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Der Status des Staates im Krieg und in der Nachkriegszeit und die Gefahren für das staatliche Gewaltmonopol

Von Herbert Wulf

Am 9. Februar 2009 wurde der Peter-Becker-Preis für Friedens- und Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg an Prof. Dr. Herbert Wulf verliehen. Das vorliegende Manuskript ist die Rede, die der Preisträger bei der Feierstunde in Marburg hielt. Der Beitrag beruht auf einer Buchveröffentlichung: Herbert Wulf: Internationalisierung und Privatisierung von Krieg und Frieden, Nomos Verlag, Baden-Baden 2005.



Sehr geehrte Frau Vizepräsidentin Krause,
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Vaupel,
Sehr geehrter Herr Professor Wagner,
Sehr geehrter Herr Dr. Becker,
Sehr geehrter Graf Sponeck
Lieber Lothar Brock
liebe Kolleginnen, Kollegen und Freunde
Meine sehr verehrten Damen und Herren!


Für mich ist der heutige Tag, mit der Verleihung des Peter-Becker-Preises für Friedens- und Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg, eine große Ehre. Ich bedanke mich sehr herzlich bei den Verantwortlichen der Universität und des Zentrums für Konfliktforschung, insbesondere bei der Jury, die mir diesen Preis zuerkannt hat. Die Jury wies in ihrer Begründung darauf hin, dass meine Arbeiten über das Thema „Internationalisierung und Privatisierung von Krieg und Frieden“ als preiswürdig angesehen werden, weil damit eines der wichtigsten Themen unserer Zeit angesprochen ist.

Bevor ich einige Ausführungen hierzu mache und meine Besorgnis über den Trend der Privatisierung im Militär und die militärischen Interventionen zum Ausdruck bringe, möchte ich Ihnen mitteilen, dass ich das Preisgeld für zweierlei Zwecke nutzen möchte, die eng mit dem Anliegen des Peter-Becker-Preises verbunden sind:

Die Hälfte werde ich der Zeitschrift Wissenschaft und Frieden spenden, die sich seit nunmehr fast 25 Jahren intensiv – und wie ich meine auch mit Erfolg – um die Vermittlung von Ergebnissen aus dem Bereich der Friedens- und Konfliktforschung an ein breiteres Publikum bemüht hat.

Die restlichen Mittel werde ich nutzen, um in Kürze als Gastwissenschaftler an einem Forschungsprojekt am Australian Centre for Peace and Conflict Studies mitzuarbeiten. In diesem Projekt wird nach Möglichkeiten gesucht, in von Konflikten zerrütteten Ländern nicht immer nur nach staatlich initiierten Konfliktlösungen zu suchen, sondern vor allem die nicht-staatliche Ebene zu stärken.

Meinen herzlichen Dank dafür, dass mir mit der Zuerkennung des Preises diese beiden Möglichkeiten gegeben worden sind.

Nun zum Thema meines Vortrages, den ich überschrieben habe:
Der Status des Staates im Krieg und in der Nachkriegszeit und die Gefahren für das staatliche Gewaltmonopol

Ich möchte als Einstieg von zwei Ereignissen berichten, die keine großen Schlagzeilen gemacht haben, die aber leider typisch für die heutige Situation sind: Mehr als 30.000 Kindersoldaten wurden von der Lord’s Resistance Army – einer brutalen Rebellenarmee in Uganda – in dem 20 Jahre währenden Bürgerkrieg gekidnapped. Die Rebellen verschleppten die Kinder aus ihren Elternhäusern und zwangen sie zu töten und zu foltern.

Die zweite Begebenheit: Matt Mann bewarb sich mit früheren Kameraden aus der Spezialeinheit Delta Forces der US-Armee, als im Jahr 2003 ein Auftrag im Irak ausgeschrieben wurde. Es galt, hochrangige Personen zu schützen, unter anderem den Leiter der damaligen Koalitions-Übergangsverwaltung, Paul Bremer. Die ehemaligen Soldaten gründeten aus dem Nichts die Firma Triple Canopy, die innerhalb von zwei Jahren ihr Auftragsvolumen im Irak auf 250 Millionen US-Dollar steigern konnte. Sie gehört damit zu einer der großen Firmen, die mit „Sicherheit“ – ich zögere in diesem Zusammenhang den Begriff „Sicherheit“ zu verwenden – im Irak profitable Geschäfte machen.

Die erste der beiden Geschichten ist nachzulesen auf der Website des Internationalen Roten Kreuz, die zweite in der New York Times. Beide beschreiben den immer stärker werdenden Trend zur Privatisierung des Krieges und der Sicherheit. Die erste Form – zu der die Rekrutierung von Kindersoldaten, das Morden der Milizen, der Kampf der Warlords um Zugriff auf Schutzgelder oder Rohstoffe, der Waffen-, Drogen- und Menschenhandel des organisierten Verbrechens gehören – lässt sich als Privatisierung der Gewalt von unten beschreiben.

Zahlreiche nicht-staatliche Akteure beteiligen sich an dieser Form der Gewaltanwendung, weil sie eine Regierung – möglicherweise eine korrupte Elite – stürzen, sich gegen Übergriffe wehren oder sich schlicht bereichern wollen. Diese Gruppen sorgen für Unsicherheit und Staatszerfall. Viele Regierungen sind mit ihren Polizei- und Militärstreitkräften nicht in der Lage, Ruhe, Ordnung und Rechtsstaatlichkeit zu gewährleisten. Der schwache oder kaum noch existierende oder zusammengebrochene Staat kann das staatliche Gewaltmonopol nicht durchzusetzen. Dagegen ist die Beauftragung privater Militärfirmen, also das „Outsourcen“ traditioneller militärischer Funktionen, wie es zurzeit vor allem in den USA und Großbritannien praktiziert wird, eine geplante Privatisierung von oben. Der neoliberale Trend zur Privatisierung hat auch das Militär erfasst. In den letzten Jahren mischen immer mehr private Akteure in gewalttätigen Auseinandersetzungen und Kriegen mit.

Hierauf – Irak, Palästina, Afghanistan und Sudan sind derzeit in den Medien besonders präsent – hat der UN-Sicherheitsrat (oder gelegentlich, wie im Falle des Irak eine Koalition der Willigen) zunehmend mit Interventionen unterschiedlicher Art reagiert: Sie reichen von Katastrophenhilfe, über Entwicklungszusammenarbeit bis zu robuster durchgeführten „Friedenseinsätzen“ der Vereinten Nationen und zu völkerrechtswidrigen militärischen Interventionen ohne UN-Mandat. Mehr als je zuvor werden Streitkräfte eingesetzt, um präventiv oder reaktiv tätig zu werden und so Konflikte zu verhindern oder zu befrieden, um Kampfparteien in innergesellschaftlichen Kriegen auseinander zu halten und zu entwaffnen. Grobe Menschenrechts­verletzungen und Völkermord sollen verhindert oder beendet, Demokratie soll etabliert und Nationenbildung unter­stützt werden. Das Militär soll in krisenhaften Situationen stabilisierend wirken.

So löblich diese Absichten auch sein mögen – und tatsächlich gibt es einige Fälle in denen UN-Friedensmissionen erfolgreich eine Konfliktsituation befrieden konnten; die Friedensmission in Osttimor schätze ich so ein – so darf dennoch nicht verschwiegen werden, dass für manche Post-Konfliktprogramme nicht nur altruistische Motive ausschlaggebend sind, sondern auch handfeste politische und wirtschaftliche Interessen.

Eine erste Schlussfolgerung lautet: Das staatliche Gewaltmonopol – so wie es sich nach dem Westfälischen Frieden vor mehr als 350 Jahren in Europa entwickelt hat, in dem der Staat für die Sicherheit der Bürger verantwortlich ist und private Akteure nicht mehr das Recht haben, mit Waffengewalt, sondern nur vor ordentlichen Gerichten, ihr Recht durchzusetzen – dieses Gewaltmonopol, das am Nationalstaat orientiert ist, wird durch drei Tendenzen in Frage gestellt bzw. gefährdet:
  1. durch die Privatisierung von unten: dies ist in den von mir erwähnten Kriegen und Konflikten offensichtlich.
  2. durch die Privatisierung von oben, durch die die staatliche Verantwortung für die Sicherheit der Bürger an private Akteure delegiert wird. Und
  3. durch die Internationalisierung des Krieges mit Interventionen von außen, die sehr selektiv und ohne demokratische Legitimation erfolgen.
Ich möchte auf die beiden letzten Tendenzen, die Privatisierung von oben und die internationalen Interventionen, etwas genauer eingehen, bevor ich dann versuche aufzuzeigen, wie das öffentliche Gewaltmonopol, das eine zivilisatorische Errungenschaft ist, erhalten und weiter entwickelt werden kann.

Der deregulierte Krieg

Zunächst also zur Privatisierung der Gewalt von oben – ich spreche auch in der Sprache der Befürworter der Privatisierung vom deregulierten Krieg.

Für die Streitkräfte, die seit Ende des Kalten Krieges deutlich schrumpften, wird es immer schwieriger, für ihre Kriegs- und Postkonflikteinsätze genügend Soldaten zu rekrutieren. Zunehmend verlässt sich vor allem das US-Militär bei der Ausbildung der Soldaten, der Reparatur und dem Einsatz von Waffen, beim Sammeln von kriegsrelevanten Informationen, beim Verhör von Kriegsgefangenen oder bei der Versorgung der Soldaten in den Kampfgebieten mit Essen und sauberer Wäsche auf die Dienste privater Firmen. Wie Pilze sind hunderte Militär- und Sicherheits-Unternehmen aus dem Boden geschossen – nicht nur in den USA. Zu Beginn des Irakkrieges herrschte eine regelrechte Goldgräberstimmung.

Das Geschäft der Firmen ist die Vorbereitung des Krieges, der Krieg selbst und die Nachkriegsphase; sie rekrutieren kampferprobte Soldaten weltweit. Nicht nur ehemalige Mitglieder der US-Marines oder Delta-Forces, sondern auch kampferprobte Kosovaren, Angehörige der ehemaligen Apartheidarmee Südafrikas, nepalesische Ghurkas der britischen Armee oder russische Kämpfer mit Tschetschenienerfahrung.

Ob im Irak, in der Drogenbekämpfung in Kolumbien, in den Bürgerkriegen im Gebiet der Großen Seen in Zentralafrika, in Sri Lanka oder auf dem Balkan – immer sind diese „Spezialisten“ dabei.

Für diesen Geschäftserfolg gibt es mindestens acht Gründe – militärische, wirtschaftliche, gesellschaftspolitische und ideologisch-konzeptionelle:
  1. Die Möglichkeit der Rekrutierung qualifizierter Militärfachleute,
    die heute in großer Zahl verfügbar sind und jetzt in den privaten Militärfirmen neue Betätigungsfelder suchen und finden.
  2. Die bereits erwähnten Engpässe im Militärbereich
  3. Die veränderte Art der Kriegsführung,
    aufgrund derer immer mehr modernes Gerät eingesetzt wird. Die Streitkräfte sind jedoch nicht mehr in der Lage, diese Technik selbst zu bedienen und zu warten; sie kommen ohne das „Heer“ der Firmenmitarbeiter nicht mehr aus.
  4. Die Nachfrage schwacher oder in Bedrängnis geratener Regierungen:
    In verschiedenen Fällen, so in Papua Neu Guinea und in Sierra Leone, griffen die Regierungen unter dem Ansturm von Rebellen auf Firmen zurück.
  5. Die verstärkte Nachfrage nach dem Einsatz der Streitkräfte bei humanitären Interventionen,
    die die Nachfrage nach privaten Akteuren beförderte. Sie bauen und bewachen im Auftrag von Regierungen Lager für Kriegsflüchtlinge und sorgen für die Logistik von UN-Blauhelmen.
  6. Der Ruf nach dem Einsatz der Streitkräfte im so genannten „Krieg gegen den Terror“,
    der sich in zusätzlichen Anforderungen an die Streitkräfte niedergeschlagen hat.
  7. Die öffentliche Meinung zum Einsatz der Streitkräfte:
    Gelegentlich greifen Regierungen lieber auf Privatfirmen zurück als auf die eigenen Truppen. Es ist der Öffentlichkeit schwieriger zu vermitteln, dass Soldaten ihr Leben im Irak lassen sollen, wenn man stattdessen Mitarbeiter von Firmen einsetzen kann, die dort für viel Geld anheuern.
  8. Die normativ positiv besetzte Politik der Privatisierung:
    Das ökonomische, neoliberale Konzept, den Staat zu verschlanken und seine Aufgaben zu privatisieren, macht nicht vor den Kasernentoren Halt. Der ehemalige Verteidigungsminister der USA Ronald Rumsfeld schrieb: „Jede Funktion, die vom privaten Sektor übernommen werden kann, ist keine Kernfunktion der Regierung.“
Nicht nur bei Bahn und Post, auch im Militär sollen kosteneffektivere Marktlösungen gefunden werden. Privatisierung wird landauf, landab als Allheilmittel propagiert. „Outsourcen“ und „public-private-partnership“ sind im Militärbereich heute keine Fremdwörter mehr.

Abgesehen von der problematischen Entwicklung, die Kontrolle über die Gewaltinstrumente an Privatakteure zu verlieren, ist der Privatsektor bislang den Nachweis schuldig geblieben, dass er effizienter arbeitet als das Militär. Den Regierungen fehlt auch die Kompetenz zur Überwachung der Firmen, wie zahlreiche Berichte des amerikanischen Rechnungshofs belegen. Diese Kontrollfunktion ist deshalb wiederum an private Firmen übertragen worden. So beauftragte das amerikanische Verteidigungsministerium beispielsweise MPRI, eine der größten US-Militärfirmen, die Richtlinien zur Vergabe von Aufträgen an Militärfirmen zu erarbeiten. Damit machte man den Bock zum Gärtner

Führt die Tätigkeit der Privaten zu verschärften Konflikten? Im Krieg zwischen Äthiopien und Eritrea Ende der Neunziger Jahre „leaste“ Äthiopien eine kleine, aber schlagkräftige Luftwaffe bei der russischen Firma Sukhoi – einschließlich moderner Kampfjets und Piloten. Selten wurde diese Luftwaffe eingesetzt; denn auch die Luftwaffe Eritreas setzte ihrerseits ukrainische Piloten ein. Die Firmen auf beiden Seiten zögerten, ihre Piloten und das Firmenvermögen aufs Spiel zu setzen. Führt diese Risikoscheu privater Firmen möglicherweise gar zu einer neuen, völlig unerwarteten Form zur Vermeidung von Kriegen oder heizt das Gewinninteresse der Firmen Konflikte weiter an?

Jedenfalls ist das Konzept „Rent-a-Soldier“ keine Utopie mehr. Das primäre Problem ist nicht, staatliche Funktionen an private Akteure zu delegieren, sondern dass sich diese privaten Akteure weitgehend der öffentlichen Kontrolle entziehen können.

Internationale Interventionen

Nun einige Anmerkungen zu den internationalen Interventionen.

Diese Eingriffe von außen zur Gewährleistung internationaler Sicherheit, zur Prävention von Gewalt und zur Wiederherstellung des staatlichen Gewaltmonopols in schwachen, gefährdeten oder kollabierten Staaten haben positive und negative Wirkungen gehabt: Der „Human Security Report“ kommt zu dem Schluss, dass der seit knapp 10 Jahren beobachtbare Trend eines Rückgangs der Kriege und der Kriegstoten, durch das zunehmende Engagement der Vereinten Nationen in Friedenseinsätzen zu erklären ist. Diese positive Entwicklung ist äußerst erfreulich; demnach hat sich der Einsatz von inzwischen fast 100.000 UN-Peacekeepers gelohnt.

Doch die Interventionen haben eine Kehrseite. Die UN-Friedenseinsätze leiden unter zwei Hauptunzulänglichkeiten: mangelnder demokratischer Legitimität und nachhaltigem Erfolg.

Entscheidungen des UN-Sicherheitsrates mögen zwar völkerrechtlich korrekt sein, demokratisch legitimiert sind sie nicht. Nur Regierungen – und längst nicht alle demokratisch verfasst – sind in den Vereinten Nationen vertreten. Weder Generalsekretariat, noch Sicherheitsrat, noch Vollversammlung unterliegen demokratischer Kontrolle. Die meisten Postkonflikt- und Wiederaufbauprogramme werden aber mit dem Ziel begründet, friedliche und demokratische Strukturen zu schaffen. Kann Demokratie in vom Krieg zerrütteten Gesellschaften von einem undemokratischen Gremium wie dem UN-Sicherheitsrat befördert werden?

Dann der mangelnde Erfolg der Interventionen: Während die UN-Peacekeeper oft kriegerische Auseinandersetzungen stopen konnten – beispielsweise in Liberia oder in Haiti – sind die Postkonflikt- und Wiederaufbau­programme, die ganz auf Staatenbildung ausgerichtet sind, längst nicht immer erfolgreich: siehe Afghanistan!

Ich will einige weitere Ungereimtheiten der Interventionen aufzählen:

Ich erwähnte bereits deren Selektivität. Friedensmissionen werden mit hohem moralischem Anspruch begründet. Warum Kongo aber nicht Darfur, warum Afghanistan aber nicht Tschetschenien? Machtinteressen und nicht die moralische Verpflichtung zum Schutz von Menschen sind für Entscheidungen des Sicherheitsrates oft ausschlaggebend.

Während für den Einsatz der Streitkräfte erheblich Mittel aufgebracht werden, fehlt es eklatant an zivilen, nicht-militärischen Ressourcen. Der rasche, gelegentlich voreilige Rückgriff auf das Militär ist die Folge. Der Stifter des Marburger Preises für Friedens- und Konfliktforschung, Peter Becker, spricht von einer „merkwürdigen Schieflage“ und fordert zu Recht, dass in Europa eine „Agentur für zivile Konfliktbearbeitung“ geschaffen werden sollte, damit aktive Friedensgestaltung zu einer öffentlichen Aufgabe wird.

In den meisten Nachkriegsprogrammen steht die Schaffung des Staates im Mittelpunkt. Interessanterweise hat die internationale Politik hinsichtlich der Einschätzung des Staates fast einen Purzelbaum geschlagen. Über Jahrzehnte konzentrierte sich die Entwicklungszusammenarbeit auf Regierungen in Entwicklungsländern; später hatte dann die Liberalisierungspolitik nur den „ineffizienten“ und „korrupten“ Staat im Blick und suchte das Heil in der Privatisierung. In den letzten Jahren steht die Förderung leistungsfähiger staatlicher Institutionen wieder im Vordergrund. Dies zeigen die internationalen Hilfsprogramme von Kambodscha bis Kosovo, von Afghanistan bis Angola, von Bosnien bis Burundi. Und dies zu einem Zeitpunkt, in dem die Funktionen des Staates in den entwickelten Industriegesellschaften massiv gekappt werden.

Was geschieht, wenn eine lokale Entwicklung nicht in das im Westen favorisierte Entwicklungsmodell passt? Das jüngste Beispiel Somalia zeigt, dass eine solche Entwicklung beseitigt wird. Die Islamisten in Somalia sind wahrlich eine Gruppierung, die weder demokratisch ist, noch die Menschenrechte oder die Emanzipation der Frauen hoch hält. Dennoch haben sie viel für die Sicherheit der Menschen im Land getan und die Warlords verdrängt. Doch vor dieser Form von Sicherheit vor Ort fürchtete man sich in Washington ebenso wie in Addis Abeba. Deshalb wurden die Islamisten mit der fadenscheinigen Begründung des „Kampfes gegen den Terrorismus“ mit hartem Militäreinsatz vertrieben.

Ich ziehe folgende Schlussfolgerung: Die Erfahrungen nach dem Ende des Kalten Krieges zeigen, dass Krisen­prävention und Friedenseinsätze, Wiederaufbau in Nachkriegsgesell­schaften und Nationenbildung längst nicht immer erfolgreich sind. Zu oft werden die örtlichen und historischen Gegebenheiten außer Acht gelassen und kurzfristige Lösungen gesucht, die gelegentlich eher Konflikt verschärfend wirken.

Der Erhalt und die Fortentwicklung des öffentlichen Gewaltmonopols

Gibt es einen Ausweg aus dieser Krise? Ich wende mich jetzt der Frage zu, wie das öffentliche Gewaltmonopol als ein Instrument zur Schaffung von Frieden und Entwicklung erhalten und weiter entwickelt werden kann? Ich glaube es gilt vor allem – in der notwendigen Nüchternheit – festzustellen, dass die idealtypische Orientierung des Gewaltmonopols am Nationalstaat als heutige Zielvorstellung nicht mehr allgemeingültig sein kann.

Das Max Weber’sche Konzept des Nationalstaates, der über das Gewaltmonopol verfügt, bedeutet
  • Abschaffung privater Armeen,
  • innergesellschaftliche Befriedung,
  • Schaffung eines staatlichen Systems organisierter Gewalt im eigenen Territorium und
  • Organisation zentralisierter Kriegsführung und Aufbau staatlich kontrollierter stehender Heere.
Was bedeuten diese vier Prinzipien für die heutigen Konflikte?
  1. ist es – wie ich bereits ausgeführt habe – zu einer Reprivatisierung der Gewalt gekommen.
  2. können staatliche Institutionen die innergesellschaftliche Befriedung und die Durchsetzung von Recht und Ordnung nicht mehr garantieren. Das öffentliche Gut „Sicherheit“ kann vom Staat de facto nicht überall bereitgestellt werden, obwohl am Anspruch staatlich garantierter Sicherheit weiter festgehalten wird.
  3. ist die nationale territoriale Einheit durch die Globalisierung und durch regionale politische und wirtschaftliche Zusammenschlüsse in vielen Teilen der Welt aufgehoben; wirtschaftliche, politische und kulturelle Bereiche werden denationali­siert. Die Integration vieler Gesellschaften in den Weltmarkt hat auch zu grenzüberschreitendem Export und Import der Gewalt geführt. Lokal handeln und global denken – dieses Konzept wird nicht nur von Nichtregierungs­organisationen, sondern auch von Warlords praktiziert.
  4. agieren die Streitkräfte de facto nur noch international. Dennoch werden national organisierte Armeen nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Trotz internationaler Einsätze und Teilprivatisierung der Streitkräfte, bleiben sie weitgehend national ausgerichtet, obwohl dies ein Anachronismus ist.
Um das staatliche Gewaltmonopol fortzuentwickeln sollte der Nationalstaat nicht a priori als einzig legitimer Anwender des Gewaltmonopols angesehen werden; denn die Rahmenbedingungen für das Funktionieren des Nationalstaates haben sich durch die Privatisierung der Gewalt, die Internationalisierung des Krieges und die Globalisierung vieler Gesellschaftsbereiche grundsätzlich verändert.

Wie könnte eine Alternative aussehen? Es gilt meines Erachtens vom nationalstaatlich orientierten Gewaltmonopol zu einem öffentlichen Gewaltmonopol zu kommen. Nach einem solchen Konzept müssten vier Ebenen berücksichtigt sein:
  • Auf der lokalen Ebene existieren erprobte traditionelle Formen der Regulierung von Konflikten und auch in von Gewalt geprägten Gesellschaften gibt es “Zonen des Friedens” und “Inseln der Zivilität”.
  • Trotz des beschworenen Verfalls des Nationalstaates und dessen Bedeutungsverlustes spielt die nationale Ebene weiterhin eine wichtige Rolle. Es gilt verantwortliche, effiziente und öffentlich kontrollierte Institutionen der legitimierten organisierten Gewalt zu schaffen.
  • Die regionale Ebene muss durch leistungsfähigere Regionalorganisationen (als beispielsweise die heutige Afrikanische Union) gestärkt werden, die Schutz bieten und sich um die Förderung des Friedens über die Landesgrenzen hinweg kümmern.
  • Auf der globalen Ebene bleiben die Vereinten Nationen – trotz aller Kritik – die Institution, die die höchste Autorität für Frieden und Sicherheit hat; sie müssen allerdings auf der Basis völkerrechtlich akzeptierter Normen und Prinzipien arbeiten.
Es gibt natürlich eine Menge unübersehbarer praktischer Schwierigkeiten ein solches mehrstufiges öffentliches und legitimiertes Gewaltmonopol (eigentlich müsste man von Oligopol sprechen) zu implementieren. Eine präzise Arbeitsteilung zwischen den vier vorgeschlagenen Ebenen ist erforderlich.

Zwei Grundsätze sollten die Basis sein:
Erstens, das Gewaltmonopol sollte nach dem Subsidiaritätsprinzip aufgebaut sein, d. h. von unten nach oben angewendet werden. Die niedrigste, die lokale Ebene ist zunächst angesprochen, und nur wenn auf dieser Ebene die Kapazitäten nicht ausreichen, wäre die nächst höhere Ebene verantwortlich.

Zweitens, das Prinzip der Suprematie der vier Ebenen. Die Normsetzung erfolgt von oben nach unten. Internationale, globale Normen haben Vorrang vor regionalen, regionale vor nationalen und nationale vor lokalen.

Dieser Ansatz mag utopisch klingen, weil er schwer umzusetzen ist. Er entspricht jedoch der heutigen internationalen Realität. Unrealistisch ist vielmehr der Versuch, mit kurzfristig angelegten Hilfsprogrammen und militärischen Interventionen den Nationalstaat in Gesellschaften zu etablieren zu wollen, in denen ein Nationalstaat nie existierte und in denen dieses Konzept völlig fremd ist.


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