit im Parlament, offenbar darauf aus ist, den von der Supermacht ausgerufenen Krieg gegen den Terrorismus auch im Innern zu einer planmäßigen Destruktion öffentlicher Machtkontrolle und zu einer deutlichen Akzentverschiebung von einer republikanischen zu einer autoritären Version von Demokratie zu nutzen. "Halten Sie ein, José Maria Aznar", hatte Baltasar Garzón, der durch seine Ermittlungsverfahren gegen Pinochet, die ETA und Al Quaida bekannte Ermittlungsrichter, dem Ministerpräsidenten schon vor Kriegsbeginn im März zugerufen. Nie habe er "einen vergleichbaren Grad von Zynismus bei gewissen politischen Führern" wahrgenommen, die jedes Mittel der Demagogie und Manipulation nutzten, um "tiefe Verwirrung in den Köpfen der Bürger" zu stiften, indem sie "mit deren Sicherheit spielen und sie ohne Unterlass einem Bombardement von Lügen und Halbwahrheiten" aussetzten.(42)

Die wichtigsten Waffen der Vielen

Was die leidenschaftliche Intervention Garzóns ausgelöst hat, ist die faktische Negation der Staatsbürger-Rolle in der Regierungspraxis der spanischen wie der US-Regierung. Zu deren Ausübung wäre eben das erforderlich, was diese Regierungen ihren Bürgern verweigern: ein gemeinsamer und verlässlicher Rahmen des Verständnisses dessen, was der Fall ist. Stattdessen, so Garzón, verachten die Regierenden Tag für Tag die, die sie gewählt haben, indem sie sie "zwingen, eine nicht-existierende Realität und einen Stand der Dinge zu akzeptieren, der in allen Stücken durch einen von ihnen hergestellt worden ist, um den Albtraum zu rechtfertigen, den gegenwärtig fast alle Länder der Erde durchleben". Garzón deutet, gewiss nicht zu Unrecht, die Demonstrationen des 15. Februar 2003 nicht nur aus der verbreiteten Sorge um den Frieden, sondern auch als "authentische Rebellion" (ebd.) der citoyens. Was sie am 15. Februar verteidigt haben, so ließe sich hinzufügen, waren nicht nur Friede und internationale Rechtsordnung, sondern auch die Kernvoraussetzung staatsbürgerlichen Selbstbewusstseins: dass es einen nicht antastbaren Bestand an Regeln überindividueller Geltung gäbe, durch die die Urteilsfähigkeit der Subjekte sich auf einen Horizont von Objektivität und Welt beziehen könnte, dem die Regierenden gleichermaßen unterworfen wären.

Die Herausforderungen des weltpolitischen Paradigmenwechsels von "Partnerschaft" zu "Gefolgschaft", von (allseitiger) "Wechselseitigkeit" zu "Doppelmoral", von Geltungsdiskursen zu begründungsfreier Definitionsmacht stürzen also nicht nur das System des internationalen Rechts und der internationalen Beziehungen in eine Krise, sondern auch - am anderen Ende, an der "Basis" - die Staatsbürgerschaft als subjektive Form der Demokratie, also das Vermögen der Individuen, citoyens sein zu können. Auch wenn die Demonstrationen des 15. Februar als Aufbegehren der citoyens gedeutet werden können, auch wenn in den westeuropäischen Ländern Ablehnung und Skepsis gegenüber der Irak-Politik als Exempel der weltpolitischen Herrschaftspraxis der US-Regierung nach wie vor deutlich zu überwiegen scheinen, ist auch im Hinblick auf die subjektiven Voraussetzungen der Demokratie der Ausgang offen, zumal die Erosion des Staatsbürgerverständnisses und der Rückgang der politischen Beteiligung bekanntlich auch andere Quellen haben als die hier diskutierte. Die unverblümte Rückkehr zur "Machtpolitik" und deren offenkundig fragwürdige Folgen haben aber auch - paradoxerweise - die Einsicht gestärkt, dass Auseinandersetzungen um den politischen Gang der Dinge und den erwünschten Zustand der Welt letztlich nicht durch die Mittel der Macht, sondern in den Köpfen entschieden werden. Wer politischer Sozialisation durch Inszenierung und Kult der Macht, also durch die mitgeführte Botschaft, dass Macht keiner anderen Legitimation bedürfe als sie selbst, nicht das Feld überlassen will, wird auf die Stärkung selbstbewusster politischer Diskurse in den Arenen politischer Öffentlichkeit setzen müssen und - im Hinblick auf die Heranwachsenden - auf ein Verständnis von politischer Bildung, die weiß, dass die Erhaltung und bildende Erneuerung rationaler Regeln der Geltung als Voraussetzungen von Machtkritik und eigener Welterschließung die wichtigsten Waffen der Vielen sind.

Fußnoten
  1. Elisabeth v. Thadden, Verkehrte Welt, Die Zeit, 14. 8. 2003. - Honderichs Buch ist durch den Verlag (Suhrkamp) nach einer Debatte um die Sichtweise palästinensischer Selbstmordanschläge mittlerweile vom Markt genommen worden.
  2. Macht und Ohnmacht. Amerika und Europa in der neuen Weltordnung. Berlin 2003
  3. Max Boot, The New American Way of War, in: Foreign Affairs, July/August 2003, After Saddam, S.44
  4. Vgl. etwa Michael Mann, Die ohnmächtige Supermacht, Frankfurt/New York 2003, S. 12 ff.; Ernst-Otto Czempiel, Weltpolitik im Umbruch, München 2002, S. 94ff.; Joseph S. Neye, Jr, U.S. Power and Strategy after Iraq, in; Foreign Affairs, a.a.O., S.63f.; auch Kagan, a.a.O., S. 96ff.
  5. Die Argumentation Kagans wurde dem deutschen Publikum zuerst in dieser Zeitschrift ("Was die vereinigten Staaten und Europa auseinandertreibt", Blätter 10/2002, S. 1194ff.) zugänglich gemacht. Die Stellungnahmen dazu ("Gulliver vs. Liliput" in 11/2002, S. 1345ff.) greifen den für meine Argumentation wichtigen Zusammenhang von Geschichtsbild, Moralhorizont und Bürgerrolle weniger auf. Er wird in diesem und dem folgenden Abschnitt an der Buchfassung des Essays von Kagan entwickelt.
  6. Kagan, a.a.O., S. 7
  7. Vgl. etwa die rhetorische Strategie in "Der Begriff des Politischen", zuerst 1927
  8. Kagan, a.a.O., S. 107
  9. Kagan, a.a.O., S. 66 - 72, Zitate S. 69 u. 72
  10. Ebd. S. 15;
  11. Ebd. S. 110, 98, 103
  12. Vgl. dazu U.K. Preuß: Eher Nietzsche als Hobbes, Blätter, 11/2002, S, 1357f. (vgl. Anm.5)
  13. Kagan, a.a.O., S.86f.
  14. Ebd. S. 88. - Die folgenden Zitate S. 87 u. 117
  15. Vgl. E.O. Czempiel, Weltpolitik im Umbruch, München 2002
  16. Jeffrey Verhey, Der "Geist von 1914" und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg 2000
  17. Vgl. insb. Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, München 1926
  18. Nye, a.a.O. (Anm.4), S. 60 - 73
  19. Vgl. Die nationale Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten von Amerika (NSS 2002) (Auszüge), Blätter f. dt. u. intern. Politik, 12/2002,S. 1505 - 1511
  20. Nye, a.a.O., S. 72 - Das folgende Zitat S. 66
  21. Heinrich Mann, Der Untertan, München (dtv) 1964, S. 47
  22. Franziska Augstein: Amerika für alle. Süddeutsche Zeitung 12./13. 4. 03
  23. Noman Mailer, Por el ego del hombre blanco, El País, 4. 5. 03. - Wiedergaben oder Zitate aus spanischen oder französischen Zeitungen in eigener Übersetzung
  24. Richard Rorty, Kabale und Lüge. Der neue amerikanische Patriotismus, Frankfurter Rundschau, 19. 4. 03
  25. Ermächtigung zur Anwendung militärischer Gewalt gegen den Irak. Gemeinsame Resolution der beiden Häuser des amerikanischen Kongresses v. 10./11. 10. 2002 (Wortlaut), Blätter f. dt. u. intern. Politik, 11/2002, S.1393 - 1397
  26. NSS 2002, a.a.O., S.1509
  27. Vgl. insbes. die Zusammenstellung in Le Monde, 17. 7. 03 ("Cinq questions clčs: ce que Londres et Washington disaient hier, et ce qu'ils reconnaissent aujourd'hui ") und die Überblicks-Artikel in Die Zeit, 17. 7. 03, El País, 17. 7. 03, Frankfurter Rundschau 17. 7. 03, ferner Spiegel, 12/2003, Stern 13/2003 und El País v.3. 6., 9. 7. u. 11. 8. 03
  28. Darmstädter Echo 31. 5. 03
  29. Zit. nach Le Monde, 17. 7. 03
  30. Thomas Kleine-Brockhoff, Die große Säuberung, Die Zeit, 17. 7. 03
  31. So Bush über die Gefangenen in Guantanamo; Frankfurter Rundschau, 19. 7. 03
  32. El Mundo, 24. 4. 03; El País, 24. 4. 03
  33. So Roland Koch; Frankfurter Rundschau 17. 5. 03
  34. El Mundo,24. 4. 03; El País, 24. 4. 03; auch FR 24. 5. 03
  35. El Mundo, 24. 4. 03
  36. "L'Amérique ne comprend pas qu'elle ait été jugée 'plus dangereuse que Saddam Hussein'", Le Monde, 1./2. 6. 03
  37. Vgl. die Zusammenstellung in Le Monde, 11. 4. 03 (Horizont Document: Objectif Saddam)
  38. El País, 24. 4. 03
  39. El País, 20. 8. 03
  40. El País, 11. 8. 03
  41. El País, 11. 9. 03
  42. Le Monde, 11. 3. 03
*Dr. Gerd Steffens ist Professor für Didaktik der Politikwissenschaft an der Universität Kassel. Mitglied der AG Friedensforschung.

Der Aufsatz von Gerd Steffens erschien mit einem anderen Untertitel ("Zur Innenseite des imperialen Unilateralismus") und stark gekürzt in Heft 11 (November) der "Blätter für deutsche und internationale Politik" , S. 1333-1341.



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