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Der Rechtsstaat auf dem Sterbebett

Nach dem 11. September: Staatliches Mißtrauen gegenüber Bürgern als gesetzliches Prinzip

Von Fredrik Roggan*

Vortrag auf dem Friedenspolitischen Kongress in Hannover, 31. August 2002

Am 11. Oktober 2001, also einen Monat nach den Ereignissen von New York und Washington, war in der Zeit zu den damaligen sicherheitspolitischen Planungen auf Seite 1 zu lesen: »Schily will einen Verbund zwischen den Dateien der Geheimdienste und der Polizei, Strafmilderung für Kronzeugen, Fingerabdrücke im Paß, Raster- und Schleierfahndungen, eine Aufweichung des Bankgeheimnisses, strengere Visaregelungen und die leichtere Abschiebung von (nicht vorbestraften) Ausländern, die schwerster Verbrechen verdächtig sind – all das macht Deutschland nicht zum Polizeistaat, wie mancher argwöhnt. Allerdings benötigte ein Polizeistaat kaum zusätzliche Gesetze, er brauchte nur die derzeit geplanten massiv anzuwenden.«

Nun ist zu diesem Zitat zunächst anzumerken, daß nicht alle zum damaligen Zeitpunkt erhobenen Forderungen auch tatsächlich in Gesetzeskraft erwachsen sind. Gleichwohl tut man dem schließlich beschlossenen Terrorismusbekämpfungsgesetz sicher kein Unrecht, wenn man ihm eine weitgehende Übereinstimmung mit seinen Entwürfen attestiert. Und noch etwas ist dem Zitat hinzuzufügen: Die dortige Liste der Befugnisse für deutsche Sicherheitsbehörden ist nicht einmal annähernd als vollständig zu bezeichnen. Sie wäre z.B. zu ergänzen um die elektronische Rasterfahndung durch den BND (also die verdachtslose Kontrolle der Telekommunikation mit dem Ausland), Videoüberwachungen des öffentlichen Raumes durch die Polizei, große Lauschangriffe in StPO und Polizeigesetzen (ohne Straftatverdacht) und die strukturelle Einbindung von Geheimdiensten in die Strafverfolgung.

All dies sind Befugnisse, die Bürger schon bisher in erster Linie als Objekte von staatlichen Überwachungsmaßnahmen definieren. Besonders eklatant ist dieser Umstand bei Ermächtigungen, die jedermann im Visier haben. Dazu zählen aus dem Terrorismusbekämpfungsgesetz insbesondere die neuen Vorfeldbefugnisse für die Geheimdienste. Aber auch die Möglichkeit, biometrische Merkmale in die Personaldokumente aufnehmen zu dürfen, impliziert denknotwendig den generellen Verdacht, daß jedermann irgendwann zum Straftäter werden kann. Die Bürger und Bürgerinnen also in den Augen des Gesetzes als potentielle Sicherheitsrisiken.

Und noch etwas ist richtig und wichtig am eingangs genannten Zitat: Die äußerste Grenze dessen, was die Gesetze erlauben, ist ein Maßstab für die Verfaßtheit unseres Staatswesens. Es ist nämlich eine andere Frage, in welchem Ausmaß von bestehenden Ermächtigungen Gebrauch gemacht wird. Dies wird von ganz verschiedenen Faktoren, etwa der technischen, personellen und finanziellen Ausstattung der Sicherheitsbehörden, beeinflußt. Ein freiheitliches Staatswesen liegt aber auf dem Sterbebett, wenn bürgerliche Freiheiten von polizeilicher Zurückhaltung und/oder fehlenden Ressourcen der Sicherheitsbehörden »geschützt« werden.

Angesichts der genannten Befunde kann schon heute nicht mehr behauptet werden, daß die Redlichkeitsvermutung noch unangefochtene Geltung beanspruchen kann. Diese gebietet die staatliche Vermutung in die Rechtstreue der Bürger. Und das tut sie keineswegs als Selbstzweck: Mit dieser Vermutung ist das Verbot gekoppelt, die Menschen ohne jeglichen Verdacht in polizeirechtlicher oder strafprozessualer Hinsicht in Anspruch zu nehmen. Also: Ohne Gefahr und ohne Straftatverdacht ist die bürgerliche Freiheitssphäre prinzipiell geschützt.

Die Abkehr von diesem Prinzip ist unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten von erheblicher Bedeutung, denn es gilt allgemein als gesicherte Erkenntnis unter Juristen, daß die Redlichkeitsvermutung den Rechtsstaat vom Polizeistaat unterscheidet. Das in immer zahlreicheren Gesetzen zutage tretende Mißtrauen den Menschen gegenüber als gesetzliches Prinzip ist für sich genommen also schon von Bedeutung.

Das zweite Sicherheitspaket sieht unter anderem vor, daß sich zukünftig viele tausend Angestellte von sogenannten sicherheitsempfindlichen Einrichtungen (Versorgungseinrichtungen/Wasserwerke/Rundfunkanstalten ...) eine Überprüfung ihres Lebensumfeldes gefallen lassen sollen. Ohne ihr Wissen – selbstverständlich. Sie können sich damit – mangels Kenntnis – gegen solche Ausforschungen auch nicht zur Wehr setzen, selbst wenn sie es wollten. Um Geldströme internationaler Terrororganisationen zu erforschen, darf der Verfassungsschutz bei Banken Informationen abfragen und Auskünfte bei Postdienstleistern und Luftverkehrsunternehmen einholen. Er entwickelt sich damit weiter zu einer Ermittlungsbehörde. Allgemein hat die Polizei einen wesentlich erleichterten Zugriff auf das Ausländerzentralregister erhalten. Fingerabdrücke von Asylbewerbern können automatisch mit dem sogenannten Tatortspurenbestand des BKA abgeglichen werden. Und wer als Ausländer per Visum in die Bundesrepublik einreisen möchte, kann sogleich – zusammen mit den deutschen Einladenden – von den Geheimdiensten auf seine »Zuverlässigkeit« hin überprüft werden. Da paßt es ins Bild, daß SPD-Innenexperte Dieter Wiefelspütz eingesteht, daß man sich mit den neuen Befugnissen dem »gläsernen Ausländer« nähere. Die sich anschließende Frage ist, ob bzw. wann sich die Politik auch offiziell zum »gläsernen Menschen« bekennt.

Indessen: Während bis vor einigen Jahren ein solches Bekenntnis zu einem Aufschrei bürgerlich-liberaler Kräfte geführt hätte, so schien dieses Mal das Aufbegehren eher einem verschämten Raunen zu gleichen. Die Gesellschaft stellt sich offenkundig auf andere Zeiten ein.

Auch was die fortschreitende Vernetzung von Geheimdiensten und Polizeibehörden angeht, so wird ein rechtspolitisch sehr bedeutsamer Weg weiter beschritten: Die De-facto-Abschaffung des Trennungsgebots zwischen Polizei und Geheimdiensten, das nach dem NS-Faschismus die Entstehung übermächtiger (weil unkontrollierbarer) Machtapparate verhindern sollte. Die Republik verabschiedet sich auch insoweit von der Nachkriegszeit.

Warum aber das alles? Was zum Beispiel haben biometrische Merkmale in deutschen Pässen mit mutmaßlich arabischen Terroristen zu tun, die Verkehrsflugzeuge in amerikanische Wolkenkratzer fliegen lassen? Der Zusammenhang ist wahrlich nicht leicht herzustellen. Und warum die gesetzgeberische Hektik, wo doch stets (und erst jüngst wieder) betont wurde, daß es in Deutschland keinerlei Anhaltspunkte auf bevorstehende Anschläge gibt? Interpretationshilfe leistet der Innenminister höchstselbst: In einem Spiegel-Interview bekannte er ganz freimütig, daß die entsprechenden Gesetzesinitiativen keineswegs erst nach dem 11. September eingeleitet worden sind (Nr. 39/2001, S. 32). Das spricht eher für eine durchaus geschickte Instrumentalisierung der Ereignisse vom 11. September und weniger für eine Ad-hoc-Reaktion, mit der solche Anschläge in Zukunft verhindert werden sollen.

Wenn es bisher also noch so war, daß die haushaltsmäßig begrenzten Mittel für Aufgaben der Inneren Sicherheit ein De-facto-Schutz für die in Bedrängnis geratenen Freiheitsrechte der Bürger waren, so wird sich das insoweit gegründete Vertrauen auf den Bestand des freiheitlichen Rechtsstaats als trügerisch erweisen. Die Zeit, in der uns die Legalität vor einem autoritären Staatswesen bewahrte, sind vorbei. Und auf diese Weise werden die Finanzlöcher der öffentlichen Haushalte zu einem freiheitlichen Segen.

* Dr. Fredrik Roggan ist Mitglied des Bundesvorstandes der Bürgerrechtsorganisation Humanistische Union e.V. und Autor des Buches "Auf legalem Weg in einen Polizeistaat", Bonn 2000


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