Energiekonflikte auf dem "Eurasischen Schachbrett"
Europas weiche Geopolitik im russischen Hinterhof
von Stephan Heidbrink *
Da das fossile Energieregime an seine
Grenzen stößt, ohne dass bisher
durchsetzbare Alternativen erkennbar
wären [1], erfahren die erdöl- und
erdgasreichen Regionen in den geoökonomischen
und geopolitischen
Kontrollstrategien der Zentrumsstaaten
eine starke Aufwertung. Energiesicherung
wird zur Zielgröße strategischer
Außen(wirtschafts)politik -
der Geostrategie. Es ist ein Konflikt
um die Macht, die Spielregeln auf
den Energiemärkten definieren zu
können.
Im Mittelpunkt steht dabei in erster
Linie die sog. »strategische Ellipse«,
die den Nahen und Mittleren Osten,
den Kaukasus sowie große Teile
Russlands und Zentralasiens umfasst.
Hier konzentrieren sich etwa 70% der
konventionellen Weltölreserven und ca.
68% der Weltgasreserven.[2] Für die absehbarer
Zukunft bedeutet dies, dass insbesondere
die Rolle der Russischen Förderation
im Mittelpunkt der US-amerikanischen
und europäischen strategischen
Überlegungen stehen wird.[3]
Die Versuche des Westens, die strategische
Ellipse zu kontrollieren, sind dabei
keineswegs nur jüngsten Datums. In
dem Versuch, die einzigartigen Chancen
zur Ausweitung und Verstetigung der
informellen Vorherrschaft der Vereinigten
Staaten im »unipolar moment«
(Charles Krauthammer 1990) während
und nach dem Zusammenbruch der
Sowjetunion zu nutzen, verfolgten die
USA bzw. »der Westen« eine doppelte
Strategie. Einerseits galt es, die russische
Ökonomie entlang neoliberaler Vorstellungen
für westliches Kapital zu öffnen
und so für die Disziplinierung durch
den (Welt-)Markt bzw. das transnationale
Kapital empfänglich zu machen,
andererseits sollte Kontrolle über die
kaspischen Staaten - den russischen
»Hinterhof« - auch mit Blick auf die
fossilen Energiereserven erlangt werden.[4]
Im Rahmen der US-amerikanischen
Geostrategie nimmt die Europäische
Union - und innerhalb dieser v.a. die
Bundesrepublik Deutschland - zunehmend
eine »Brückenkopffunktion« bezüglich
der Durchsetzung ihrer Interessen
auf dem eurasischen Kontinent ein.
Für die Europäische Union hat der ungefährdete
Zugriff auf Öl- und Gasreserven
eine besonders hohe Bedeutung,
die in den letzten Jahren noch einmal
stark zugenommen hat. Die EU ist heute
bereits der weltgrößte Importeur von
fossilen Energieträgern (allen voran Erdöl
und Erdgas); dabei stammen derzeit
etwa 40% aller europäischen Energieimporte
aus der Russischen Förderation
(und werden zu 80% durch die Ukraine
transportiert). Die Europäische Kommission
geht jedoch sogar davon aus,
dass sich "die Abhängigkeit von Gasimporten
[...] bis 2030 voraussichtlich von
57% auf 84%" und "die Abhängigkeit
von Ölimporten von 82% auf 93%" erhöhen
werden.[5]
Die europäische Strategie zur Sicherung
der Energieversorgung besteht aus
zwei Aspekten. Neben dem Versuch, die
europäische Energieversorgung durch
neue Pipelineprojekte zu diversifizieren,
hat die Absicherung der mittel- und
langfristigen Liefer- und Kooperationsbeziehungen
mit den Gas- und Ölförderländern
durch ein marktliberales vertragliches
Rahmenwerk nach dem Vorbild
der WTO oberste Priorität. Im
Prinzip existiert ein solcher Rechtsrahmen
bereits. Die EU hatte in den
1990er Jahren die Initiative ergriffen,
eine Europäische Energiecharta auszuhandeln,
die zugleich die Grundlage für
den Energiecharta Vertrag (ECV) bildete,
der im Dezember 1994 von etwa 50
Staaten unterzeichnet wurde.[6] In ihm
sind Bestimmungen zum Investitionsschutz,
zum Handel mit Energieträgern
(Öl- und Gas), zu Transitkonditionen
und auch ein internationales Streitbeilegungsverfahren
enthalten. Die Wirkung
ist jedoch äußerst begrenzt. So haben
die USA und Kanada den Vertrag nicht
unterzeichnet; China und Saudi-Arabien
begnügen sich mit einer Beobachterrolle
und Norwegen, Australien, Island,
Weißrussland und Russland haben
den ECV zwar unterzeichnet, nachfolgend
jedoch nicht ratifiziert.
Russische Stabilisierungsversuche
Die Liberalisierungsoffensive der EU
stößt gerade in Russland auf ein gegenläufiges
Projekt: Nach der chaotischen,
geradezu »raubtierkapitalistischen« Jelzin-
Ära wird seit dem Amtsantritt von
Wladimir Putin (2000) versucht, die
Wirtschaftsstruktur zu stabilisieren und
zu diversifizieren sowie die eigenen wirtschafts-
und sicherheitspolitischen Interessen
auch international deutlicher zu artikulieren.
Im Wesentlichen zielt die Putinsche
Agenda darauf, den staatlichen
Autoritätsverfall aufzuhalten. Im Zentrum
steht dabei die Kontrolle über den
Energiesektor.[7] Er steht - gemeinsam mit
den übrigen Rohstoffsektoren - für etwa
25% der gesamtwirtschaftlichen Produktion
Russlands.
Deshalb wurde in den letzten Jahren
eine Renationalisierung des Energiesektors
eingeleitet. Das Projekt begann mit
der Wiedererlangung der staatlichen
Kontrollmehrheit bei dem Gasmonopolisten
Gazprom, an dem der russische
Staat nunmehr eine 50,002-prozentige
Mehrheit hält, und der nach Jahren als
"Selbstbedienungsladen" (Alexander Rahr)
unter der Führung des Putin-Vertrauten
Alexej Miller nunmehr zu einem strategisch
agierenden Konzern umgewandelt
wurde.[8] Gazprom hält einen 25%igen
Anteil an der Weltgasproduktion und hat
Zugriff auf etwa ein Drittel der weltweiten
Erdgasreserven. Der Konzern verfügt
über dasMonopol in den Bereichen Produktion,
Transport und Export von russischem
Erdgas. Das Tochterunternehmen
Gazeksport ist der weltweit größte
Gasexporteur und der wichtigste Gaslieferant
Europas mit einem Marktanteil
von über 20% in Westeuropa und über
50% in Osteuropa (ohne GUS). Damit
erwirtschaftet Gazprom ein Viertel der
gesamten russischen Deviseneinnahmen.[9]
Ab 2003 wurden zudem zentrale Segmente
des Ölsektors in staatliche Kontrolle
zurückgeführt. Staatliche Ölgesellschaften
stellten 2003 nur rund 12%
der russischen Ölförderung. Insbesondere
in den USA ansässige transnationale
Öl-Konzerne wie ExxonMobil und
Chevron wurden von der neuen russischen
Strategie getroffen. Als besonders
aggressive Vertreter imWettlauf um Zugang
zu den russischen Ressourcen hatten
sie auf die beiden reichsten Männer
Russlands und die mächtigsten innenpolitischen
Gegenspieler Putins gesetzt:
Auf den Oligarchen Roman Abramowitsch
(Besitzer von Sibneft; 2003) und
Michail Chodorkowski (Besitzer von
Yukos; 2003). Bei der geplanten Mega-
Fusion zwischen Sibneft und Yukos zur
bei weitem größten russischen Ölfirma
sollten zugleich ExxonMobil und
Chevron beteiligt werden. Darüber hinaus
verhandelte Chodorkowski (an
staatlichen Stellen vorbei) mit China
über den Bau einer transsibirischen Pipeline.
Aus Sicht der russischen Administration
drohte damit ein beachtlicher
Kontrollverlust über strategisch wichtige
Öl- und Gasvorkommen sowie Pipeline-
Routen. Die Verhaftung Chodorkowskis
2003 wegen Steuerhinterziehung
beendete das Projekt. In den folgenden
Jahren wurde Yukos durch Steuernachforderungen
(etwa 28 Mrd. $) zum Verkauf gezwungen, die größte
Fördergesellschaft von Yukos erwarb der
staatlich kontrollierte Rosneft-Konzern.
Ende 2005 wurde auch das Abramowitsch-
Unternehmen Sibneft für über
13 Mrd. $ von Gazprom übernommen.
Damit entfielen Ende 2005 35% der
russischen Ölförderung auf staatliche
Gesellschaften (Rosneft, Sibneft, Gasprom
sowie Tatneft und Baschneft, die
unter Verwaltung der Behörden von Tatarstan
und Baschkirien stehen). Gegenüber
2003 hat sich der Produktionsanteil
der staatlichen Ölgesellschaften somit
etwa verdreifacht. Obwohl man
weiterhin an ausländischen Investitionen
interessiert ist, sind die Tendenzen
unübersehbar, den Zugriff westlicher
Konzerne auf russische Ressourcen stärker
kontrollieren zu wollen. Im Jahr
2006 erließ der Kreml ein Gesetz, in
dem Öl-, Gas- und Metalllagerstätten
explizit zu strategischen Reserven aufgewertet
wurden. Deren Ausbeutung muss
nunmehr unter der Führung russischer
Unternehmen stattfinden. Bestehende
Mehrheitsbeteiligungen westlicher Firmen
an der Exploration werden mit
Hilfe der Anwendung bereits vorher bestehender
Umweltauflagen oder auch
Steuerfahndungen zugunsten russischer
Konzerne (allen voran Gazprom) zurückgedrängt.
»Weiche« Geopolitik
Aufgrund der Schwierigkeiten, den russischen
Energiesektor für westliches Kapital
umfassend zu öffnen, wird nunmehr
verstärkt versucht, Gas- und Ölvorkommen
durch die Diversifizierung der Energieinfrastruktur
unter Umgehung Russlands
an Europa zu binden. Hierdurch
soll die Abhängigkeit von russischen
Energielieferungen reduziert werden, um
so zu verhindern, dass Moskau diese unter
Umständen als politisches Druckmittel
einsetzen könnte.
Dabei sind in das europäische Projekt
zur Energiesicherung schon seit den frühen
1990er Jahren Elemente einer »weichen
« Geopolitik eingelassen. Die umkämpfte
und konfliktreiche Aufbereitung
des Raumes im Energiebereich bezieht
sich dabei vor allen Dingen auf die Entwicklung
der Energieinfrastruktur, d.h.
vor allem Pipelines sowie Verkehrswege
in der Türkei und dem Kaukasus. Letztlich
geht es aber um den Zugriff auf zentralasiatisches
Öl und Erdgas, dessen
Transport derzeit nur durch Russland erfolgen
kann und daher deutlich unter
Weltmarktpreisen erworben und strategisch
eingesetzt wird - insbesondere
durch Gazprom.
Die durch die EU angestrebte Diversifizierung
in der Energieversorgung wurde
bislang insbesondere durch zwei (komplementäre)
Unterprogramme des TACIS-
Programms [10] (Technical Assistance
to the Commonwealth of Independent
States) vorangetrieben, wobei sich der
Auf- und Ausbau des Pipelinenetzes sowie
die Erschließung der dazu gehörigen
Verkehrswege als inkohärent erweisen.
Zum einen handelt es sich dabei um das
Programm INOGATE (Interstate Oil
and Gas Transport to Europe), das seit
1994 mittels des Auf- und Ausbaus eines
Pipelinenetzes kaspisches Öl und Gas an
den europäischen Markt anschließen soll.
Zum anderen existiert das TRACECAProgramm
(Transport Corridor Europe-
Caucasus-Asia), das auf die Entwicklung
eines alternativen Transportkorridors zu
der traditionellen Handelsroute durch
Russland ausgerichtet ist. Die Russische
Föderation ist als einziger Staat des eurasischen
Raumes nicht Mitglied in dem
Programm.[11]
Vor allem das TRACECA-Programm
ist recht eindeutig darauf ausgerichtet,
mit der »Neuen Seidenstraße« das Raummonopol
Russlands zu brechen. Zwar
sind die Ergebnisse bislang bestenfalls
bescheiden. Da seit einiger Zeit innerhalb
der Europäischen Union die Transatlantiker,
die für eine konfrontative Politik
gegenüber Russland eintreten, immer
mehr die Oberhoheit gewinnen,
dürften derartige Versuche künftig jedoch
intensiviert werden.
Die Dominanz der transatlantisch
orientierten Fraktion im Bereich der
»weichen« Geopolitik ist in der europäischen
Unterstützung für das Pipeline-
Projekt NABUCCO besonders deutlich
ausgeprägt. Die über 3.000 Kilometer
lange Pipeline ist das zentrale EU-Projekt
bei der Suche nach einer
"unabhängigen
Versorgung durch Erdgasrohrleitungen
von der kaspischen Region".[12] Die Pipeline
soll von Aserbeidschan durch die
Türkei, Rumänien, Bulgarien und Ungarn
bis nach Österreich geführt
werden. Unter der Führung der österreichischen
OMV wird das Projekt
von einem Konsortium aus Botas (Türkei), MOL Natural Gas Transmission
(Ungarn), Bulgargaz (Bulgarien)
und SNTGN Transgaz SA aus Rumänien
und inzwischen auch RWE vorangetrieben.[13]
Das Konsortium kann sich auf die
massive Unterstützung durch die EU
verlassen, die (genau wie Deutschland)
dem Projekt höchste Priorität einräumt.[14] Die Machbarkeitsstudie wurde
von der EU mit 4,8 Mio. Euro unterstützt
und die Europäische Investitionsbank
(EIB) sowie die Europäische Bank
für Wiederaufbau und Entwicklung
(EBRD) signalisieren ihre Bereitschaft,
bis zu 70% der Finanzierung zu übernehmen.
Inzwischen mehren sich Überlegungen,
die Pipeline bis zur Ostseite des kaspischen
Meeres weiterzuführen, um so
auch die zentralasiatischen Ressourcen
unter Umgehung Russlands aber auch
Irans dem Europäischen Markt zuführen
zu können.
Das politisch, finanziell und technisch
anspruchsvollste Projekt ist jedoch die
BTC-Pipeline. Sie ist neben der geplanten
NABUCCO-Trasse der bisher größte
Erfolg der Atlantiker. Insbesondere die
USA als wichtigster Kunde Aserbeidschans
wollen damit ihre Abhängigkeit
vom nahöstlichen Öl verringern. Gleichzeitig
umgeht die Pipeline Russland und
den Iran und passt sich insofern in die
Diversifizierungsstrategie der Europäischen
Union ein. Die jetzige Streckenführung
ist die teuerste und technisch
aufwendigste Variante, die zudem noch
mit enormen Umweltrisiken behaftet ist,
da die Trasse durch stark erdbebengefährdetes
Gebiet verläuft. Das betreibende
Konsortium steht unter der Leitung der
britischen BP, der US-amerikanischen
Unocal sowie der Turkish Petroleum Inc.
Dass die an dem Projekt beteiligte
EBRD nicht auf einer Sicherung der
Trassenführung nach EU-Standards bestanden
hat, zeigt die Dominanz geopolitischer
Überlegungen hinter der europäischen
Beteiligung an dem Projekt. Die
BTC ist ein offensichtlich gegen Moskau
gerichtetes Projekt: Die Stationierung
US-amerikanischer Truppen schon 2001
in Georgien, die folgende Finanzierung
der »Caspian Guard« zum Schutz der Pipeline
durch das Pentagon und Pläne zur
Errichtung einer Militärbasis in Aserbeidschan
können hier als Indizien gelten.
Darüber hinaus ist das Projekt nicht
nur aus umweltpolitischen Überlegungen
höchst zweifelhaft, auch die wirtschaftliche
Rentabilität ist in Zweifel zu ziehen.
Die ehemals euphorischen Schätzungen
des Ölreichtums des Kaspischen Meeres
sind nunmehr deutlich ernüchterten Prognosen
gewichen. Ob die Pipeline überhaupt
ausreichend (lies: rentabel) gefüllt
werden kann, ist derzeit eine offene Frage.
Gleichzeitig erweisen sich jedoch die
Erdgasreserven der Region (zwischen 6%
und 8% der Weltreserven) zunehmend
als Objekt der Begierde, gerade wenn es
darum geht, gegenüber Russland oder
genauer: Gazprom unabhängiger zu werden.
Russische Gegenstrategie
In Russland wird das NABUCCO-Projekt
als Versuch interpretiert, das russische
Raummonopol zu brechen. Hier
decken sich die Wahrnehmungen von
Gazprom und der russischen Regierung.
Der russische Gaskonzern bemüht sich
daher, das Projekt überflüssig zu machen
und damit gleichzeitig näher an
das europäische Verteilersystem heranzurücken.
Bereits 1999 hatte Gazprom
gemeinsam mit der italienischen ENI
und unter heftigen Protesten der USAdministration
begonnen, mit dem Blue Stream Projekt unter Umgehung
der Ukraine eine Gaspipeline durch das
schwarze Meer zur türkischen Stadt
Samsun zu verlegen. Dieses Projekt
richtete sich (unter Beteiligung japanischer
und türkischer Firmen) gegen die
Pläne eines anglo-amerikanischen Konsortiums,
eine Pipeline (Trans-Caspian
Gas Pipeline; TCP) durch das Kaspische
Meer nach Turkmenistan zu führen.
Das Gazprom-Unterfangen war bereits
2002 erfolgreich und beendete (vorerst)
das TCG-Projekt.[15] Aktuell plant
Gazprom eine Verlängerung von Blue
Stream parallel zum NABUCCO-Vorhaben
durch Bulgarien und Rumänien
bis nach Ungarn.
Gleichzeitig veräußerte E.On Ruhrgas
seine Anteile an der ungarischen MOL
(Mitglied im NABUCCO-Konsortium)
gegen eine 25%-Beteiligung am russischen
Yuschno-Russkoje-Feld an Gazprom.
Darüber hinaus nutzt Gazprom
die deutliche Abkühlung der Verhältnisse
zwischen der Türkei und den USA einerseits
sowie der EU andererseits. Frustriert
über die Ignorierung türkischer Sicherheitsinteressen
im Nordirak durch die
US-amerikanische Regierung und die
Hinhaltetaktik bzw. inzwischen ablehnende
Haltung der Europäischen Union
in der Beitrittsfrage zeigt sich die Türkei
gegenüber dem Billig-Erdgas-Angebot
von Gazprom aufgeschlossen. Die
Spannungen zwischen Frankreich und
der Türkei aufgrund des Armenien-Beschlusses
der französischen Nationalversammlung
haben bereits dazu geführt,
dass Gas de France die Beteiligung an
dem NABUCCO-Konsortium verwehrt
wurde, obwohl deren Kapital dringend
zur Realisierung benötigt wird. Das Projekt,
die Türkei zur Energiedrehscheibe
vis-a-vis Russland auszubauen, ist ernsthaft
bedroht.
Für die Europäische Union kommt
erschwerend hinzu, dass NABUCCO,
um halbwegs rentabel betrieben werden
zu können, auf zentralasiatisches Gas,
vor allem aus Turkmenistan angewiesen
ist. Insofern war es ein schwerer Schlag,
als Wladimir Putin im Mai 2007 mit
dem turkmenischen Präsidenten Gurbanguli
Berdymuchamedow vereinbarte,
dass große Teile des turkmenischen Erdgases
über das russische Leitungsnetz geleitet
werden.[16]
Das Vorhaben, mittels NABUCCO
die zentralasiatischen Reserven aus der
russischen Kontrolle zu lösen, droht damit
zu scheitern. Einzig russisches und
iranisches Gas könnten die Pipeline nunmehr
ausreichend füllen, aber sowohl die
iranische Option als auch ein Einstieg
von Gazprom in das Konsortium stoßen
sowohl auf heftigen Widerstand der Vereinigten
Staaten wie auch auf große
Skepsis in Europa.
Derzeit führt für die europäische
Gasversorgung kein Weg an Gazprom
vorbei. Dies ist aus westlicher Sicht
umso Besorgnis erregender, als sich
Gazprom bemüht, ein integrierter Energiekonzern
zu werden. Das zielt sowohl
auf die Ausdehnung des Geschäftsfeldes
von der Förderung über den Transport
bis hin zur Raffinierung von Erdöl als
auch auf die Übernahme von Gasinfrastruktur
und den direkten Zutritt zu
Endverbrauchermärkten in Europa. Die
Gazprom-Strategie kann als Lehre aus
den Nationalisierungen der Ölgesellschaften
im Nahen und Mittleren Osten
gedeutet werden. Damals kontrollierten
die neuen staatlichen Unternehmen
zwar die Ölförderung (upstream), aber
der Transport (mid-stream) und die Verarbeitung/
Vermarktung (downstream)
blieb von westlichen Firmen dominiert.
Das gab den mehrheitlich anglo-amerikanischen
Unternehmen (sowie dem
Westen als dem zentralen Absatzmarkt
insgesamt) ein entscheidendes Druckmittel
an die Hand.[17] Gazprom hingegen
versucht, Quellen, Transportwege
und Absatzmärkte unter ihrem Dach zu
integrieren.
Der Konzern benutzt dazu seine
marktdominierende Stellung in Russland
und insbesondere seinen exklusiven Zugriff auf billiges zentralasiatisches
Gas (und Öl). Die abrupten Preiserhöhungen
gegenüber der Ukraine
(März 2005/Anfang 2006) und Weisrussland
(Ende 2006/Mai 2007) wurden
durch Kompromisse beigelegt: Beide
Staaten zahlen nicht den vollen Weltmarktpreis,
aber sie treten die Kontrolle
über ihre Gasinfrastruktur ab.[18] Ein ähnliches
Bild zeigt sich im Kaukasus: Das
westlich orientierte Georgien weigerte
sich, seine Infrastruktur abzutreten und
zahlt nunmehr Weltmarktpreise. Demgegenüber
zeigte sich Armenien kooperativ
und zahlt statt 230 $ pro 1000 Kubikmeter
Gas nur 110 $. Innerhalb der EU
wird dies wiederum als ein gezielter russischer
Versuch interpretiert, die europäische
Energieversorgung unter Kontrolle
zu bringen, um sich so ein erhebliches
machtpolitisches Druckmittel zu verschaffen.[19]
Eskalationsdynamiken - Droht ein neuer Kalter Krieg?
Die geoökonomischen Erfolge des Westens
- in erster Linie durch die BTC-Pipeline
- sowie die geopolitischen Verschiebungen
- insbesondere durch die
mit z.T. massiver westlicher Unterstützung
erfolgten sog. »bunten Revolutionen
« in Georgien (2003), der Ukraine
(2004) und Kirgisistan (2005) - erweisen
sich zunehmend als kontraproduktiv
in dem Bestreben, Energiesicherheit herzustellen.
Kooperationsangebote Russlands
wurden ausgeschlagen, und stattdessen
wird auf eine konfrontativere Politik
gesetzt, die letztlich der Russischen
Förderation nur wenige Optionen ließ.
Darüber hinaus erschütterte der Georgienkrieg
im August 2008 die Vorstellungen
des Westens, in Georgien über einen
sicheren Transportkorridor jenseits Russlands
zu verfügen, nachhaltig.[20]
Der Ton wird immer rauer und die
Auseinandersetzungen verlagern sich
mittlerweile auch in andere Regionen.
So richtet sich der Blick der Europäischen
Union nach den Rückschlägen im
Bereich der »weichen Geopolitik« nunmehr
einerseits verstärkt auf Afrika, wo
sich derzeit ein neuer Wettlauf zwischen
der EU und Gazprom abzeichnet.[21] Andererseits
intensiviert die EU ihre Anstrengungen,
einen globalen Gasmarkt zu errichten. Bislang ist Erdgas fast ausschließlich durch Pipelines zu transportieren;
dies soll sich mit der Flüssiggastechnologie
ändern. Tiefgekühltes und
damit verflüssigtes Gas lässt sich auf
Tankschiffen transportieren und würde
Erdgas so zu einer global handelbaren
Ware wie Öl aufwerten. In Reaktion darauf
wurde am 23. Dezember 2008 in
Moskau die »Gas-OPEC« als Kartell
erdgas-exportierender Länder durch 16
Staaten gegründet. Wie handlungsfähig
diese neue Organisation sein wird, ist
bislang noch unklar. Doch ihre Existenz
wurde vom NATO-Wirtschaftsausschuss
in einem Bericht als Bedrohung
eingestuft, da Russland hiermit beabsichtige,
Energielieferungen als machtpolitisches
Druckmittel einzusetzen.[22] In diesem Zusammenhang sind die Forderungen
etwa des einflussreichen US-Senators
Richard Lugar zur Gründung
einer »Energie-NATO« zu sehen. Damit
würde eine Unterbrechung der Erdölund
Erdgaslieferungen als Angriff auf
das atlantische Bündnis bewertet.[23]
Noch sind solche Vorschläge nicht
mehrheitsfähig, allerdings wurde die sichere
Energieversorgung schon vor einiger
Zeit in die Sicherheitskonzeptionen
des Westens integriert.
An der Energiefrage entzündet sich
daher ein europäischer neuimperialer
Diskurs. Die bescheidenen Fortschritte
in der Internationalisierung des europäischen
neoliberalen Binnenmarktregimes
in den europäischen Nachbarschaftraum
und die Rückschläge in der »weichen«
Geopolitik bereiten das Feld, auf dem
weit reichendere Vorschläge fruchtbaren
Boden finden. Aufgrund der Weigerung
der russischen Förderation, auf die Kontrolle
über die Energiewirtschaft zugunsten
(westlicher) privater Akteure zu verzichten,
wird Russland zunehmend als
Gefahr für die westliche Energiesicherheit
wahrgenommen.
Anmerkungen
-
Vgl. Altvater, Elmar (2005): Das Ende des Kapitalismus
wie wir ihn kennen. Münster; Leggett,
Jeremy (2006): Peak Oil. Köln.
- Barthel, Fritz & Gerling, Peter (Koord.)
(2003): Reserven, Ressourcen und Verfügbarkeit
von Energierohstoffen 2002. Rohstoffwirtschaftliche
Länderstudien XXVIII. Hannover,
S.55.
- Kalicki, Jan H. & Goldwyn, David L. (eds.)
(2005): Energy & Security. Toward a New Foreign
Policy Strategy.
- Vgl. Van der Pijl, Kees (2006): Global Rivalries.
From the Cold War to Iraq. London,
S.347ff.
- Europäische Kommission (2007): Eine Energiepolitik
für Europa. Brüssel, den 10.1.2007,
KOM (2007) 1 endg., 4.
- Westphal, Kirsten (2006): Energy Policy between
Multilateral Governance and Geopolitics:
Wither Europe? In: Internationale Politik und
Gesellschaft 4/2006, S.53f.
- Vgl. FN 4, S.347ff.
- Vgl. Pörzgen, Gemma (2008): Gasprom. Die
Macht aus der Pipeline. Hamburg.
- Windisch, Nancy (2007): Gazprom - Unternehmenspolitik
des größten Erdgaskonzerns
der Welt. www.weltpolitik.net/
- Inzwischen wurde das TACIS-Programm
durch das Europäische Nachbarschafts- und
Partnerschaftsinstrument (ENPI) ersetzt.
- Ehlers, Kai (2006): Reicht Europa bis nach
Kasachstan? In: Pflüger, Tobias & Wagner, Jürgen
(Hrsg.): Weltmacht Europa. Hamburg,
S. 183-197.
- Europäische Kommission (2005): Grünbuch
über Energieeffizienz. Brüssel, S. 17
- "Ob es Zufall oder Absicht ist, das Konsortium
setzt sich aus eben jenen Staaten zusammen, die
im ersten Weltkrieg Verbündete gegen Russland
waren." Kneissl, Karin (2006): Der Energiepoker.
Wie Erdöl und Erdgas die Weltwirtschaft
beeinflussen. München, S. 38.
- Vgl. Wagner, Jürgen (2007): Der Russisch-europäische
Erdgaskrieg. Studien zur Militarisierung
Europas 30/2007.
- FN 4, S.352
- Wolkowa, Irina (2007): Masterplan der Energiestrategie.
www./regionen/
Russland/kaspi.html
- Yergin, Daniel (1991): The Prize. The Epic
Quest for Oil, Money & Power. New York,
S.389-541.
- Lindner, Rainer (2007): Blockaden der
Freundschaft. SWP-aktuell 3. Januar 2007.
Dabei erhielt Weissrussland 2,3 Milliarden $
für Beltransgasanteile, deren Wert auf 800 Millionen
Dollar geschätzt wurden.
- Vgl. FN 14. Darüber hinaus bemüht sich Gazprom
nunmehr, Anteile an europäischen Verteilernetzen
zu erwerben. Die Liberalisierungsstrategie
der EU hat dafür die Vorrausetzungen
geschaffen und dies erweist sich unter den veränderten
Bedingungen nunmehr als zunehmend
kontraproduktiv für das Bestreben, die
geopolitische Position der EU zu stärken.
- Vgl. Hantke, Martin (2008): »Alles wieder offen
«. Georgienkrieg und imperiale Geopolitik.
IMI-Studie 2008-10. Tübingen.
- Vgl. Wagner, Jürgen (2009): Gas-OPEC und
afrikanische Nabucco. http://www.imi-online.
de/download/JW-Gas-OPEC-Nabucco.pdf
- Kreimeier, Nils & Wetzel, Hubert (2007): EU
und USA zittern vor neuer »Opec«, Financial
Times Deutschland, 06.03.2007.
- U.S. Senate Committee on Foreign Relations,
Senator Richard G. Lugar Opening Statement
for Hearing on Oil, Oligarchs and Opportunity:
Energy from Central Asia to Europe,
12.06.2008.
* Stephan Heidbrink promoviert in Marburg
über Energiesicherungsstrategien der Europäischen
Union und ist Mitglied der
Forschungsgruppe Europäische Integration
(FEI).
Dieser Beitrag erschien in: Wissenschaft & Frieden 4/2009, S. 6-10
Die Zeitschrift Wissenschaft & Frieden erscheint vier Mal im Jahr und ist zu beziehen bei:
BdWi-Verlag
Gisselberger Str. 7
35037 Marburg
Tel. 06421/21395; e-mail:
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