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"Eure Welt der Sozialstaatszerstörung und der Aufrüstung erkennen wir nicht an"

Ostermarsch 2006-I: Die Reden von Angelika Claußen (IPPNW), Otto Meyer (Pfarrer i.R.) und Theodor Ebert (Hochschullehrer)

Mit der Dokumentation der Reden zu den diesjährigen Ostermärschen wollen und können wir keine Vollständigkeit herstellen. Wir bemühen uns vielmehr aus dem großen Arsenal von uns zugänglichen Manuskripten eine Auswahl von Reden zu treffen, die zusammen genommen etwas von der Vielfalt der Argumentation und der politischen Breite der Friedensbewegung widerspiegelt.
Im Folgenden dokumentieren wir die Reden von

Weitere Ostermarsch-Reden gibt es



Angelika Claußen*

Ostermarschrede 15.04.2006 in Bielefeld

Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde,

Wie oft haben wir in den letzten Jahren gegen drohende Kriege oder gerade begonnene Kriege protestiert: 1991 Irak, 1999 Kosovo-Jugoslawien, 2002 Afghanistan, 2003 Irak und heute Iran.

Der Hauptakteur dieser Kriege war ausnahmslos die Weltmacht USA, mit Unterstützung von Großbritannien, teilweise mit Unterstützung der NATO, teilweise mit Unterstützung einer Koalition von "willigen Staaten". Dem letzten US-geführten Krieg gegen den Irak hatte die Bundesregierung zwar die aktive Unterstützung untersagt, ihn dann jedoch tatkräftig unterstützt, indem sie den USA und Großbritannien Überflugrechte gewährte und die logistische Nutzung der US-Militärbasen in Deutschland erlaubte.

Die damalige Bundesregierung traute sich nicht, eine wirklich unabhängige Politik von der Imperialmacht USA durchzuführen.

Heute stehen wir hier, weil wir einen neuen US-geführten Krieg befürchten, einen Krieg gegen den Iran.

Erst gestern bekräftigte US-Außenministerin Rice, die USA zögen die gesamte Bandbreite der Optionen des UN-Sicherheitsrates in Betracht, damit der Iran keine andere Chance habe, als sich zu fügen.

Aber: es gibt keinen Grund für den Aufbau einer solchen Drohkulisse: Unabhängige wissenschaftliche Experten und US-Geheimdienste sagen übereinstimmend, dass es noch 3 - 10 Jahre für die Produktion einer iranischen Atombombe dauern wird.

Warum sind die westlichen Politiker, der USA, der EU und eben auch diejenigen in der Bundesrepublik auf einem Auge blind, wenn sie die Sicherheitslage im nahen und mittleren Osten einschätzen? Warum wird die drohende Gefahr der Atombewaffnung des Iran, die in der Tat verhängnisvoll wäre, so deutlich gekennzeichnet, während gleichzeitig über die schon längst stationierten israelischen Atomsprengköpfe, etwa 1000 km weiter westlich, kein Wort verloren wird?

Statt auf Diplomatie zu setzen und nach wirklichen Lösungen zu suchen, wird die Spirale von Drohung und Eskalation weiter in Gang gehalten: Erst kürzlich berichtete der renommierte amerikanische Journalist Seymour Hersh unter Berufung auf Washingtoner Quellen von konkreten Plänen der US-Militärführung, nach denen die US-Regierung den Einsatz von bunker-brechenden Nuklearwaffen gegen die Atomanlage Natanz durchführen will.

Was würde ein solcher Angriff mit Atomwaffen für die betroffenen Menschen bedeuten? Eine IPPNW-Studie über die Folgen eines Angriffs auf Isfahan mit nuklearen Bunker-Bustern wurde 2005 von unserer US-amerikanischen Sektion erstellt. Sie kam zu dem Schluss, dass der radioaktive Fallout solcher Bunker-Buster Bomben weit entfernte Regionen bis hin zu Afghanistan, Pakistan und Indien betreffen könnte und schwere gesundheitliche Schäden sowohl der Zivilbevölkerung wie auch der Nuklearexperten zur Folge hätte.

Was steckt eigentlich hinter dieser Drohkulisse, der sich leider auch die EU-Staaten, einschließlich unserer Bundeskanzlerin Frau Merkel, angeschlossen haben? Ich denke, das Kernziel der US-Außenpolitik lautet: "Regime-change", Sturz des iranischen Regimes. Nun ist natürlich der Iran auch nicht vollkommen unschuldig an der Eskalation. Sein Präsident Ahmadinedschad liefert Washington Argumente für einen Angriff auf dem Silbertablett. Er attackiert Israel und verteidigt ein wirtschaftlich zweifelhaftes Atomprogramm. Er streitet mit seinen Verhandlungspartnern und strapaziert deren Geduld - und ist so ein dankbarer Gegner. Von den dauerhaften Menschenrechtsverletzungen und Folter, die der iranische Staat im Namen der Religion vollführt, ganz zu schweigen.

Und noch ein anderer Aspekt verkompliziert die Situation:

Der Atomwaffenstaat Israel droht regelmäßig damit, bald im Alleingang militärisch gegen den Iran vorzugehen. Die Israelis sehen im Iran mittelfristig die größte Bedrohung ihrer Sicherheit. Sie beharren darauf, dass Teheran schon in wenigen Monaten, spätestens aber in wenigen Jahren der Weg zur Bombe nicht mehr verwehrt werden könne. Deshalb müsse sofort schnell und entschieden gehandelt werden. Für die Lösung dieser außerordentlich komplizierten und gefährlichen Lage - nicht umsonst spricht man vom Pulverfass Nahost - taugen weder die Rezepte aus heißen Kriegen noch aus dem Kalten Krieg. Keine Atomwaffen, keine militärischen Lösungen.

Bei klarer und distanzierter Einschätzung, unabhängig von den USA, ist durchaus noch ausreichend Zeit und Möglichkeit für friedliche, diplomatische Lösungswege vorhanden. Deutschland und der EU, einschließlich Großbritannien, kommt hier eine Schlüsselposition zu:
  1. Als erstes müssen Deutschland und die EU sich klar und unmissverständlich von jeglicher militärischen Lösung, wie sie die USA (und auch Israel) in der Hinterhand bereithalten, distanzieren. Bundesregierung und die EU müssen entschieden "Nein` zu den US-Plänen sagen. Es gibt kein einziges politisches Ziel, dass einen Angriffskrieg gegen den Iran rechtfertigen würden.
  2. Als Übergangslösung ist im Interesse der Kriegsvermeidung die Umsetzung des russischen Vorschlags zur Urananreicherung hilfreich. Obwohl ich die außenpolitische Haltung der gegenwärtigen iranischen Regierung gegenüber Israel für inakzeptabel halte, hat der Iran ein völkerrechtlich verbrieftes Recht auf Urananreicherung (NPT). Der russische Vorschlag sichert dem Iran dieses Recht prinzipiell zu, unterbindet aber gleichzeitig die industrielle Urananreicherung auf iranischem Boden und erfüllt so die zentrale Forderung der EU und der USA. Dessen ungeachtet lehnt die Friedensbewegung im Verein mit der Anti-Atombewegung selbstverständlich die "friedliche" Nutzung der Atomkernspaltung ebenso wie die militärische weiterhin ab.
  3. Die Friedensbewegung schlägt Deutschland und der EU vor, mit dem Iran eine intensive wirtschaftliche Zusammenarbeit auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien zu entwickeln. Denn die Sorge des Iran um die Zukunft der iranischen Energieversorgung, auch unabhängig vom Öl, ist ernst zu nehmen.
  4. Deutschland und die EU sollten die Einberufung einer Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit vorschlagen, mit dem Ziel der Schaffung einer atomwaffenfreien Zone, die Israel einschließt.
Dadurch würde es auch möglich, die Zukunft für die gesamte Region neu zu denken. Die Perspektive einer Organisation der regionalen Sicherheit und Zusammenarbeit für den Mittleren und Nahen Osten (OSZMNO) ist ohnehin die einzig denkbare Grundlage, nicht nur für die Existenz Israels und für eine dauerhafte Sicherheit der westlichen Ölversorgung, sondern auch für die friedliche Regelung zahlreicher anderer grenzüberschreitender ethnischer Konflikte sowie von Streitigkeiten um die Nutzung von Ölquellen, Wasserquellen und Wasserstraßen.

Es ist ein Trugschluss zu glauben oder sich vorzumachen, dass eine Unterscheidung zwischen ziviler und militärischer Nutzung der Atomtechnologie möglich ist. Das haben die letzten 50 Jahre bewiesen. Die Friedensbewegung fordert deshalb: Atomwaffen abrüsten und Atomkraftwerke abschalten und einen zügigen Umstieg auf die erneuerbaren Energien, in Deutschland wie auch global.

Die Zukunft in ein solares Zeitalter hat schon begonnen!

* Dr. Angelika Claußen ist niedergelassene Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und Vorsitzenden der IPPNW.


Otto Meyer*

Ostermarsch-Kundgebung Rheinland, Düsseldorf, 15. April 2006

Solidarität und sozialer Friede statt Aufrüstung und Krieg

Liebe Friedens-Freundinnen und -Freunde!

Ich freue mich darüber, daß Ihr hier im Rheinland in so großer Zahl zum Auftakt des Ostermarsches 2006 gekommen seid. Wie jetzt seit 46 Jahren versammeln wir uns zu Ostern auch in Deutschland (seit 1958 in England) auf den Plätzen und marschieren durch die Straßen, um uns und das ganze Land daran zu erinnern: Eine andere Welt ist möglich - eine Welt ohne Ausbeutung und Krieg, eine Welt in Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität, wo der Mensch ein Helfer ist des Menschen und nicht einer des anderen Feind.

Mit den Ostermärschen wollen wir das an der christlichen Kultur beerben, was daran allein zu beerben sich lohnt, Ostern bedeutet ja: Die Kräfte des Lebens siegen über die Mächte des Todes. Nicht das Kreuz von Karfreitag, also nicht Terror, nicht Folter, nicht Mord, nicht die Macht der Henker und Gewaltherrscher definieren den Ausgang der Geschichte. Nein, die Menschenwelt wird diese längst überholte Rüstung aus barbarischer Vorzeit abschütteln wie Plunder und aufstehen in ein Leben mit allen und für alle, immer wieder, hier und da, und eines Tages ein weltweites Ostern feiern als Aufstand und Sieg des Lebens über Krieg und Tod.

Ihr wisst, wir sind noch nicht angekommen im Reich der Freiheit und des Friedens, wir stehen noch unter dem Schock der bösen Nachrichten von Karfreitag, von Hinrichtung und Tod, weltweit. Und Ihr wisst, daß inzwischen auch von unserem Land, von Deutschland wieder Kriege möglich sind (Jugoslawien) und noch möglicher gemacht werden sollen. Dieses Land, seine Regierungen und seine großen Konzerne wollen dabei sein, wenn wieder verstärkt weltweit um Einfluss- und Herrschaftszonen gestritten wird - sie nennen das ihre „Globalisierung“.

Die deutschen Eliten wollen dabei sein, wenn mit neoimperialistischen Strategien die Machthaber der sog. ersten Welt ihr Empire errichten - effektiver und intensiver als einst das Römische Imperium zu der Zeit von Christi Geburt. Deutschland ist Juniorpartner der US-Hegemonialmacht in dem sog. „Krieg gegen den Terror“. In Afghanistan stehen Tausende deutscher Soldaten, am Hindukush sind „wir“ Besatzungsmacht und bewachen die neue Ordnung, mit Freiheit für Opiumanbau und Todesstrafen gegen aufmüpfige Frauen oder Religionswechsler. Deutschland war ja auch im Irakkrieg vielfältig zu Diensten, ob mit Überflugrechten oder BND-Agenten vor Ort. Neue Eingreiftruppen werden zusammengestellt, die Bundeswehr zu einer Interventionsarmee umgerüstet. Ob im Rahmen der EU oder der Nato, u. U. auch in eigener Regie wie im Kosovo oder Mazedonien. Der neue Verteidigungsminister, Herr Jung, verlangt die Änderung des Grundgesetzes, weil dort immer noch steht: „die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten“ ist „verfassungswidrig … (und) unter Strafe zu stellen.“ Danke, Herr Minister, Sie machen uns darauf aufmerksam, daß wir schon länger von Verfassungsfeinden regiert werden!

Unter deutscher Führung soll ein EU Militärverband im Kongo intervenieren, damit dort „freie Wahlen“ zelebriert werden können. - Geht es wirklich um Freiheit und Demokratie? Nein, es geht um freedom and democracy, wie Weltbank und IWF sie definieren: Freiheit für Multis und Kapital, freien Zugang für Waren und freien Zugriff auf Rohstoffe. Die Kongo-Mission ist dazu bestimmt, dieses Zentralafrikanische Land mit seinen reichen Bodenschätzen an Diamanten, Kupfer, Kobalt, Gold oder Uran für europäische Konzerne noch mehr zu „öffnen“. Ganz unverfroren verlangt der Bundesverband der Deutschen Industrie: „Die Transformation der Bundeswehr von einer klassischen Verteidigungsarmee hin zu hochmobilen Krisen-Interventionskräften ist zwingend erforderlich.

Wenn es um das Militär geht, spielt Geld keine Rolle. Hunderte von Milliarden kostete bisher schon der Irakkrieg, die US-Regierung rechnet inzwischen mit weit über 1 Billion Gesamtkosten - bezahlt durch Kürzung der letzten noch vorhandenen Sozialprogramme im eigenen Land und durch Anleihen bei den reichen Kapitalbesitzern in der ganzen Welt.

Und genau so funktioniert das auch hierzulande. Das Militär darf kosten - obwohl doch unser Staat angeblich pleite ist. Rund 25 Mrd. Euro stehen offiziell im sog. Verteidigungshaushalt mit Steigerungsraten von 700 Mrd. pro Jahr. Das ist aber keineswegs alles. Die Auslandseinsätze werden weitgehend aus anderen Haushaltsstellen bezahlt, der Kongoeinsatz z. B. gilt ja als „Entwicklungshilfe“! Das seit Jahren laufende Programm zur Umrüstung der Bundeswehr von einer Verteidigungsarmee zu weltweit einsetzbaren Eingreiftruppen wird auch bezahlt durch den Verkauf von nicht mehr benötigten Gelände und Kasernen oder durch alte Panzer, verkauft an arme Staaten in der Dritten Welt - freedom and democracy! Diese Einnahmen darf der Kriegsminister zusätzlich einstecken. Die Militärausgaben der EU waren schon 2001 mit 172 Mrd. Euro nach den USA die zweithöchsten der Welt, sie waren ebenso hoch wie alle Rüstungsausgaben von China, Japan, Russland, Afrika, Lateinamerika und Südasien zusammengerechnet.

Doch im EU-Verfassungsentwurf sollen die Mitgliedsstaaten verpflichtet werden zu noch entscheidend höheren Ausgaben für Aufrüstung. Und zugleich läuft in allen EU-Staaten das Programm zur Zerstörung bisheriger Sozialstandards. Schröder hatte seine Agenda 2010 ja fast buchstabengetreu nach den Vorgaben des EU-Ministerrates aufgelegt. Was hierzulande an Grausamkeiten gegen Arbeitslose mit den Hartzgesetzen angerichtet wurde, oder gegen Rentnerinnen und Rentner, gegen Pflegebedürftige, gegen Kranke und alle gesetzlich Versicherten oder im Bildungsbereich, in der Jugendhilfe usw., usw. , dasselbe wird in allen europäischen Ländern versucht es läuft dort aber zum Glück nicht immer so glatt wie bisher bei uns.

Die Große Koalition will hier weitermachen: mehr für Rüstung und Soldaten, Bundespolizei und Überwachungsstaat - aber striktes Sparprogramm bei allem Sozialen. Franz Müntefering - der Rattenfänger aus dem Sauerland - schickt Arbeitslose unter 25 wieder zurück an den Tisch zu Mama oder Papa (sofern vorhanden), damit die dem arbeitsscheuen Nachwuchs doch noch die rechte Arbeitsmoral beibringen... Müntefering will Rente erst ab 67 zahlen lassen - und verkündet mit treuwestfälischem Augenaufschlag: Für mein Vadder wär dat auch besser gewes’n, dann hätt der nich siebenmal im Frühjahr seinen Garten umgraben müssen…

Ulla Schmidt, die Frohnatur aus Eurem Aachener Rheinland, lässt Kommissionen so lange über Zuzahlungen und Einsparpotenziale bei den Kranken beraten, bis jeder zweite gelernt hat, sich zu Hause selber zu operieren und auszukurieren, und die Alten endlich kapieren, daß sie spätestens im Pflegefall „sozialverträglich“ abzutreten haben, damit sie den Standort Deutschland nicht weiter belasten…

Die Arbeitsteilung zwischen Union und SPD in Berlin scheint perfekt: die CDU managt den Aufbau von Eingreiftruppen und Überwachungsstaat – die Sozialdemokraten schröpfen das gemeine Volk, und sei’s durch die weitere Steuerumschichtungen: weg von den Vermögenden und Unternehmern durch bald gänzliche Befreiung von Erbschafts- und Unternehmenssteuern, hin zu den abhängig Beschäftigten und Rentnern mit Kürzung der Pendlerpauschale und Mehrwertsteuererhöhungen.

Dieser finanzielle Zusammenhang auf staatlicher Ebene zwischen Sozialstaatszerstörung und Aufrüstung im Inneren und nach Außen ist aber nur der erste Aspekt.

Zugleich wird zweitens eine weitere Umschichtung von Geld und Kapital von unten nach oben innerhalb der Gesamtbevölkerung erreicht. Schon der frühere Arbeitgeberpräsident Hundt verlangte mehr soziale Unterschiede in der deutschen Konsensgesellschaft. Diese Vorgabe ist schon von Rotgrün in beachtlicher Weise erfüllt worden: Ihr Reichtums- und Armutsbericht von 2005 weist aus, daß die Zahl der statistisch Armen hierzulande in fünf Jahren um mehr als zehn Prozent zugenommen hat - durch Hartz IV ist ihre Zahl inzwischen noch einmal um 1 – 2 Millionen vergrößert worden. Und zugleich gab es noch nie so viele Millionäre und Milliardäre in Deutschland wie heute.

Sozialstaatszerstörung zwingt die Beschäftigten, auch niedrigere Löhne zu akzeptieren, und treibt sie in Eigenversicherungen und Verschuldungen. Zugleich bekommen Banken und Versicherungen mehr Gelder, die sie dann dem eigenen Staat leihen - oder gar zu höheren Prozentsätzen in US-Staatsverschuldungen investieren. Auf diese Weise finanzieren unsere Reichen die neokolonialen und neoimperialen Kreuzzüge von USA und EU - mit den Geldern, die sie zuvor den Rentnern, den Arbeitslosen und allen Lohnabhängigen vom Konto getrickst haben.

Es gibt noch einen dritten Aspekt für diesen Zusammenhang zwischen Aufrüstung und Sozialabbau: Das Setzen auf Rüstung und Krieg als Mittel der Weltinnenpolitik braucht kriegsbereite Menschen auch im Innern. Sozialstaatszerstörung weltweit und jetzt auch in den reichen Nationalstaaten hat genau diesen Effekt: Die Solidarität auch innerhalb der Klasse der Arbeiterschaft soll zerstört werden. Ausreichende Rente für alle von allen über Abzüge vom Lohn bezahlt? - Das ist doch „Sozialismus, „Unfreiheit“, schreien die Sprecher von Kapital und Unternehmerschaft - jeder muß wieder lernen, für sich alleine zu sorgen, auch wenn er krank oder arbeitslos wird. Früher hätten die Leute doch auch sich mit selbstgebastelten Krücken zufrieden gegeben oder ihr Brot klaglos in den Kaffee getunkt, ohne nach neuen Hüftgelenken oder teuren Zahnersatz zu schreien - verkündet Herr Mißfelder von der Jungen Union. Die Spaltung der eigenen Gesellschaft in Reich und Arm reicht nicht. Die in der Mitte müssen es lernen, auf die Unteren zu treten. Und sie müssen lernen, gegeneinander zu konkurrieren, Wettbewerb, „Flexibilisierung“, Kampf aller gegen alle, the survival of the fittest ist das wieder gefundene Naturgesetz, das der Kapitalismus braucht - im Zeitalter der „Globalisierung“ mehr als je zuvor. Von Arbeitslosigkeit mit der Aussicht auf Hartz IV bedrohte junge Menschen lassen sich auch besser für den Soldatenberuf rekrutieren. Und in einer sozial zerstörten, insgesamt kriegerischen gestimmten Gesellschaft lassen sich viel leichter Feindbilder produzieren: „Die Islamisten“ bedrohen uns, „Irans Präsident Ahmadinedshad“ ist der neue Hitler - Vorsicht, zuvor waren schon Milosevic und Saddam Hussein „Hitler“ - kurz darauf erfolgten die Kriegsüberfälle auf ihrer Länder! Verteufelungen aller Art, Nationalismen, Ethnozentrismen, Kulturalismen weltweit und vermehrt auch bei uns erhalten Hochkonjunktur. Ist das die Welt, in der wir leben wollen? Nein! und noch einmal: Nein! Eure Welt mit eurer Globalisierung von oben, der Globalisierung durch transnationale Konzerne, mit Militär und Eingreiftruppen, mit all den von Euch geplanten Kriegen als Mittel der Weltinnenpolitik wollen wir nicht! Wir setzen auf die Solidarität der Völker, auf Frieden, auf internationale Zusammenarbeit und gegenseitige Hilfe.

Wie groß die Bereitschaft für Völkerfreundschaft und Solidarität ist, zeigt sich immer wieder bei Naturkatastrophen. Wir sehen mit Freuden die Weltsozialforen in Porto Allegre oder Bombay. - Die alten Mächte dagegen aus big money and big government müssen sich bei ihren Treffen in Davos oder München von großen Polizeiaufgeboten schützen lassen oder auf einsame Inseln ausweichen...

Wir begrüßen die Ablehnung der unsozialen und kriegstreiberischen EU-Verfassung in Frankreich und Holland. Wir gratulieren der französischen Jugend zu ihrem so grandiosen Aufstand gegen die Zumutungen von Arbeitgebern und Regierung. Wir wünschen den Kollegen von ver.di und aus der IG-Metall viel Erfolg! - So wie wir uns freuen über jene bewiesene Kampfkraft der Kolleginnen und Kollegen von Gourmet am Flughafen hier in Düsseldorf, die wieder einen Tarifvertrag erstritten haben und die schlimmsten Lohnräubereien abwehren konnten.

Nein, ihr Politiker in Berlin oder Düsseldorf. Eure Welt der Sozialstaatszerstörung und der Aufrüstung erkennen wir nicht an. Wir fordern und realisieren eine Welt in Solidarität und Frieden, statt mit eurer Aufrüstung und euren Kriegen. Wir sagen den Sozialdemokraten: Eure Regierung ist weder sozial noch demokratisch, tretet ab, ihr Heuchler! Wir sagen den Christdemokraten: Schämt Ihr Euch nicht, Euch immer noch „Christen“ zu nennen? Eure Politik ist nicht christlich, sie ist eine Verhöhnung des Namens Jesu Christi, auch eindeutig ein Bruch des zweiten Gebotes: Du sollst den Namen Deines Gottes nicht unnützlich führen!

Es ist, als wollten die alten Mächte in Washington, Berlin oder Paris ihre Welt gefangen halten in einem unendlichen Karfreitag: Kreuz, Folter, Hinrichtung und Krieg sollen ewig die Menschheit in Angst und Schrecken halten. Doch diejenigen, die sich in Wahrheit Christen nennen, glauben nicht an Euren Karfreitag. Wir glauben an Ostern, Christus ist auferstanden, heute in all den Menschen, die den Mächtigen ins Gesicht lachen und aufstehen. Ob wir uns nun Christen oder Muslime oder Buddhisten oder Atheisten nennen: Wir alle hier sind Ostermarschierer! Wir glauben an das Leben und nicht an den Tod. Wir arbeiten für den Frieden und nicht für den Tod: „Eine andere Welt ist möglich und wird kommen!“

* Otto Meyer, Pfarrer i.R., Münster


Theodor Ebert*

Geistliche Besinnung zu Beginn des Ostermarsches in Fretzdorf am 17. April 2006

Was würde Jesus zum Bombodrom sagen?


Wir beginnen die 100. Protestwanderung gegen das Bombodrom mit einer Andacht vor einer evangelischen Kirche. Da fragt sich doch sicher mancher: Was soll eine solche religiöse Besinnung zu Beginn des 14. Ostermarsches der Bürgerinitiative Freie Heide? Ein Ostermarsch ist doch eine politische Veranstaltung des Bürgerprotestes und es ist doch überhaupt nicht selbstverständlich, dass in einer mehrheitlich säkularen Gesellschaft, für die Ostern ein Häschen- und Frühlingsfest ist, an denjenigen erinnert wird, dessen sogenannte Auferstehung von den Toten die Christenheit heute feiert. Wenn man "Auferstehung" in säkulares Deutsch übersetzt, dann wird hier behauptet: Die Botschaft des frommen Juden Jesus von Nazareth ist mit seiner Hinrichtung durch die römische Besatzungsmacht, die auf Anzeige und polizeilichen Zugriff einheimischer Kollaborateure erfolgte, nicht abgetan. Diese Botschaft Jesu gilt weiter und soll uns Hoffnung geben. Das ist eine fragwürdige Behauptung, wenn man sich an die Hinrichtung dieses Jesus, der am Palmsonntag noch als Volksheld mit Hosianna-Rufen empfangen worden war, erinnert. Ob er auferstanden ist oder nicht, ob seine Lehre gilt oder nicht, erweist sich am Verhalten derjenigen, die zu ihm halten. Die christlichen Kirchen sind der ökumenische Zusammenschluss derjenigen, die heute noch auf die Worte Jesu hören wollen und diesen Worten und vorbildlichen Handlungen eine aktuelle, eine neues Leben weckende Bedeutung beimessen - jenseits der Todesangst.

Als ich 1962 in Stuttgart zum ersten Mal an einem Ostermarsch teilnahm, war Martin Niemöller derjenige Christ, zu dessen Bibelauslegung ich das meiste Zutrauen hatte und dessen Reden über das Thema "Christ und Kriegsdienstverweigerung" ich studierte. Was mir an dem damaligen Kirchenpräsidenten von Hessen und Nassau und dem früheren persönlichen Gefangenen Adolf Hitlers in Dachau imponierte, waren seine Versuche, die Botschaft Jesu für sein eigenes Leben fruchtbar zu machen. Er tat dies nicht wie ein Professor der systematischen Theologie, der dank eines fabelhaften Intelligenzquotienten und seiner Belesenheit für jedes Problem nullkommanichts eine telegene Antwort findet, die sich für den Vortrag in prachtvollen Kathedralen oder Domen eignet, nein, Niemöller tat dies, indem er in der Art der Fischer vom See Genezareth - und das waren keine Theologen - eine so einfache, wie direkte Frage stellte und dann in der Bergpredigt an diesem See Genezareth eine Antwort auf diese Frage suchte. Diese Frage an die aktuellen Herausforderungen lautete für Martin Niemöller: "Was würde der Herr Jesus dazu sagen?" Also auf unsere Situation bezogen: Was würde der Herr Jesus zum Bombodrom sagen? Und was würde er zu der Behauptung sagen, dass wir Deutschen eine Nato Response Force brauchen, um den Terrorismus zu bekämpfen, und dass diese Nato Response Force in der Kyritz-Ruppiner Heide das Abwerfen von Bomben und den Luftkampf üben muss?

Da ich ja nun selbst Professor bin und als Mitglied der Kirchenleitung mit Bischöfen und sehr gebildeten Theologen zu arbeiten hatte und diese auch schätzen lernte, habe ich mir überlegt, ob es denn zulässig ist, so einfach und direk zu fragen: Was würde der Herr Jesus zum Bombodrom sagen? Wir wurden in der Kirchenleitung tatsächlich einmal so direkt gefragt. Die Synode wollte wissen, was wir von out of area Einsätzen der Nato halten? Das war eine klare Frage, welche die Perspektive des Aufbaus einer Nato Response Force bereits vorweg nahm. Bischof Forck meinte, aus jesuanischer Sicht gäbe es dazu nur eine kurze und klare Antwort: Wir sind dagegen. Andere meinten, wir müssten die dahinter stehenden Probleme aufgreifen und zu bearbeiten suchen. Das haben wir dann auch getan und das Ergebnis war unser Vorschlag, einen Zivilen Friedensdienst als Option für alle Wehrpflichtigen aufzubauen und diesen Zivilen Friedensdienst auf Inlands- und Auslandeinsätze vorzubereiten. Das Projekt ist noch nicht so weit gediehen, wie es sollte, aber es ist immerhin auf dem Weg.

Mir scheint die Situation heute ähnlich zu sein. Auf die direkte Frage: "Was würde Jesus zum Bombodrom sagen?" könnte man mit Bischof Forck oder Martin Niemöller antworten: Er wäre strikt dagegen. Eine andere Antwort ist mit der Bergpredigt überhaupt nicht vereinbar. Der christliche Glaube hängt nun mal an der Kernaussage: Beati sunt pacifici. Selig sind die Friedensstifter. Das heißt, auf die aktuelle Herausforderung des Terrorismus bezogen: Wir müssen die Ursachen gewaltsamer Angriffe ausfindig machen und mit konstruktiven Programmen Abhilfe zu schaffen suchen. Präzise, militärische Vergeltungsschläge, wie sie die israelischen Kampfpiloten demonstrieren, und der Krieg gegen den Terror in der Manier von Georg W. Bush sind kein jesuanisches, kein österliches Programm. Was man damit anrichtet, lässt sich im Blick auf Israel und Palästina einerseits und den Irak andererseits beobachten. Man muss nach den Ursachen der entsetzlichen terroristischen Angriffe suchen und mit konstruktiven Programmen dieser wahnsinnigen Gewalt allmählich den Schwung nehmen. Man muss die Terroristen und ihre Sympathisanten demotivieren. Als Supermacht oder als deren Bündnispartner mit Kampfflugzeugen aufzutrumpfen, wird das genaue Gegenteil bewirken.

Doch das Schwierige an dem jesuanischen Konzept ist, dass guter Wille und ein paar konstruktive Angebote nur in seltenen Fällen zu einem sofortigen Einlenken der sogenannten Terroristen führen. Das jesuanische Konzept verlangt, die gewaltsamen Bedrohungen auszuhalten, die Gewalt zu ertragen - und gleichzeitig im konstruktiven Programm fortzufahren. Das ist die politische Übersetzung des Ratschlags in der Bergpredigt, die andere Backe hinzuhalten. Bei anhaltendem Terror muss man die konstruktiven Programme verstärken. Wenn man eingesehen hat, dass eine Meile konstruktives Programm nicht reicht, dann muss man eben zwei und mehr Meilen gehen. Der Hamas nach einer demokratischen Wahl den Geldhahn zuzudrehen und gleichzeitig Israel U-Boote zu liefern, die Atomraketen tragen werden und die israelische Landnahme im Westjordanland und den monströsen Mauerbau zu tolerieren, ist keine jesuanische Strategie.

Doch es wäre ein Missverständnis, wenn man nun annehmen würde, dass die Anhänger einer gewaltfreien Strategie auf der Basis der Bergpredigt immer nur nachgeben oder sich gar zur Beteiligung an Gewalttaten nötigen lassen. Verbrechen gegen die Menschlichkeit müssen als solche bezeichnet werden, von wem auch immer sie begangen werden. Terroranschläge sind Verbrechen. Deutlicher Widerspruch und gewaltfreier Widerstand gegen das Unrecht passen zur Bergpredigt, weil sie den Gegner nicht verletzen, sondern ihm eine Chance geben, seinerseits das Verhalten zu ändern, damit die sonst endlose Kette von Gewalt und Vergeltung durchbrochen wird.

Ich spreche in der Andacht diese Grundsatzfragen der Politik an, weil ich den Eindruck habe, dass die Gegner und die Befürworter einer militärischen Nutzung des Kyritz-Ruppiner Heide aneinander vorbeireden und das Grundsatzproblem einer österlichen Antwort auf die sicherheitspolitischen Herausforderungen nicht angepackt wird.

Die Bürgerinitiative sagt, das Bombodrom ist den Anwohnern unzumutbar, und die lokale Wirtschaft weist darauf hin, dass der Tourismus unter dem Fluglärm leiden würde und dass die Hauptstadt dieses Naherholungsgebiet braucht, und die Ökologen sagen, dass die Naherholung viel umweltverträglicher ist als Ferntourismus. Das ist alles richtig und es ist auch vorstellbar, dass es der Bürgerinitiative gelingen wird, das Militär abzudrängen, so dass es die Einsätze der NATO Response Force woanders übt. Das ist ja seit Jahren der Fall. Der Bundestagsabgeordnete der Grünen Winfried Nachtwei, Mitglied des Verteidigungsausschusses, argumentiert bekanntlich so: Die Bundeswehr sagt doch selbst, die Luftwaffe sei im Rahmen des Bündnisses einsatzfähig. Also: die Bundeswehr braucht die Kyritz-Ruppiner Heide gar nicht. Dann wäre ja alles in Butter. Die Bundeswehr ist einsatzfähig. Man muss die NATO Response Force gar nicht in Frage stellen. Die Bundeswehr muss ihre Einsätze nur woanders üben.

Es ist möglich, dass die Bundeswehr eines Tages nachgibt, weil die Gerichte weiterhin im Sinne der Bürgerinitiative entscheiden oder weil um Wählerstimmen besorgte Parteien dem Bundesverteidigungsminister bedeuten, dass er sich das Bombodrom abschminken kann.

Wenn es so kommt, dann ist die Bürgerinitiative happy und wird von einem Sieg des gewaltfreien Widerstands sprechen. Doch aus der Sicht desjenigen, dessen Auferstehung wir an Ostern feiern, wäre das nicht der Sieg, sondern nur ein lokal begrenzter Erfolg, der uns vielleicht sogar von der eigentlichen Aufgabe ablenkt. Dann verschwindet die lokale Bürgerinitiative und die bisherigen Protest-wanderer gehen an Ostern Eier suchen wie andere brave Deutsche.

Und dann stehen alle Deutschen eines Tages vor Tatsache, dass mal wieder wie im Kosovo-Krieg die deutsche Luftwaffe Angriffe auf zivile Ziele wie Donaubrücken und Automobilfabriken fliegt, weil mal wieder ein Verteidigungs- und ein Außenminister Auschwitz beschwören und superschlaue Theologen mal wieder zu dem Ergebnis kommen, dass der Einsatz militärischer Mittel leider, leider die ultima ratio sei, das letzte Mittel sei, um Völkermord zu vermeiden.

Genau darauf sind die Deutschen im Kosovokrieg reingefallen. Es gab angeblich keine andere Möglichkeit. Die deutsche Luftwaffe musste sich am Krieg gegen Serbien beteiligen. Das Merkwürdige war dann nur, dass der Milosevic, der von der NATO für die Unterdrückung der Albaner verantwortlich gemacht wurde, dann gar nicht von der NATO gestürzt wurde, sondern schon nach relativ kurzer Zeit durch einen gewaltfreien Aufstand der Serben.

Meine Sorge ist, dass der Konflikt mit dem Iran um sein Atomprogramm in ähnlicher Weise bearbeitet wird wie der Kosovo-Konflikt durch die NATO. Der Konflikt eskaliert immer weiter, bis dann eines Tages diejenigen, die heute noch sagen, dass im Falle des Iran nur eine diplomatische Lösung möglich sei, dann doch aus der Luft die atomaren Anlagen zerstören werden - möglicherweise unter Beteiligung der NATO Response Force. Da gebe ich Winfried Nachtwei recht: Das kann die Luftwaffe auch ohne Übungsflüge in der Kyritz-Ruppiner Heide. Leider ist das so.

Und dann geht die Eskalation weiter. Dann haben wir den Terrorismus in Deutschland. Je mehr militärische Überlegenheit aus der Luft demonstriert wird, desto gehässiger wird die terroristische Reaktion am Boden ausfallen.

Und dabei könnte gerade Deutschland aufgrund seiner Erfahrungen mit seinem zivilen Widerstand gegen den Bau von Atomkraftwerken und seinem Vorsatz, die vorhandenen Atomkraftwerke abzuschalten, dem Iran ein Vorbild sein, sich gar nicht erst auf ein Atomprogramm einzulassen. Das Verrückte ist doch, dass die Mehrheit der Iraner glaubt, es würde ihnen mit den atomaren Anlagen etwas ganz Wertvolles vorenthalten, während die Mehrheit der Deutschen sie doch lieber heute als morgen los wäre. Worin die Mehrheit der Deutschen eine Belastung sieht, empfindet im Iran eine Mehrheit als eine erstrebenswerte nationale Errungenschaft. Daran sind aber auch unsere Politiker schuld, die unsere Kritik an der zivilen und der militärischen Nutzung der Atomenergie im Ausland nicht offensiv vertreten. Da gibt es ein Glaubwürdigkeitsproblem. Wir gestatten doch, dass amerikanische Atomwaffen auf deutschem Boden stationiert werden. Wenn wir den Abzug in aller Deutlichkeit fordern würden, dann würden wir bei unseren diplomatischen Missionen im Iran ganz anders dastehen.

Ich weiß, es ist viel verlangt, von der Bürgerinitiative Freie Heide zu erwarten, dass sie sich um Weltpolitik kümmert und sich die Sorgen der Perser macht, die sich jetzt mit einem vermeidbaren Konflikt belasten. Aber wir leben nun mal im Zeitalter der Globalisierung und darum ist es jetzt an der Zeit, dass die Bürgerinitiative Freie Heide sich bei der Frage, was würde der Herr Jesus zum Bombodrom sagen, mit dem Gedanken anfreundet, dass sie hier vor Ort auch Verantwortung für Sorgen anderer Länder und Völker mit übernimmt. Das war das Aufregende der Botschaft Jesu, dass seine lokale Bergpredigt am See Genezareth nach Ostern und nach Pfingsten als eine Botschaft von globaler Relevanz verstanden wurde. Selbstverständlich geht es nicht darum, Muslime zu missionieren, sondern wir müssen durch unser hiesiges Verhalten zeigen, dass wir uns vor Terrorismus und Energieengpässen nicht fürchten, sondern darauf vertrauen, dass diese Probleme sich mit friedlichen Mitteln bearbeiten lassen und dass wir die Geduld haben, akute Bedrohungen auszuhalten - ohne zu militärischen Sanktionen zu greifen.

Ich halte solch globales Denken auch in einer lokalen Bürgerinitiative für ein kluges Engagement. Die Befürworter des Bombodroms legitimieren sich mit der Herausforderung durch den internationalen Terrorismus und mit dem Verweis auf unsere Abhängigkeit von fossilen Energien und der Notwendigkeit, den Zugang zum Weltmarkt militärisch zu garantieren. Meine Sorge ist, dass auf der Linie der aktuellen amerikanischen Weltmachtpolitik, zu der Deutschland zurzeit im besten Falle ein Verhältnis des Lavierens und Zögerns hat, eine Lage eintreten könnte, welche in Deutschland zu einem Stimmungsumschwung zugunsten der harten Linie von Bush und Rumsfeld führt und dann im Zuge dieses Stimmungsumschwungs auch das Bombodrom als sicherheitspolitisch notwendig erachtet wird. Wenn es eng wird, dann werden sich die sicherheitspolitischen Belange gegen die wirtschaftlichen Interessen des Tourismus durchsetzen.

Darum ist es notwendig, dass auch die Bürgerinitiative sich mit sicherheitspolitischen Fragen offensiv auseinandersetzt. Wenn man Martin Niemöllers Frage heutzutage ernst nimmt, dann kann man sie gar nicht beantworten, ohne sich selbst zu fragen: Wie stehe ich eigentlich zu dem Problem des internationalen Terrorismus und der ihn letztlich motivierenden ungerechten Verteilung der Güter dieser Erde?

Ich weiß, dass man in der Bürgerinitiative Freie Heide diesen Problemen nicht gleichgültig gegenübersteht. Nach den Anschlägen auf die Twin-Towers in New York hat mich die Bürgerinitiative noch im September des Jahres 2001 zu einem Vortrag über "Pazifismus nach den Terroranschlägen in den USA" nach Rheinsberg eingeladen. Der für den "Spiegel" arbeitende Journalist Hendrik Broder hatte für meine Überlegungen nur Hohn und Spott übrig und seine Zusammenstellung von Zitaten pazifistischer Reaktionen in dem Buch "Kein Krieg, nirgends: Die Deutschen und der Terror" avancierte temporär zum Bestseller und Broder tourte mit Amerika-Fähnchen am Revers durch die Talkshows. Ich stehe heute noch zu dem, was ich damals in Rheinsberg gesagt habe und ich denke, dass auch manche anderen Zitate, die Broder sozusagen aufgespießt hat, sich im Rückblick als Stimmen der Vernunft lesen. Doch ich erwähne diese Erfahrung, weil sie uns lehrt, dass man als Bürgerinitiative auch Zustimmung einbüßen kann, wenn man jenseits des breiten Konsenses, der alle Bürgermeister im Umfeld des Bombodroms die Fahne des Tourismus hochhalten lässt, sich auf die Frage einlässt: Was würde der Herr Jesus zum Bombodrom und zum Krieg gegen den Terrorismus sagen?

So zu fragen, ist riskant. Ich nehme Ihnen im Anschluss an diese Andacht, einige Pfiffe nicht übel. Das wäre auch noch in der Tradition der Zeit Jesu. Als er mit seiner Bergpredigt fertig war, reagierten die Zuhörer ziemlich entsetzt. Doch ich finde es richtig, dass die Bürgerinitiative sich jedes Jahr der Herausforderung einer Andacht zu Beginn des Ostermarsches stellt und ich erwarte, dass das, was ich Ihnen heute sagen musste, Sie nicht davon abhalten wird, an dieser Tradition festzuhalten. Amen.

* Prof. Dr. Theodor Ebert, lehrte von 1970-2003 Politische Wissenschaft am Otto-Suhr-Institut der FU-Berlin. Von 1984-1996 war er Mitglied der Kirchenleitung der Ev. Kirche in Berlin-Brandenburg.


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