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Ein Mega-Verfahren mit offenem Ende

BP versucht Verurteilung zu verhindern

Von Kurt Stenger *

Ob der am 27. Februar startende Prozess zur »Deepwater-Horizon«-Katastrophe bis zu einem Urteil geführt werden wird, ist völlig offen.

Es ist ein Mega-Prozess, der heute (27. Feb.) in New Orleans im US-Bundesstaat Louisiana beginnt. Das Zivilgericht befasst sich mit 535 gebündelten Einzelklagen von 120 000 Klägern, darunter der Regierung in Washington, mehreren Bundesstaaten und Gemeinden am Golf von Mexiko sowie einer Reihe von Unternehmen; 72 Millionen Dokumente sind auszuwerten. Der Umfang ergibt sich aus dem Anlass - die bislang größte Ölkatastrophe in der Geschichte der USA. Nach der Explosion der Ölplattform »Deepwater Horizon« im April 2010 waren in den darauf folgenden drei Monaten 780 Millionen Liter Öl aus der Ölquelle Macondo des britischen Konzerns BP ins Meer geflossen - dieser war offensichtlich nicht vorbereitet auf ein solches Ereignis und agierte beim Verschließen des Bohrlochs hilflos.

Prozess um eine Woche verschoben

Der Beginn des Prozesses um die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko ist um eine Woche verschoben worden. Das zuständige Gericht in New Orleans sagte den für den 27. Februar geplanten Prozessbeginn ab. Die Kläger und BP wollen mit der Verschiebung versuchen, in letzter Minute noch eine außergerichtliche Einigung zu erzielen, hieß es.
(Nachrichtenagenturen, 27. Feb. 2012)



Der Ölriese BP hat bisher 20 Milliarden US-Dollar für einen Fonds bereitgestellt, aus dem rund 200 000 Einzelpersonen und Kleinunternehmer abgefunden werden. Bisher berappte der Konzern 7,5 Milliarden für Entschädigungen und Kosten der Aufräumarbeiten. Er rechnet für sich mit Gesamtkosten durch die Katastrophe von 40 Milliarden Dollar.

Bei dem jetzigen Prozess geht es im Kern um die verbleibenden Schadenersatzklagen gegen BP und andere beteiligte Unternehmen. Die US-Regierung kann sich in ihrer Klage auf die relativ strenge Umweltgesetzgebung in den USA berufen. Gemäß dem »Clean Water Act« stehen alleine dem Zentralstaat pro Barrel Öl, das ausgelaufen ist, mindestens 1100 Dollar zu. Kann BP & Co. grobe Fahrlässigkeit nachgewiesen werden, wären es schon 4300 Dollar - die Gesamtsumme beliefe sich auf 17,6 Milliarden Dollar, und das nur für die Gewässerverschmutzung. Dafür hat BP aber nur 3,5 Milliarden zurückgestellt.

Stark verkompliziert wird der Prozess durch die Verteidigungsstrategie des Ölkonzerns. Dieser will die Kosten nämlich am liebsten auf den seinerzeitigen Besitzer und Betreiber der Bohrplattform, die Schweizer Firma Transocean, abwälzen, war damit aber schon vor mehreren Gerichten gescheitert. BP hat auch die US-Firma Halliburton verklagt, weil diese das Bohrloch im Meer mit einer mangelhaften Betonmischung verschlossen haben soll.

Ob der von Richter Carl Barbier, einem Spezialisten für maritimes Recht, geleitete Prozess bis zu einem erst in einigen Jahren zu erwartenden Urteil dauern wird, ist unklar. BP versucht aufgrund der Unwägbarkeiten des Verfahrens, eine außergerichtliche Einigung zustande zu bringen. Hinter den Kulissen soll der Ölgigant um eine möglich niedrige Summe feilschen. Dabei hat man ausreichenden Verhandlungsspielraum: Vorstandschef Bob Dudley konnte, unter anderem wegen der stark gestiegenen Ölpreise, vor wenigen Tagen einen Nettogewinn von 23,9 Milliarden US-Dollar für das Jahr 2011 vermelden.

* Aus: neues deutschland, 27. Februar 2012


Folgeschäden nicht absehbar

Drei Viertel des Öls des Deepwater-Horizon-Unglücks sind im Meer geblieben **

Dr. Carl Safina (geb. 1955) leitet das »Blue Ocean Institute«, eine Umweltorganisation mit Sitz in East Norwich, New York, die sich insbesondere dem Schutz der Meere verschrieben hat. Er hat sich ausführlich mit der Ölkatastrophe im Golf von Mexiko befasst und dazu ein Buch mit dem Titel »A Sea in Flames: The Deepwater Horizon Oil Blowout« veröffentlicht. Mit Safina sprach für das "neue deutschland" (nd) Max Böhnel.


nd: Welches Ausmaß haben die Umweltschäden seit der Havarie der Ölplattform »Deepwater Horizon« im Golf von Mexiko im April 2010 angenommen?

Safina: Diese Katastrophe wird gern mit dem Exxon-Valdez-Unglück von 1989 vor Alaska verglichen. Die Schäden von heute sind aber weniger schlimm als die von damals. Und sie sind weniger schlimm als kurz nach »Deepwater« angenommen wurde. Im Golf von Mexiko verendeten viele Vögel und Schildkröten, aber weit mehr überlebten. Meines Wissens nach gab es auch relativ wenige ölverseuchte Fische, Krabben und Garnelen. Viele Austern verendeten nicht infolge des ausgelaufenen Öls, sondern wegen der Süßwassermengen, die die Behörden ins Meer leiteten, um das Öl von den Stränden fernzuhalten. Öl hat das nicht gestoppt, aber große Mengen an Austern zerstört.

Wegen der Schließung des Fischereibetriebs überlebten Millionen von Meerestieren, die sonst dem Fischfang zum Opfer gefallen wären. Rechnet man die Zahl der wegen der Verseuchung toten Fische gegen die Zahl der Vermehrung infolge der ausfallenden Fischerei, dann hat sich der Fischbestand im Golf wahrscheinlich sogar erhöht.

Wie viel Öl ist im Golf von Mexiko geblieben?

Nach Angaben der Regierung und nach Berechnungen unabhängiger Wissenschaftler ist der größte Teil des ausgeflossenen Öls im Ökosystem geblieben, je nach Kategorisierung zwischen zwei Dritteln und drei Vierteln - entweder als mikroskopisch kleine Ölbläschen, als Klumpen auf oder nahe der Meeresoberfläche oder als Ablagerung in Sedimenten und Sand. Nur etwa ein Viertel wurde durch menschliche Intervention direkt verbrannt, abgesaugt oder anderweitig eingesammelt. Der Regierungsbericht ist leider ungenau und teilweise verwirrend, weil er Kategorien vermischt. Ein Alterativgutachten namens »Georgia Sea Grant Program« schätzt die verbliebenen Ölmassen auf 70 bis 79 Prozent.

Sind die langfristigen Schäden einzuschätzen?

Wir werden über Jahre hin nicht wissen, ob die Ölpest die Reproduktionsfähigkeit der Meerestiere geschmälert hat. Es gibt beispielsweise Berichte von Fischen mit merkwürdigen Schuppenkrankheiten. Auch dachten wir zunächst, dass nur wenige Delfine sterben würden, aber ein paar Monate, nachdem der Ölfluss gestoppt war, wurden Hunderte von jungen toten Delfinen an die Strände gespült. Wahrscheinlich hatten ihre Delfinmütter überlebt, aber vermutlich Lösungsmittel eingeatmet oder Öl direkt geschluckt, was die embryonale Entwicklung beeinträchtigte. Auch einige Menschen klagen über Beschwerden und Krankheiten, nachdem sie mit den Chemikalien, die das Öl »auflösen« sollten, in Berührung gekommen waren.

Sind die Zahlen von BP und US-Regierung glaubwürdig?

87 Tage lang floss Rohöl aus dem Bohrloch. Über die Menge verbreitete BP wochenlang bloße Lügen. BP pochte darauf, 5000 Barrels würden pro Tag austreten. In Wirklichkeit waren es 60 000. Den Angaben des Konzerns ist deshalb auch heute überhaupt nicht zu vertrauen. BP hat wirtschaftliche Beweggründe, die kleinstmögliche Menge anzugeben. Schließlich hängt die Höhe der Strafe nicht unwesentlich davon ab, was das Gericht für glaubwürdig befindet. Wenn andererseits die US-Regierung die höchstmöglichen Zahlen angibt, wäre ich auch nicht überrascht. Die Anwälte Washingtons werden zu beweisen versuchen, dass BP »criminally negligent«, also grob fahrlässig handelte, um möglichst viel an Schadensersatz herauszuschlagen. Zurecht.

Das heute beginnende Verfahren wird in der Presse »jeder gegen jeden« genannt. Worin besteht die Strategie von BP?

BP hat sehr viel Geld ausgegeben, um zu außergerichtlichen Vergleichen zu kommen - Geld, das die Firma nicht unbedingt ausgeben musste. Aber der Konzern wollte Schadensersatzklagen zuvorkommen und zahlte um die 20 Milliarden Dollar, davon Beträge an Menschen, die wegen der Fischereisperren keine Einkünfte mehr hatten. Letztendlich wollte BP damit sozialen Unruhen zuvorkommen, die an der Golfküste mit Sicherheit ausgebrochen wären. Und: Der Konzern wollte sich den US-Markt nicht verderben. Denn es ging und geht um die Genehmigung weiterer Ölbohrungen auf US-Territorium. Vor Gericht will BP nachweisen, dass es sich nicht um eine hausgemachte grobe Fahrlässigkeit handelte, sondern dass die anderen schuld waren.

** Aus: neues deutschland, 27. Februar 2012


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