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Nichts Neues unter der Sonne? - Die Kriege des 21. Jahrhunderts

Von Peter Strutynski*

Nach den Anschlägen von New York und Washington, so sagt man, sei nichts mehr wie vorher. Die Regierenden hüben wie drüben des Atlantiks ziehen daraus vor allem die eine Lehre: Nun müsse wieder Krieg sein, Krieg gegen den weltweiten Terrorismus, und dieser Krieg werde mit ganz neuen Mitteln geführt und sehr lange dauern. Seit dem 7. Oktober wird Krieg gegen Afghanistan geführt. Schon der gewaltige Truppenaufmarsch, der dem Krieg voranging - es war der größte Truppenaufmarsch seit dem Golfkrieg, wenn nicht sogar seit Ende des Zweiten Weltkriegs -, deutete eher auf eine "konventionelle" Art der militärischen Reaktion hin. Den Warnungen aus der Friedensbewegung und allen Aufrufen zur politischen Besonnenheit zum Trotz nimmt auch der Umfang der militärischen Operationen ähnlich gigantische Züge an wie die monströse Wucht des Terroranschlags selbst.

Die Frage, ob nun ein Zeitalter ganz neuer Kriege eingeläutet sei, sollte indessen nicht ohne Rückbezug auf den historischen Kontext, in dem die Terroranschläge stehen, beantwortet werden. Immerhin muss konstatiert werden, dass sowohl im friedenswissenschaftlichen Diskurs als auch in der politischen Rhetorik schon seit der historischen Wende 1989/91 die alten, "klassischen" Kriege ausgedient und einem neuen Typus von Krieg Platz gemacht zu haben scheinen. Dabei verstand man unter den "klassischen" Kriegen meist zwischenstaatliche Gewaltauseinandersetzungen, die nach den hergebrachten Regeln der Diplomatie (z.B. Kriegserklärung, formale Beendigung des Krieges durch einen Waffenstillstand bzw. einen Friedensvertrag) und der Kriegführung (Anerkennung der Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts) begonnen, durchgeführt und beendigt wurden. Neue Kriege zeichneten sich demgegenüber dadurch aus, dass sie überwiegend innerstaatlichen Charakter besäßen (Bürgerkriege), keinen Regeln mehr gehorchten, außerordentlich gewalttätig seien und den teilnehmenden Parteien (z.B. Warlords) unmittelbaren ökonomischen Vorteil gewährten, sodass diese Kriege die Tendenz haben sich immer wieder selbst zu reproduzieren. Hinzu kommt, dass die Kriegshandlungen häufig keine klaren Grenzen zu terroristischen Aktionen aufweisen.

Sieht man sich das aktuelle Kriegsgeschehen in aller Welt an, so findet man in der Tat zahlreiche Belege für solche "neuen" Kriege: Sierra Leone, Kongo und Sudan als afrikanische "Prototypen", Kolumbien in Lateinamerika, Philippinen, Indonesien, Fidschi und Salomonen in Südostasien und Pazifik sowie einige Länder im Nahen/Mittleren Osten. Selbst in Europa existieren mittlerweile Konfliktregionen, in denen die gewaltförmigen Auseinandersetzungen den Strukturmerkmalen der "neuen Kriege" zum Verwechseln ähnlich sehen: Die Konflikte im Kosovo (1998/99), in Südserbien (2000) und seit dem Frühjahr 2001 in Mazedonien sind in ihrem Kern nichts anderes als Kämpfe um die Verteidigung von ökonomischen Pfründen etwa in Form von monopolisierten Handelswegen für Drogen, Waffen oder Menschen. Dass diese Konflikte zudem von internationalen Akteuren zur Durchsetzung anderer, in diesem Fall politischer und geostrategischer Interessen instrumentalisiert werden, macht sie zusätzlich kompliziert und verdeckt ihren ökonomischen Hintergrund. Doch davon soll weiter unten noch die Rede sein.

Nun gibt es aber auch eine Menge empirischer Belege dafür, dass die "neuen" innerstaatlichen Kriege so neu auch wieder nicht sind. Ich möchte hier sogar die These vertreten, dass in kriegs- und friedenspolitischer Hinsicht die epochale Wende 1989/91, also die Beendigung des "Kalten Kriegs" gar nicht sonderlich dramatisch ausgefallen ist. Als Begründung führe ich einmal die reale Kriegsentwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg an, wobei ich mich im Wesentlichen auf die wissenschaftlichen Ergebnisse der Arbeitsgruppe Kriegsursachenforschung (AKUF), Hamburg, stütze; und zum Zweiten meine ich deutliche Hinweise darauf zu sehen, dass der alte "Kalte Krieg" teils noch gar nicht überwunden ist, teils in neuer Gestalt wieder aufersteht.

Die Kriege in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Zunächst also sollte in Erinnerung gerufen werden, dass die Kriegsentwicklung in den vergangenen 50 Jahren ein erstaunliches Maß an Kontinuität aufweist, die auch von der epochalen Wende 1989/91 nicht grundsätzlich erschüttert wurde. Gemäß der AKUF-Definition sind Kriege "gewaltsame Massenkonflikte", die folgende Merkmale aufweisen:
  1. An den Kämpfen sind zwei oder mehr bewaffnete Streitkräfte beteiligt, wovon mindestens eine Seite aus regulären Streitkräften der Regierung bestehen muss.
  2. Auf beiden (oder mehr) Seiten muss ein gewisses Maß an zentral gelenkter Organisation der Streitkräfte und des Kampfes gegeben sein.
  3. Die Kampfhandlungen weisen eine gewisse Kontinuität auf und die Kriegsparteien operieren nach einer planmäßigen Strategie. (AKUF 2001, S. 10) Terroraktionen wie die vom 11. September 2001 würden aus diesem Grund nicht unter die Kriegsdefinition fallen.
Nach dieser Definition haben zwischen 1945 und 2000 weltweit 218 Kriege stattgefunden. Dabei hatten wir es mit mindestens vier globalen Trends zu tun:
  1. Die Zahl der aktuellen Kriege und militärischen Konflikte hat sich in der Nachkriegszeit stetig erhöht, und zwar pro Jahrzehnt um etwa 10 Kriege durchschnittlich. D.h. in den 50er Jahren wurden im Jahresdurchschnitt 10 Kriege geführt, in den 60er Jahren 20, in den 70er Jahren 30 und in den 80er Jahren waren es 40 Kriege. Die Zahl der Kriege stieg zu Beginn der 90er Jahre - u.a. bedingt durch den Zerfall der UdSSR und des Warschauer Pakts - auf rund 50, um - nach 1993 - wieder auf unter 30 Kriege zu fallen. Seit 1997 ist wieder eine Zunahme kriegerischer Konflikte zu verzeichnen. 1999 und 2000 wurden jeweils 35 Kriege gezählt.
  2. Die meisten Kriege finden nicht mehr in Europa statt, sondern an der "Peripherie", in den Ländern der sog. Dritten Welt Afrikas, Asiens und Lateinamerikas. Während auf Afrika und Asien jeweils 27 Prozent aller Kriege entfielen, fanden im Vorderen und Mittleren Orient (Naher Osten bis zu den ehemaligen Sowjetrepubliken in Zentralasien) 25 Prozent aller Kriege statt. Auf Lateinamerika entfielen 14 Prozent und auf Europa sieben Prozent. Die Metropolen blieben im wesentlichen verschont - was nicht heißt, dass von ihnen, z.B. von Großbritannien, den USA und Frankreich, keine Kriege ausgingen! Unter den vier Staaten, die seit dem Zweiten Weltkrieg am häufigsten Krieg geführt haben, befinden sich die drei hoch entwickelten Industriestaaten und Musterdemokratien Großbritannien, USA und Frankreich (das vierte Land ist Indien). Dann erst folgen mit Irak, Kongo, China und Indonesien Staaten, denen der vorurteilsbeladene zivilisierte Mitteleuropäer schon eher eine inhärente Kriegslüsternheit unterstellt. (Die im Warschauer Pakt organisierten kommunistischen Staaten tauchen übrigens in der Liste der kriegführenden Länder erst auf den hintersten Plätzen auf - so viel zur Legende von der Aggressivität des expansionistischen Weltkommunismus, den es mittels NATO in Schach zu halten galt!) Europa, das Jahrhunderte lang wichtigster Kriegsschauplatz gewesen war und wo die beiden Weltkriege überwiegend stattgefunden haben, hat das Zeitalter des "Kalten Kriegs" relativ friedlich erlebt. Umso größer musste selbstverständlich der Schock ausfallen, als der Krieg nach dem Ende der Blockkonfrontation wieder nach Europa zurückkehrte (Balkan). Das ändert aber nichts daran, dass die Länder und Völker des Trikont am meisten unter der Geißel des Krieges zu leiden haben.
  3. Festzustellen ist auch, dass die Kriege der letzten Jahrzehnte immer weniger Rücksicht auf die Zivilbevölkerung nehmen. Die Zahl der zivilen Opfer bei militärischen Konflikten nimmt sowohl absolut als auch im Vergleich zur Zahl der getöteten Soldaten immer mehr zu. Auch dies ist indessen nicht neu, sondern setzt einen, ich möchte fast sagen: säkularen Trend fort, der in den beiden Weltkriegen in bekannter Weise begründet wurde (vgl. hierzu Woit 1995). Während zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Verhältnis von getöteten Soldaten zu zivilen Opfern noch 8 zu 1 betragen hatte, kehrte sich diese Relation bis zum Ende des Jahrhunderts geradezu um: Auf einen getöteten Soldaten kommen nun acht getötete Zivilisten (Kaldor 2000, S. 18). Nach Angaben von UNICEF sind heute sogar bis zu 90 Prozent der Todesopfer Zivilisten, davon allein 40 Prozent Minderjährige. Im Zeitraum von 1988 bis 1997 sind etwa zwei Millionen Kinder in Kriegen und anderen bewaffneten Konflikten getötet worden, vier Millionen Kinder müssen mit lebenslänglichen Behinderungen leben (IFSH u.a. 1998, S.3)
  4. Die steigende Zahl ziviler Opfer erklärt sich zum Teil daraus, dass moderne Kriege häufig keine zwischenstaatlichen Kriege mehr sind, sondern innerstaatliche Kriege, also Bürgerkriege. Sie dauern nämlich in der Regel viel länger als zwischenstaatliche Kriege. Für fraglich halte ich indessen die auch von der AKUF vertretene These, dass wir es heute und künftig aufgrund der im Zuge der "Globalisierung" an Bedeutung verlierenden staatlichen Grenzen und der Schwächung von Nationalstaaten fast ausschließlich mit solchen innerstaatlichen Kriegen zu tun haben würden (vgl. z.B. Schlichte/Siegelberg 1997). Denn einmal haben auch schon zu Zeiten, als von Globalisierung noch gar nicht die Rede war, vorwiegend Bürgerkriege stattgefunden (z.B. in Form von Sezessionskriegen und von antikolonialen Befreiungskriegen). Von den 218 Kriegen waren 35 Prozent innerstaatliche Antiregimekriege (A-Kriege in der AKUF-Liste), 26 Prozent Sezessionskriege (B-Kriege), sechs Prozent reine Dekolonisationskriege (D), 16 Prozent "Mischkriege" (intern/zwischenstaatlich, A-, B- und "sonstige" E-Kriege) und nur 17 Prozent waren ausschließlich zwischenstaatliche Kriege im traditionellen Sinn (C-Kriege). Zum anderen, und dies wird gern vergessen, finden militärische Konflikte häufig auch mit dem Ziel der Staatenbildung statt. Auf diese Weise können mitunter sogar Bürgerkriege, die als innere Konflikte begonnen haben, die Gestalt zwischenstaatlicher Kriege annehmen (bestes Beispiel hierfür sind die Auseinandersetzungen im früheren Jugoslawien).
Anstatt also ausschließlich auf die Zunahme innerer bewaffneter Konflikte zu schauen, sollten wir unser Augenmerk auf die diesem Trend nicht unbedingt widersprechende Tendenz zur Internationalisierung von (Bürger-)Kriegen richten. Eine solche Internationalisierung kann als Folge kriegsbedingter Migrationen (Flüchtlingsbewegungen) eintreten, die sich nicht an staatliche Grenzen halten und somit Konfliktursachen "exportieren". Sie ergibt sich aber auch infolge militärischen Eingreifens von Drittstaaten, deren politische, territoriale oder wirtschaftliche Interessen (die Reihenfolge darf auch umgekehrt werden) durch den Krieg bzw. durch den erwarteten Kriegsausgang berührt werden. Beispiele hierfür liefern nicht nur die aus dem Kalten Krieg siegreich hervorgegangenen und seither konkurrenz- und beinahe schrankenlos agierenden "Westmächte" (insbesondere die USA und in ihrem Schlepptau weitere NATO-Staaten), eine solche Internationalisierung findet auch statt in Konflikten, die als "klassische" Bürgerkriege begonnen haben mögen und in die benachbarte Staaten mit zum Teil vergleichbaren Strukturen und Problemen hineingezogen werden oder sich hineinziehen lassen (z.B. Ruanda, Uganda, Kongo, Simbabwe, Sierra Leone, Liberia). Schließlich kann auch von einer Internationalisierung terroristischer Aktivitäten gesprochen werden.

Die Unvollständigkeit der Zeitenwende 1989/91

Die von Außen unterstützte Implosion der sozialistischen Halbwelt, die im November 1989 mit dem Fall der Mauer begonnen hatte und mit der formellen Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer Vertrags 1991 vollendet wurde, hat eigentlich nur aus einer eurozentrischen Perspektive das Ende der Periode des Kalten Kriegs und der Blockkonfrontation besiegelt. In Ostasien und im pazifischen Raum hat der Kalte Krieg - der seit der amerikanisch-chinesischen Ping-Pong-Diplomatie Anfang der 70er Jahre und seit dem Ende des Vietnam-Kriegs 1975 ohnehin etwas entschärft erschien - in Wirklichkeit nie zu existieren aufgehört. Dies hat damit zu tun, dass die Weltmacht USA immer schon in erster Linie mit Leidenschaft eine pazifische Macht war und erst in zweiter Linie eine atlantische. Und hier kommt auf Grund ihres schlummernden ökonomischen Gewichts als potenzieller Widersacher langfristig nur die VR China in Frage. Deren regionale Supermachtambitionen mit einer Reihe ungeklärter Konfliktherde (Streit um Inseln im Chinesischen Meer, Anspruch auf Taiwan) stellen für die reale Supermacht USA natürlich eine wachsende Herausforderung dar. Dass der politische Wind im Fernen Osten rauer wird, hat der Flugzeugzwischenfall Anfang April 2001 schlagartig deutlich gemacht. Die Kollision eines US-Spionageflugzeugs mit einem chinesischen Abwehrjäger über dem Südchinesischen Meer erinnerte fatal an ähnliche hochdramatische Vorkommnisse aus der Blütezeit des sowjetisch-amerikanischen Kalten Kriegs. Ähnlich provokativ für die chinesische Seite verläuft auch die mit gesteigerter Energie fortgesetzte Aufrüstungshilfe für Taiwan. Gleichzeitig verstärken die USA ihre strategische Militärkooperation mit Japan, das immer noch den größten "Flugzeugträger" für die USA, die Insel Okinawa zur Verfügung stellt. Schließlich erneuerten die USA und Australien Ende Juli 2001 den 50 Jahre alten ANZUS-Pakt (Australien-Neuseeland-USA) und erwägen, ihn mit der Allianz USA-Japan-Südkorea zu verbinden. Vorab versprach Canberra, den USA einen noch besseren Zugang zu den australischen Militärstützpunkten zu gewähren.

Neben Taiwan spielt die koreanische Halbinsel eine prominente Rolle in der Kontinuität des "Kalten Kriegs". Auch die "Sonnenscheinpolitik" des vergangenen Jahres, für die der südkoreanische Präsident Kim Dae Jung sogar den Friedensnobelpreis erhielt, kann nicht darüber hinweg täuschen, dass die Beziehungen zwischen den beiden koreanischen Staaten und somit auch zwischen Nordkorea und der südkoreanischen "Schutzmacht" USA sozusagen strukturell schlecht sind. Die USA nutzen das ominöse Raketenprogramm Nordkoreas sowohl zur Disziplinierung des südkoreanischen Partners als auch zur Rechtfertigung eines auf die Region bezogenen Raketenabwehrsystems TMD (Theater Missile Defence), ein japanisch-amerikanisches Gemeinschaftsprojekt. Der Besuch des südkoreanischen Präsidenten in Washington Anfang März 2001 markiert die Rückkehr zur Politik der Konfrontation mit Nordkorea, worauf Pyöngyang umgehend mit der Absage des im Mai vorgesehenen innerkoreanischen Ministertreffens reagierte. "Kalter Krieg" also wie gehabt! Interessanterweise scheinen die europäischen Staaten, die das Ende der (europäischen) Blockkonfrontation schon weitgehend verinnerlicht und fälschlicherweise universalisiert haben, auch gegenüber Nordkorea in neuen Kategorien zu denken. Jedenfalls nahm sogar die Bundesrepublik Deutschland eine Woche vor dem Besuch Kim Dae Jungs in Washington diplomatische Beziehungen zu Nordkorea auf. Der Ostasien-Experte aus dem Deutschen Institut für Internationale Politik sah in beiden Ereignissen "weitere Indizien für die Auflösung jener Interessengemeinschaft aus Amerikanern, Südkoreanern, Japanern und Europäern, die bis Ende der 90er Jahre die Grundlage für westliche Koreapolitik war". (Möller 2001, S. 1)

Bestehen einerseits noch überkommene Strukturen des Kalten Kriegs fort mit der Tendenz sich wieder zu verfestigen, so ziehen gleichzeitig neue Strukturen eines "Kalten Kriegs" am Horizont auf. Eine neue Spaltung des Kontinents, vor welcher der prominente Friedens- und Konfliktforscher Johan Galtung schon seit Jahren warnt, droht aus zwei Richtungen: Einmal von der Osterweiterung der NATO und zum anderen von der Osterweiterung der Europäischen Union. Beide Prozesse sind mittlerweile so miteinander verzahnt, dass es fast so aussieht, als führe die Teilnahme an der EU nur über eine Mitgliedschaft im Militärbündnis. Das hat einerseits seinen guten Grund darin, dass die ökonomische und soziale Integration höchst heterogener Volkswirtschaften ungleich schwieriger ist und entsprechend länger dauert als die Einpassung in einen Militärpakt. Andererseits spiegeln sich in der vorauseilenden militärischen Integration mittel- und osteuropäischer Staaten in die NATO auch widersprüchliche Interessen der USA auf der einen und Kontinentaleuropas auf der anderen Seite. Während die USA daran interessiert sein muss, die territoriale Ausdehnung der von ihr dominierten NATO bis an die Grenzen Weißrusslands und Russlands aus geostrategischen Gründen voranzutreiben, setzen die Europäer vor allem auf die Herstellung eines großen europäischen Binnenmarktes als einem ökonomisch-politischen Korrektiv gegenüber den Vereinigten Staaten und der ostasiatischen Wirtschaft (Japan, ASEAN-Staaten, China). Der zeitliche Vorsprung der NATO-Osterweiterung vor der EU-Integration sichert den USA ihre traditionelle Führungsrolle in Europa, d.h. inmitten des potenziellen Konkurrenten im weltweiten Wettbewerb um Rohstoffe, Märkte und Renditen.

Neue Kriegführung: Ersetzt der Hacker den Soldaten?

In den letzten Jahren wurde ein neuer "Kriegsschauplatz" entdeckt: Der Computerkrieg oder Cyberwar, auch information warfare oder einfach "virtueller Krieg" genannt. Im Zeitalter globaler Datennetze und universeller Satellitenkommunikation geht eine große Faszination von dem Gedanken aus, künftige Kriege - so sie denn überhaupt sein müssen - würden vorwiegend im "virtuellen" Raum der Datennetze, im "Cyberspace" geführt. Denn jede technologische Basisinnovation habe bisher auch das Kriegshandwerk um eine neue Variante bereichert. Im vergangenen Jahrhundert waren es zweifellos die Entwicklung der Luftfahrt und die Erfindung der die Menschheit bedrohenden Atomwaffen, die der Kriegführung ihren Stempel aufgedrückt haben. Heute sind es die Versuche, den Weltraum für militärische Zwecke zuzurichten (etwa mit satellitengestützten Raketenabwehrsystemen), oder eben die Anstrengungen, die Computertechnologie in einem umfassenden Sinn in den Dienst des Militärs zu stellen.

Wegen der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten der Digitalisierung erscheinen den Auguren dieser neuen, revolutionären Art Kriege zu führen, die Kriege der Zukunft in vierfacher Hinsicht neu (vgl. zum Folgenden Baumann 1998):
  1. Der effektive Einsatz modernster Informations- und Kommunikationstechnologien (IuK) wird immer entscheidender für den Ausgang eines Konflikts. Im NATO-Jargon spielt das Kürzel C3I eine große Rolle, wobei C3 für Command, Control und Communication und das I für Intelligence steht.
  2. Der Einsatz computerisierter IuK-Technologien mag auch zur Potenzierung der Kräfte führen, mit denen man dem Feind entgegentreten kann. Die Absicht ist es, mit weniger Truppen- und Waffeneinsatz eine höhere Wirkung zu erzielen, wozu "smart bombs", präzise Lenksysteme oder sich selbst steuernde Munition beitragen sollen.
  3. Auch die zivile Welt des Cyberspace, die sich durch eine nahezu globale Vernetzung von Computern auszeichnet, wird immer abhängiger vom reibungslosen Funktionieren der Technik. Damit werden sie aber auch anfälliger und können Ziele für militärische Angriffe werden.
  4. Schließlich verwandelt sich - der herrschenden Lesart zufolge - das Militärische selbst. Die "Waffen" des information warfare benötigen keine Armeen, die Gegner können auf allen Schauplätzen auftauchen.
Werden also künftig Computerfreaks und Hacker den Soldaten, ja, ganze Armeen ersetzen? Erledigt sich langfristig sogar der herkömmliche Krieg mit all seinen Schrecken und Leiden für die Menschen von selbst? Die bisherigen "Testläufe" informationsgestützter moderner Kriege geben kaum Anlass zu solchen Hoffnungen.

Vielen - auch den Gurus des information warfare, den Zukunftsforschern Aldi und Heidi Toffler - galt ja schon der 2. Golfkrieg (1991) als Wendepunkt in der Geschichte der Kriegführung. In Wahrheit handelte es sich um einen "dualen Krieg": einer Mischung aus modernem Krieg nach allen Regeln satellitengestützter Kommunikationstechnik und computerisierter Logistik und "altem" Krieg, der auf die physische Vernichtung des Gegners (einschließlich der Zivilbevölkerung) zielte. Nun hat dieser Krieg vor zehn Jahren stattgefunden. Der neuerliche Waffengang der USA und Großbritanniens gegen den Irak vom 17. bis 20. Dezember 1998 war nicht weniger spektakulär, was den Einsatz neuester IuK-Technologien und "intelligenter" Waffensysteme betrifft. Von weniger Waffen und Munition (die sich aus dem Dogma von information warfare ergeben müssten) war allerdings nicht die Rede. Im Gegenteil: Im viertägigen 3. Golfkrieg wurden mehr Raketen und Bomben auf Ziele im Irak abgefeuert als im sechswöchigen 2. Golfkrieg 1991. Die von den USA veröffentlichte Zahl von 1.600 getöteten Irakis dürfte im Interesse des geschönten Bildes von den "chirurgischen" Schlägen gegen die militärischen Kommandostrukturen viel zu niedrig angesetzt sein. (Saddam Hussein gab keine Opferzahlen bekannt, weil es für ihn darum ging, das Bild des unbesiegbaren und unverwundbaren "Helden" in der eigenen Bevölkerung und in der arabischen Welt aufrechtzuerhalten.).

Für die US-Administration begann das Zeitalter des Cyberwars aber eigentlich erst mit dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien 1999. Hier konnten die US-Militärs - die rund 90 Prozent aller Militäroperationen selbst erledigten - ihre Doktrinen und neuen elektronischen Waffen umfassend testen. Ralf Bendrath nennt vier Kennzeichen dieses Krieges, die für ihn auch als "paradigmatisch für die Informationskriege der Zukunft gelten" würden (vgl. zum Folgenden Bendrath 2000, S. 137 f):
  1. Der Krieg war nicht allein auf die Kriegsparteien (NATO/UCK auf der einen, Jugoslawien auf der anderen Seite) beschränkt, sondern rief ganze Heerscharen von Hackern auf den Plan, die sich "virtuelle Gefechte im Internet" lieferten, wobei Webseiten "gecrackt und "elektronische Angriffe" auf militärische Einrichtungen versucht wurden. Damit wird das "Konfliktgemenge ungleich vielfältiger als in herkömmlichen Kriegen" und ist auch mit internationalen Abkommen kaum noch kontrollierbar.
  2. Angeblich ist die US-Luftwaffe erfolgreich in die Boden-Luft-Kommunikation der jugoslawischen Flugabwehr eingedrungen und hat ihr "falsche Ziele auf die Beobachtungsschirme" gespielt - ein Quantensprung in den Techniken des "Tarnens und Täuschens".
  3. Die psychologische Kriegführung erlebte einen gewaltigen Entwicklungsschub: Die Palette reichte von extra für den Kosovo-Einsatz aufgerüsteten Flugzeugen, die die Zivilbevölkerung und die kämpfenden (jugoslawischen) Truppen am Boden mit "Nachrichten" und Musik versorgten, bis zu einem professionellen Management der Medienarbeit, die aus der Kunst besteht, den Nachrichten die gewünschte "Interpretationsrichtung" zu geben (das so genannte "Spinning"). Bendrath: "Das Design des Krieges, so könnte man sagen, wird immer wichtiger."
  4. Ein schwacher Trost: Erstmals wurden die neuen Medien "systematisch und umfassend" auch von der Antikriegsbewegung genutzt. Über das Internet konnte man - weltweit - alternative Informationen verbreiten und eine Gegenöffentlichkeit schaffen. - Leider waren die Erfolge eher bescheiden.
Schon an dieser Auflistung sieht man, dass es sich beim information warfare nicht um einen grundsätzlich "neuen Krieg" handelt, sondern um neue technologische Möglichkeiten oder Hilfsmittel, militärische Auseinandersetzungen effektiver zu führen. Es besteht keinerlei Anlass, die Gefahren eines Krieges im Informationszeitalter zu verharmlosen. Kriege werden, auch wenn sie sich der neuesten Errungenschaften auf dem Gebiet der elektronischen Aufklärung und Logistik als Mittel bedienen, immer darin bestehen, den Gegner letztlich auch physisch zu vernichten. Und wir werden uns noch auf lange Zeit mit dem Problem auseinandersetzen müssen, dass die modernen Kriege in aller Welt vorwiegend mit konventionellen Waffen - die hochmodern sein können - ausgetragen werden. High-Tech-Kriege ŕ la 2. oder 3. Golfkrieg sind weder verallgemeinerbar noch "sauber". Sie sind lediglich von dem Wunsch getragen, beim Gegner möglichst viel Wirkung zu erzielen, selbst aber kein Risiko einzugehen. Deshalb waren Bodentruppen im NATO-Krieg Tabu - der Krieg wurde ausschließlich "aus sicherer Höhe" geführt. Und der Krieg hat aber auch gezeigt, dass die modernsten elektronischen Instrumente weder davor schützen, dass auch hin und wieder die falschen Objekte getroffen werden, noch den Krieg insgesamt "sauberer" oder "humaner" zu machen. Im Gegenteil: Dieser Krieg war gerade ein Musterbeispiel für die verheerende Wirkung, die ferngelenkte Abstandswaffen (Bomben aus großer Höhe abgeworfen, selbstgesteuerte Drohnen, Cruise Missiles u.ä.) weniger beim militärischen Gegner, sondern mehr bei der Zivilbevölkerung anrichten. Die systematische Zerstörung ziviler Infrastruktur (Brücken, Eisenbahnen, Fabriken, Treibstofftanks, chemisch-pharmazeutische Anlagen, Rundfunk- und Fernsehsender usw.) dürfte vollständiger gewesen sein als im zweiten und dritten Golfkrieg. Die materiellen Schäden werden in Jahrzehnten noch nicht behoben sein.

"Alte" und "neue" Kriegsursachen

Das Hauptaugenmerk der friedenswissenschaftlichen Literatur, sofern sie sich überhaupt mit dem Thema Krieg und Kriegführung befasst, richtet sich heute auf die Ökonomie der Kriege. Dahinter verbirgt sich keine an den "Klassikern" Hilferding, Luxemburg oder Lenin orientierte neue Imperialismustheorie, die den imperialistischen Krieg aus der politischen Zuspitzung der Widersprüche imperialer kapitalistischer Mächte und somit aus den Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Ökonomie erklärt, sondern eine weniger ambitionierte Theorie der Wirkungsmechanismen von vielen kleineren und größeren "Kriegsökonomien". Im Grunde genommen geht es darum, schon länger beobachtete Phänomene wie die "Privatisierung" des Krieges durch Warlords (die Unternehmer, militärischer Befehlshaber und politischer Führer in einer Person sind), den Zerfall staatlicher Strukturen oder die Selbstversorgung der Kriegsparteien durch Drogen- oder Diamantenhandel, Schutzgelder oder durch Finanzströme aus der Diaspora angemessen beschreiben zu können. Hierzu gehört auch der wichtige Hinweis auf die zunehmende Bedeutung von Kleinwaffen (das alte Schnellfeuergewehr, Maschinenpistolen und andere Handfeuerwaffen, Landminen). Sie sind - zusammen mit der Tendenz zur Barbarisierung der Kampfhandlungen - hauptverantwortlich für die steigenden Zahlen (para-)militärischer und ziviler Opfer in den gegenwärtigen Kriegen der Welt, wirken also stellenweise wie Massenvernichtungsmittel.

Die inneren Funktionsmechanismen solcher Kriegsökonomien sind noch keine Erklärung für ihre Entstehung. Eine ungefähre Vorstellung von den Ursachen der "neuen Kriege" erlaubt die Beobachtung, dass die teilnehmenden Kämpfer vom Krieg unmittelbar profitieren - gleichgültig auf welcher Seite sie sich befinden, denn selten gibt es "Sieger" und "Verlierer" im herkömmlichen Verständnis von Krieg. Die Teilnahme am Krieg ist für viele junge Männer in Konfliktregionen die einzig möglich erscheinende Existenzgrundlage. "Die moderne reguläre Ökonomie kann die nachwachsende Generationen nicht absorbieren. Daher werden sie in das Niemandsland informeller Ökonomien abgedrängt und stehen als unerschöpfliche Reservearmee (wirtschafts-)kriminellen Akteuren zur Verfügung." (Lock 2001a, S. 33) Selbstverständlich stehen auch Warlords und bewaffnete Clans oder Gangs bereit, und die Waffen stehen dank eines nicht versiegenden Zustroms aus den Waffenschmieden der Metropolen fast ubiquitär zur Verfügung. "In einer Position von Perspektivlosigkeit gewinnt allgemein die Verfügung über Gewaltmittel, z.B. ein automatisches Gewehr, eine außerordentliche Attraktivität. Denn mit einem Gewehr in der Hand erfährt man, dass man von anderen Menschen respektiert wird ... Gewalt mittels Kleinwaffen droht allgemein zum Mittel zu werden, sich gegen den gesellschaftlichen Ausschluss zu wehren, dort wo der Staat nicht mehr in der Lage ist, das Monopol legitimer Gewalt zu gewährleisten." (Ebd.)

Fast sieht es so aus, als würden sich damit die Ursachen für gegenwärtige und künftige Gewaltkonflikte fundamental von den Ursachen vergangener Kriege unterscheiden. War es früher - vereinfacht gesagt - ein Interessenkomplex aus Kapital, Kabinett und Militär (dem der Segen einer missionierenden Kirche nicht fehlte), der zu Kriegsabenteuern drängte, wenn entsprechende Gewinne in klingender Münze oder in politischer Macht winkten, so sind es heute eher die Armen und Ausgeschlossenen, die über die Beteiligung an der kriminellen Kriegsökonomie wenigstens die Brosamen der regulären Ökonomie zu ergattern suchen. Hauptnutznießer bleiben aber auch hier die Warlords, Clanführer und Stammesfürsten sowie die - meist im Hintergrund bleibenden - Händler und Weißwäscher illegaler Waren, die einen Zugang zur oder einen festen Platz in der regulären Ökonomie besitzen. Auf diese Weise werden, um mit Peter Lock zu sprechen - in globalem Maßstab die drei Sektoren der Weltwirtschaft miteinander "verschränkt": Die reguläre, in rechtlichen Bahnen organisierte Ökonomie, die informelle Ökonomie und die als "gewaltreguliertes globales Netzwerk" organisierte "offen kriminelle Ökonomie" (Lock 2001b, S. 10). Wenn man den Nachrichten über die globalen Finanznetze des als Top-Terroristen verdächtigen Osama bin Laden glauben kann, sind er und seine Finanzbeschaffer in allen drei Sphären der Ökonomie zu Hause.

Soziale Schieflagen und Verwerfungen sowie der grundlegende Ausschluss von Besitz (in der Dritten Welt: Landbesitz) sind vielleicht die wichtigste, nicht aber die einzige Quelle gewaltsamer Konflikte. In den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts ist eine fast schon inflationäre Anzahl von Arbeiten erschienen, in denen die globalen Probleme und Herausforderungen des 21. Jahrhunderts beschrieben wurden. Sie stehen alle mehr oder weniger in der Tradition des seinerzeit sensationellen Berichts des Club of Rome über die "Grenzen des Wachstums" (1972). Die in diesen teilweise düsteren und endzeitgestimmten Büchern dargestellten Probleme sind ökologischer, ressourcialer, ökonomischer und sozialer Natur. Und es gibt kaum eine Studie, die nicht mit der "Katastrophe" eines dramatischen Bevölkerungswachstums beginnt. Dort finden ganz distanzlos Vokabeln Eingang wie "Bevölkerungsexplosion", "-druck", "-welle" oder "Bevölkerungsbombe". Nur um dem Vorwurf der Eindimensionalität und des Malthusianismus zu entgehen, werden neben dem Bevölkerungswachstum andere Problemdimensionen angeführt wie die ökologische Belastbarkeit der Erde oder die Endlichkeit oder Begrenztheit des Öko-Systems. So richtig diese Fragestellungen auch sind: Im Zusammenhang mit dem Bevölkerungsproblem geraten sie in ein schiefes Licht. Die Frage heute kann ja nicht lauten: Wie viele Menschen verträgt die Erde?, sondern die Frage muss sein: Wie viel Ressourcenverschwendung und Umweltzerstörung verträgt die Menschheit? Tatsache ist nämlich, dass die Umweltzerstörung nicht in erster Linie von den bevölkerungsreichsten Ländern der Dritten Welt ausgeht, sondern von der verschwenderischen Wirtschaftsweise der hochentwickelten und bevölkerungsarmen Industriestaaten (so z.B. Ulrich 2001, S. 38). Erst eine solche Sicht widersteht der suggestiven Wirkung des in bester Absicht geführten Ökologie-Diskurses, der über den Kreislauf von "Bevölkerungswachstum-Umweltzerstörung-Noch mehr Bevölkerungswachstum" allzu schnell zu den aktuellen und künftigen - bewaffneten - Konflikten vorstößt und deren Ursachen eben doch wieder in der "Dritten Welt" und in deren "Kinderreichtum" verortet - eine zutiefst antihumane Sichtweise. Eine Kriegsursachenanalyse, die das Bevölkerungswachstum in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen rückt, ist in meinen Augen nichts anderes als ökologisch verbrämter Neo-Malthusianismus.

Zu kurz gegriffen schiene es mir aber auch, wenn man Armut, Umweltzerstörung und Ressourcenknappheit als die Kriegsursachen der Zukunft hinstellt. Die armen Teufel in Afrika, die - auf der Flucht vor Dürre, Hungersnot oder Epidemien - hilflos und entkräftet umherirren, zetteln weder Revolten noch Bürgerkriege an. Nein, zu wirklich kriegerischen Konflikten kommt es nur dann, wenn in den Krieg "investiert" wird - Kalaschnikows und G-3-Gewehre müssen auch erst beschafft werden. Und auch vorkriegerische Massenverbrechen wie die vom 11. September 2001 in New York und Washington sind nicht denkbar ohne eine breite Kapitalbasis, die zum Teil aus der kriminellen Ökonomie, zum Teil aber auch aus der regulären Ökonomie gespeist wird. In den Krieg investieren rivalisierende Regierungen, Stammesführer oder mächtige Cliquen dann, wenn es für sie um den Zugang zu wichtigen Ressourcen geht, von deren Erhalt oder Erlangen ihre Pfründen und gesellschaftlichen Privilegien abhängen. Der Kampf um den Zugang zu Trinkwasser beispielsweise (ein großes Problem nicht nur im Nahen Osten) oder zu Öl- oder anderen Energiequellen oder zu anderen wertvollen Rohstoffen wird zwischen solchen organisierten "Interessengruppen" ausgetragen; die Bevölkerungen sind da häufig nur Manövriermasse und Rekrutierungsbasis für bewaffnete Streitkräfte auf der einen oder anderen Seite. Dies ist der Nährboden für das Wirken privater Armeen, die im Dienste ihrer Auftraggeber ohne Rücksicht auf Völkerrecht und Genfer Konvention ihren Job verrichten (vgl. hierzu Ruf 1999). Insofern Transnationale Konzerne oder die Regierungen führender Industriestaaten als klandestine Auftraggeber fungieren, haben wir es heute mit einer veränderten Wirkungsweise kolonialer Eroberungen zu tun. Nicht mehr die territoriale Unterwerfung und Einverleibung fremder Länder, d.h. unterentwickelter Staaten ist das Ziel imperialer Politik, sondern die selektive Kontrolle über lukrative Standorte zur Ausbeutung wichtiger Ressourcen. Das können Ölquellen in Nigeria, das können Diamantenfelder im Kongo sein. Diese Art der "kapitalistischen Landnahme" (Rosa Luxemburg) ist nicht mehr an Kolonien interessiert, sondern an der selektiven Aneignung ihrer verwertbaren "Filetstücke". Diese werden militärisch (mit Privatarmeen) abgesichert, die übrigen Gebiete mit ihren Menschen bleiben außen vor und werden von jeglicher Entwicklung abgekoppelt.

Davon unterscheiden sich scheinbar jene Konflikte, in die sich die westlichen Großmächte mithilfe der NATO direkt einmischen. Hier fließen häufig ökonomische, geostrategische oder politische Motive ineinander, auch wenn etwa die ökonomischen Gründe selten sichtbar werden. Die herbei gerufene NATO-Intervention in Mazedonien beispielsweise dürfte zuallererst politisch motiviert sein. Will doch hier die NATO vor der Welt beweisen, dass sie auch auf einem klassischen Feld von UN-Blauhelm-Missionen (freiwillig abgegebene Waffen Einsammeln!) die einzige verlässliche und handlungsfähige Militärmacht ist. In zweiter Linie könnte aber auch Michel Chossudovsky Recht haben, wenn er als Hintergrund für den "heimlichen Krieg" der USA in Mazedonien deren Absicht vermutet, "Amerikas Einflusssphäre in Südosteuropa (zu) festigen" (Chossudovsky 2001). Dieses Ziel dient seiner Analyse zufolge direkt den Ölgiganten BP-Amoco-ARCO, Chevron und Texaco. Ihnen geht es um den "strategischen Transport, Kommunikations- und Ölpipeline-´Korridor` Bulgarien-Mazedonien-Albanien vom Schwarzen Meer zur Adria." Mazedonien liegt dabei am wichtigen Knotenpunkt des genannten Korridors. Mittel zum Ziel ist die Schaffung eines "Flickenteppichs von Protektoraten" auf dem Balkan. Die UCK spielt hierbei lediglich die Rolle eines Gehilfen, für den am Ende möglicherweise die - teilweise - Befriedigung seiner albanisch-nationalistischen Gelüste steht.

Trifft diese Analyse zu, dann wäre zumindest ein Indiz dafür geliefert, dass die "klassischen" Kriegsursachen oder besser: Motive zum Krieg nicht aus der Welt verschwunden sind. Sie dürften im beginnenden 21. Jahrhundert dann wieder fröhliche Urständ feiern, wenn sich die ökonomische Konkurrenz um Ressourcen, Märkte und Renditen zwischen den führenden Industrieländern der Triade (Nordamerika/USA, Europa/Deutschland, Ostasien/Japan) verschärfen wird. Auf jeden Fall sollte man vor lauter "Kriegsökonomie" im Kleinen, die den Fokus auf die privatisierten Kleinkriege in der Dritten Welt richtet und dabei die Politik der großen Mächte aus den Augen verliert (diesen Verdacht hatte ich bei der Lektüre von Kaldor 2000), nicht das Zusammenwirken von Ökonomie und Politik im Großen vergessen. Das Kriegsgeschehen des 21. Jahrhunderts wird vor allem von den Handlungen und Unterlassungen der führenden Weltmächte bestimmt werden. Insofern also nichts Neues unter der Sonne. In den Händen der führenden Industriestaaten und Militärmächte wird es demnach auch liegen, ob wir einem Jahrhundert des permanenten Krieges oder einem Jahrhundert des Friedens entgegen gehen.

Literatur:

Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachen (AKUF)(2001): Das Kriegsgeschehen 2000. Daten und Tendenzen der Kriege und bewaffneten Konflikte. Hrsg. von Thomas Rabehl und Wolfgang Schreiber, Opladen

Alfred Baumann (1998): Bitskrieg. Information Warfare: Krieg im Informationszeitalter. In: c't magazin für computer technik, Heft 18, S. 80-83

Ralf Bendrath (2000): "Information Warfare". Die Militarisierung von Cyberspace und Öffentlichkeit. In: Ralph-M. Luedtke, Peter Strutynski (Hrsg.), Nach dem Jahrhundert der Kriege. Alternativen der Friedensbewegung, Kassel, S. 132-141

Michel Chossudovsky (2001): Die USA auf Kriegspfad in Mazedonien. In: Marxistische Blätter, Heft 5/2001 (erscheint im September 2001). Im Internet: /fb5/frieden/regionen/Makedonien/oekonomie.html

Horst Großmann (1999): Ansichten zur Kriegführung um die Jahrhundertwende. In: Dresdener Studiengemeinschaft Sicherheitspolitik e.V. (Hrsg.), Krieg im 21. Jahrhundert. Neue Herausforderungen für die Friedensbewegung, Dresden, S. 6-21

IFSH-Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, HSFK-Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, FEST-Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (1998): Friedensgutachten 1998, hrsg. Von R. Mutz, B. Schoch und F. Solms, Münster

IFSH-Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, HSFK-Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, FEST-Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (2001): Friedensgutachten 2000, hrsg. Von R. Mutz, B. Schoch und U. Ratsch, Münster

Mary Kaldor (2000): Neue und alte Kriege. Organisierte Gewalt im Zeitalter der Globalisierung, Frankfurt a.M.

Peter Lock (2001a): Stichpunkte zur Ökonomie heutiger Kriege. In: Ralph-M. Luedtke, Peter Strutynski (Hrsg.), Dem Krieg widerstehen. Beiträge zur Zivilisierung der Politik, Kassel, S. 28-34

Peter Lock (2001b): Ökonomien des Krieges, unveröff. Ms., Hamburg, August 2001

Kay Möller (2001): Korea 2001. Neue Konfliktlinien. In: SWP-Aktuell 9, April 2001, S. 1-8

Werner Ruf (1999): Zur Privatisierung von Gewalt. In: P. Strutynski, R. M. Luedtke (Hrsg.), Pazifismus, Politik und Widerstand. Analysen und Strategien der Friedensbewegung, Kassel, S. 16-27

Klaus Schlichte (2000): Kriegsverläufe und Kriegsursachen - Formwandel kriegerischer Konflikte nach 1945. In: Wilhelm Kempf (Hrsg.), Konflikt und Gewalt. Ursachen - Entwicklungstendenzen - Perspektiven, Münster (Schriftenreihe des ÖSFK: Studien für europäische Friedenspolitik, Bd. 5), S. 200-215

Klaus Schlichte, Jens Siegelberg (1997): Kriege in den neunziger Jahren. Formen - Verläufe - Tendenzen. In: Wolfgang R. Vogt (Hrsg.), Gewalt und Konfliktbearbeitung. Befunde - Konzepte - Handeln, Baden-Baden, S. 131-140

Jürgen Scheffran, Wolfgang R. Vogt (Hrsg.)(1998): Kampf um die Natur. Umweltzerstörung und die Lösung ökologischer Konflikte, Darmstadt

Ralf E. Ulrich (2001): Globale Bevölkerungsdynamik. In: Peter J. Opitz (Hrsg.), Weltprobleme im 21. Jahrhundert, München, S. 21-51

Ernst Woit (1995): Zivilbevölkerung als Objekt der Kriegführung. In: Marxistische Blätter, Heft 4, S. 64-70

* Vortrag auf einer Veranstaltung der Friedenswerkstatt Linz (Österreich) am 25. Oktober 2001. Der Beitrag erscheint in gekürzter Form in der Zeitschrift des BdWi "Forum Wissenschaft", Heft 4/2001.


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