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UNO und Völkerrecht stehen auf dem Spiel

Von Norman Paech *


1. Die schleichende Revision des klassischen Völkerrechts

Es ist leicht, die Ohnmacht und das Versagen der UNO zu demonstrieren. Keinen der letzten vier großen Kriege konnte sie verhindern: weder den Krieg der NATO gegen Jugoslawien 1999, noch den nun schon über fünf Jahre dauernden Krieg gegen und in Afghanistan, noch den Krieg gegen den Irak seit 2003 oder den Krieg Israels gegen den Libanon in diesem Sommer. Letzterer war nur eine Eruption im andauernden Kleinkrieg zwischen Israelis und Palästinensern, aber an ihm zeigt sich die Ohnmacht der UNO besonders deutlich. Dieses Versagen hat nur in begrenztem Maße etwas mit der zweifellos unvollkommenen Konstruktion und Struktur der UNO zu tun. Entscheidender ist ihre Abhängigkeit von dem guten Willen der großen Mächte, denen gegenüber ihr ohnehin schwach entwickelter Sanktionsmechanismus ohnmächtig ist. Die USA haben es in allen vier Fällen auf verschiedene Weise demonstriert.

Anders ist es mit dem Völkerrecht, obwohl seine Existenz und Garantie eng mit der UNO verbunden ist. Seine Neudefinition 1945 in Gestalt der UNO-Charta ist ohne Gründung der Organisation nicht denk- und durchführbar gewesen. Diese Verklammerung von Norm und Organisation macht seine Stärke und seine Schwäche aus. Und so sehen wir heute, dass derjenige, der die Axt an das Völkerrecht legt, auch die UNO unterminiert. Die Schwächung des Völkerrechts zielt gleichzeitig auf die Entlegitimierung der UNO. Und so werde ich mich in meinen weiteren Ausführungen diesem sehr viel subtileren Angriff auf die UNO durch die schleichende Revision des klassischen Völkerrechts widmen.

Wer erinnert sich noch der Rede von US-Präsident George Bush vor dem US-Kongress am 11. 9 1990, wo er das Projekt einer neuen Weltordnung aus der Taufe hob?

„Aus dieser schwierigen Zeit kann unser fünftes Ziel – eine neue Weltordnung hervorgehen: Eine neue Ära, freier von Bedrohung durch Terror, stärker in der Durchsetzung von Gerechtigkeit und sicherer in der Suche nach Frieden. Eine Ära, in der die Nationen der Welt im Osten und Westen, Norden und Süden prosperieren und in Harmonie leben können. Hundert Generationen haben nach diesem kaum auffindbaren Weg zum Frieden gesucht...Heute kämpft diese Welt, um geboren zu werden, eine Welt, die völlig verschieden ist von der, die wir kannten. Eine Welt, in der die Herrschaft des Gesetzes das Faustrecht ersetzt...Eine Welt, in der der Starke die Rechte der Schwachen respektiert.“

Ein eindrucksvolles Stück politischer Lyrik, welches leider dem Test der anschließenden Kriege nicht standgehalten hat. Er orientierte die Zukunft der internationalen Beziehungen auf die Koordinaten und Prinzipien des klassischen Völkerrechts, auf die UNO-Charta und das gleiche Recht, die Souveränität und territoriale Integrität aller Staaten. Diese Position ist zwar weder von Clinton noch von Bush jun. offiziell in ihren Botschaften aufgegeben worden. Aber mit dem 11. 9. 2001 beansprucht die US-Administration drastische Revisionen an den überkommenen Regeln der Friedenssicherung für sich, und es mehren sich die Stimmen, die zumindest das zentrale Prinzip der UN-Charta, das Gewaltverbot des Art. 2 Ziff. 4 für tot erklären. Die seit 1945 entwickelten Prinzipien werden nicht länger als richtungsweisend für die Weiterentwicklung des Völkerrechts erachtet, sondern unter dem Vorwurf ihrer Ineffizienz und Ohnmacht angesichts der neuen Gefahren einer radikalen Umwertung unterworfen. Der 11. 9. 2001 diente der Ausrufung des weltweiten Ausnahmezustandes, mit dem sich die USA ermächtigte, unter dem Diktat des Terrors zur Verteidigung einer Weltordnung aufzutreten, in der von jetzt ab sie allein die Feinde der zivilisierten Welt definiert und bekämpft.

Die in dieser Situation am meisten gefährdeten Prinzipien des Völkerrechts sind das der Souveränität und Gleichheit der Staaten, das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das Interventionsverbot und das absolute Gewaltverbot wie sie in der UNO-Charta von 1945 verbürgt sind. Ihre Herausbildung und Durchsetzung hat Jahrhunderte in der Geschichte der internationalen Beziehungen gebraucht und war immer mit dem Aufstieg und Zerfall großer Mächte verbunden.

2. Das spanische Weltreich, die spanische Scholastik und der gerechte Krieg

Souveränität und das Recht zum Krieg waren seit Beginn der zwischenstaatlichen Beziehungen eng miteinander verknüpft. Ja, das Recht zum Krieg galt geradezu als Ausweis und Bestätigung der Souveränität. In der frühen christlichen Theologie (Augustinus, Thomas von Aquin) gab es die ersten Versuche, den willkürlichen Krieg einzugrenzen und ihn auf den „gerechten Krieg“ zu beschränken. Mit der Expansion Europas über die ganze Welt und der Errichtung des spanischen Weltreiches im 14. und 15. Jahrhundert wurde die Berechtigung zum Krieg gegen fremde Völker zur zentralen Frage der scholastischen Theologen und Juristen in Europa. Spaniens Eroberungen und Herrschaft über fremde Völker wurden als Ausdruck seiner durch den katholischen Papst legitimierten Souveränität nicht in Frage gestellt, wohl aber die Methoden und Instrumente der Herrschaft. Die Kriterien für den „gerechten Krieg“ wurden enger gezogen und die ersten Ansätze eines Selbstbestimmungsrechts der Völker formuliert (Bartolomé de las Casas).

Mit dem Übergang der kolonialen Dominanz zunächst auf Frankreich, dann auf die Niederlande und England verschwanden allerdings die im Ergebnis immer erfolglos gebliebenen Versuche, die Kriege durch „gerechte“ Gründe zu begrenzen. Der Krieg wurde wieder ausschließlich an die Souveränität der Staaten gebunden, welches die Souveränität der großen Mächte war.

3. Die europäische Aufklärung, die französische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Völker

Erst in den Schriften der europäischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts (Montesquieu, Rousseau, Kant) nahm die Sicherung des Friedens und die Eingrenzung des Krieges wieder eine zentrale Stelle ein. Sie überwand die theologische Diskussion und erkannte erstmals den Einfluss der widersprechenden gesellschaftlichen Interessen auf die Entscheidung zwischen Krieg und Frieden. Sie verurteilte die bis dahin üblichen Kabinetts- und Handelskriege und ließ nur den Verteidigungskrieg gelten. Dies war auch die Leitlinie für die revolutionären Kräfte der Jahre 1789 ff. Die französische Nationalversammlung erklärte 1790, keinen Eroberungskrieg führen zu wollen und verankerte diesen Grundsatz in der Verfassung von 1791. Und nicht nur das, die Nationalversammlung knüpfte daran die Sanktion, dass jeder Minister oder „Agent der Exekutive“, der sich einer Aggression schuldig macht, wegen Hochverrats zur Verantwortung gezogen werden soll. Robespierre fasste Artikel zwei und drei seines Vorschlages für eine „Erklärung des Rechts“ von 1790 in die berühmt gewordenen Worte:
„Celui qui opprime une nation, se déclare ennemi de toutes. Ceux qui font la guerre à une peuple pour arrêter le progrès de la liberté, et anéantir les droits de l’homme, doivent être poursuivi par tous, non comme des ennemis ordinaires, mais comme des assasins et des brigands rebelles.»
Ihr wesentliches Argument war das Selbstbestimmungsrecht der Völker, welches ebenfalls zum ersten Mal in der Geschichte in einer Verfassung verankert wurde. Robespierre und die Jakobiner lehnten den Krieg auch dann noch kategorisch ab, als die Interventionsdrohung der dynastischen Konterrevolution immer offener wurde und die Girondins sich mit dem königlichen Hof zur „Kriegspartei“ verbündeten.

Diese sah im Krieg nicht nur innenpolitisch die Möglichkeit, mittels Notstandsgesetzgebung der vielfältigen Probleme Herr zu werden, sondern auch außenpolitisch für Handel und Industrie neue Märkte zu erkämpfen. Die Kriegserklärung von 1792 eröffnete zunächst nur einen Verteidigungskrieg – das revolutionäre Frankreich verteidigte sich gegen das reaktionäre Europa. Napoleon allerdings begrub mit seinem Feldzug über Europa schon bald die revolutionären Prinzipien des Selbstbestimmungsrechts und des Verbots des Angriffskrieges für die nächsten hundert Jahre unter den Toten zahlloser Angriffs- und Eroberungskriege bis zum 1. Weltkrieg.

4. Der Völkerbund, der Briand-Kellog-Pakt und das Kriegsverbot

Das Ende des ersten Weltkrieges und die erfolgreiche russische Revolution brachten nicht nur eine neue Machtkonstellation sondern auch neue Denkansätze hervor. Exponenten waren die Sowjetunion und Lenin sowie die USA und der amerikanische Präsident Wilson. Beide forderten die radikale Abkehr von den Regeln und Erfahrungen der alten Welt, die unter dem Begriff „Gleichgewicht der Kräfte“ die Diplomatie Europas seit dem Westfälischen Frieden von Münster und Osnabrück 1648 beherrscht hatten – Lenin in seinem ersten Friedensdekret vom November 1917 und Wilson in seinen berühmten 16 Punkten vom Februar 1918. Die neue Friedensordnung sollte auf den Prinzipien der Selbstbestimmung und kollektiven Sicherheit beruhen. Wilsons Credo – insofern war er Kantianer – lautete: demokratische Nationen sind per se friedfertig. Selbstbestimmung verursache keinen Krieg, vielmehr ihr Fehlen, die Verweigerung der Selbstbestimmung. Alle europäischen Abkommen waren bis dahin davon ausgegangen, dass man Grenzen berichtigen und verschieben könne, um ein Kräftegleichgewicht herzustellen. Und diese Balance genoss in jedem Fall Vorrang vor den Wünschen und Rechten der Völker. Die neue Friedensordnung sollte auf einem allgemeingültigen und juristisch fixierten Konzept von dem, was man unter Frieden versteht, basieren: das war der Paradigmawechsel von der alten Politik der Großmächte zum neuen System der kollektiven Sicherheit, wie es im Völkerbund verwirklicht werden sollte.

Auf dieser Basis wurde der Völkerbund errichtet. Allerdings konnte in der Satzung noch kein absolutes Verbot des Angriffskrieges sowie eine vollkommene Auflösung des Kolonialsystems festgeschrieben werden. Die hegemonialen Interessen der alten Mächte beherrschten noch zu sehr den neuen Bund. Erst zehn Jahre später 1928 einigten sich der französische Außenminister Aristide Briand und sein US-amerikanischer Kollege Frank B. Kellogg auf ein Verbot des Angriffskrieges, allerdings ohne Sanktionen für den Verstoß gegen dieses Verbot. Die anderen Mächte des Kontinents, vor allem die Sowjetunion und Deutschland traten dem Vertrag bei. Das Konzept scheiterte nicht erst am 2. Weltkrieg, sondern bereits zu Beginn der dreißiger Jahre, als Japan China angriff , um die Mandschurai abzutrennen und Italien Äthiopien überfiel, ohne dass der Völkerbund in der Lage war, die Sanktionsmöglichkeiten der Satzung zu ergreifen.

5. Die Vereinten Nationen, die UNO-Charta und das Gewaltverbot

Die Sieger des zweiten Weltkriegs, vor allem die USA, die Sowjetunion und Großbritannien, entwarfen mit der Neuordnung der Nachkriegswelt auch eine neue internationale Rechtsordnung, die in der UNO-Charta ihren Ausdruck fand. Sie war die Summe der bis dahin in der Geschichte erarbeiteten Rechtsprinzipien: die Souveränität der Staaten, ihre Gleichheit ob groß oder klein, stark oder schwach, das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das Verbot der Intervention in die inneren Angelegenheiten eines Staates und das zum absoluten Gewaltverbot ausgeweitete Kriegsgebot. Hinzu kam mit den sog. Nürnberger Prinzipien die individuelle Strafbarkeit für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Auch für dieses neue System kollektiver Sicherheit, welches auf dem gescheiterten Völkerbund aufbaute, gilt die gleiche Regel: soweit und solange die großen Mächte sich einig sind in der Durchsetzung der Prinzipien, bzw. sich gegenseitig in einem Machtgleichgewicht blockieren, funktioniert das System. So war es möglich, dass die nukleare Abschreckung die Gefahr eines Nuklearkrieges bisher gebannt hat. Das Gleichgewicht der Kräfte hat darüber hinaus zumindest in Europa eine so lange Epoche des Friedens ermöglicht, wie es sie in seiner Geschichte bisher noch nicht gegeben hat.

6. Die neuen Kriege, die neuen Revisionisten und die Erosion des Völkerrechts.

Diese Epoche ist jedoch mit dem Untergang der Sowjetunion und des alten Machtgleichgewichts ebenfalls zuende gegangen. Und die damals erhoffte Friedensdividende dauerte keine zehn Jahre. Der Krieg gegen Jugoslawien 1999 war ein offener Verstoß gegen das Völkerrecht, wenn er dieses damit auch nicht vollkommen außer Kraft gesetzt hat. Doch haben sich mit dem Versuch der völkerrechtlichen Legitimierung dieses Krieges und der beiden nachfolgenden Kriege gegen Afghanistan und den Irak verstärkte Tendenzen vor allem in der US-amerikanischen Völkerrechtsliteratur gezeigt, zu einer grundlegenden Revision des Völkerrechts anzusetzen.

Der Tod des Völkerrechts ist bereits wiederholt verkündet worden. 1970, fünfundzwanzig Jahre nach der Verkündung der UNO-Charta schrieb z. B. Thomas Frank, dass das zentrale Prinzip der Charta, das Gewaltverbot des Art. 2 Z. 4, tot sei. Sechzehn Jahre später befand Jean Combacau:
„Die internationale Gemeinschaft glaubt nicht mehr länger an das System der Charta, weil die kollektive Garantie, die ihre Mitglieder gegen ihr individuelles Recht auf Gewaltanwendung eingetauscht haben, nicht funktioniert und dafür kein wirklicher Ersatz gefunden worden ist... Was uns auch immer offiziell mit der gesetzlichen Situation vorgespiegelt wird, die internationale Gemeinschaft ist faktisch wieder dort angelangt, wo sie vor 1945 war: im Naturzustand; und dort macht der Begriff der Selbstverteidigung bekanntlich keinen Sinn.“
Ihre Begründung lässt sich mit den Worten Michael Glennons aus dem Jahr 2002 zusammenfassen, mit denen auch er den Abgesang auf das Gewaltverbot anstimmt:
„Seit 1945 haben sich Dutzende von Mitgliedstaaten an gut über 100 zwischenstaatlichen Konflikten beteiligt, die Millionen von Menschen getötet haben. Das internationale Rechtssystem ist freiwillig und die Staaten werden nur durch die Regeln verpflichtet, denen sie zugestimmt haben. Ein Vertrag kann seine bindende Wirkung verlieren, wenn eine genügende Anzahl von Vertragsstaaten ein Verhalten praktizieren, welches gegen die Regeln des Vertrages verstößt. Die Übereinstimmung der UN-Mitgliedstaaten zu dem allgemeinen Gewaltverbot, wie es in der UNO-Charta zum Ausdruck kommt, ist auf diesem Weg durch eine veränderte Absicht ersetzt worden, wie sie in ihren Handlungen ausgedrückt worden ist. ... Es scheint, dass die Charta tragischerweise den Weg des Briand-Kellog-Paktes gegangen ist, der vorgab, den Krieg zu illegalisieren und der von jedem größeren Weltkriegsteilnehmer unterschrieben worden ist.“

Noch haben sich diese Stimmen in der Weltmeinung nicht durchgesetzt. Aber die unipolare Weltmachtstellung der USA mit ihrem Dominanzanspruch begünstigt derartige Tendenzen, die auf eine Erosion der Völkerrechtsordnung, wie sie 1945 neu begründet wurde, zielt. Wie hartnäckig sie sind, zeigen drei aktuelle Ansätze der deutschen Diskussion, die vor allem auf die Relativierung des absoluten Gewaltverbots zielen.

Da ist zunächst die bekannte Figur der „humanitären Intervention“, mit der versucht wurde, den Überfall auf Jugoslawien zu legitimieren. Sie beruht auf der Etablierung einer neuen Hierarchie im Völkerrecht, die die Menschenrechte an deren Spitze stellt und darunter die staatliche Souveränität und das Gewaltverbot einreiht. Dieses Konzept spekuliert auf die Wiederbelebung des Naturrechts in Gestalt überpositiver Normen, denen sich das Völkervertragsrecht unterzuordnen hat. Allerdings ist dieser offensichtliche Rückfall in vergangene Zeiten in der Wissenschaft zurückgewiesen und die allein relevante positivrechtliche Kodifizierung der Menschenrechte in völkerrechtlichen Verträgen betont worden. Für einen derart vertraglich begründeten Menschenrechtskodex gilt jedoch Artikel 103 UNO-Charta:
„Widersprechen sich die Verpflichtungen von Mitgliedern der Vereinten Nationen aus dieser Charta und ihre Verpflichtungen aus anderen internationalen Übereinkünften, so haben die Verpflichtungen aus dieser Charta Vorrang.“
Daraus folgt eindeutig die Unterordnung der menschenrechtlichen Verträge unter zwingende Normen der UNO-Charta, wie das absolute Gewaltverbot des Art. 2 Ziff. 4 und die völkerrechtliche Unzulässigkeit einer „humanitären Intervention“.

Eine modernere Variante ist die Berufung auf das jüngst in Umlauf gesetzte Konzept einer „Responsibility to protect“, aus der rasch eine „Pflicht zur Intervention“ in Fällen gemacht wird, in denen schwerste Verbrechen wie Völkermord und ähnlich schwere Verbrechen identifiziert werden. Derzeit wird versucht, mit dieser Figur eine militärische Intervention mit UNO-Truppen in Darfur/Sudan durchzusetzen. Das Konzept wurde von der International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS) in den Jahren 2000/2001 entwickelt, die von der Kanadische Regierung eingerichtet worden war. Sie sollte einen Ausweg aus der auch von UNO-Generalsekretär Kofi Annan anerkannten Unzulässigkeit der „humanitären Intervention“ wie in Fällen von Ruanda und Srebrenica finden. Die Kommission sprach sich für eine Interventionsmöglichkeit in extremen und außergewöhnlichen Fällen aus. Dies machte aus der Responsibility allerdings noch kein Interventionsrecht oder gar –pflicht für einzelne Staaten und Staatengruppen, selbst wenn das Konzept auch 2005 in einer Resolution der Generalversammlung anerkannt wurde. Denn die Durchbrechung des absoluten Gewalt- und Interventionsverbots in der UNO-Charta ist weder durch einen Kommissionsbericht noch durch eine Resolution der Generalversammlung möglich. Dazu bedarf es entweder der Änderung der Charta oder einer gewohnheitsrechtlichen Änderung, die jedoch nur durch eine dauerhafte Praxis der Staaten eintreten kann. Auch der Verweis auf die Charta der Afrikanischen Union (AU) vom 11. Juli 2000 führt in die Irre. Zu den Grundsätzen ihrer Arbeit zählt sie zwar in Art. 4 (h):
„Das Recht der Union, auf Beschluss der Versammlung in einem Mitgliedstaat zu intervenieren und zwar im Hinblick auf schwerwiegende Umstände, namentlich: Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“.
Dieses „Recht“ durchbricht jedoch nicht das Gewaltverbot und das Gebot der Nichteinmischung, die gleichfalls als Grundsätze (f) und (g) in der Charta anerkannt sind und durch ihre Verankerung in der UNO-Charta übergeordnete Gültigkeit haben (Art. 103 UN-Charta). Das Recht ist nur mit der Zustimmung des Mitgliedstaates oder auf Grund einer Resolution des UNO-Sicherheitsrats gem. Art. 39 und 42 UNO-Charta aktivierbar.

Juristisch ist also nicht an den klassischen Ver- und Geboten des Völkerrechts vorbeizukommen. So versucht man es auf politologischem Weg, in dem man die Disparität von Kriegsrealität und völkerrechtlicher Norm unterstellt. Anknüpfungspunkt ist der seit dem 11. 9. 2001 zum Hauptfeind erklärte internationale Terrorismus, der eine neue und vom klassischen Kriegsrecht nicht erfassbare Asymmetrie in das gegenwärtige Kriegsgeschehen gebracht habe. Die klassische Konstellation der Staatenkriege werde weitgehend abgelöst durch asymmetrische Kriege zwischen sog. Privatakteuren, den internationalen Terrorgruppen, und Staaten. Der prononcierteste Vertreter dieser These, Herfried Münkler, geht davon aus, „dass nur zwischen Staaten dauerhafte Friedensordnungen etablierbar sind, während der notorische Gestaltwechsel asymmetrischer Politikakteure, die Schübe strategischer Kreativität, die davon ausgehen, und die nichtreziproken Rationalitäts- und Legitimitätsstrukturen, die damit verbunden sind, permanente Veränderungen verursachen, die immer wieder Krieg und Gewalt zur Folge haben.“ Mit dieser Hypothese will er die „Privatakteure“, ob Einzeltäter, Al Qaida oder Hisbollah, außerhalb der Völkerrechtsordnung stellen und etwa das Prinzip der Verhältnismäßigkeit der Mittel außer Kraft setzen: „Wer hier auf Verhältnismäßigkeit besteht, nimmt Partei, auch wenn er selbst eine solche Parteinahme gar nicht intendiert.“ Im Klartext: Wer von Israel die Einhaltung der Verhältnismäßigkeit der Mittel bei ihrem Kampf gegen Hisbollah einfordert, nimmt – gewollt oder ungewollt - Partei für Hisbollah. Darin liegt die sehr eindeutige Aufforderung, Israels Kriegsführung gegen den Libanon nicht mit den Maßstäben des humanitären Völkerrechts zu beurteilen. Statt einer Verurteilung wegen schwerer Kriegsverbrechen, wie durch eine Kommission des UNO-Menschenrechtsrats geschehen, wird die rechtsblinde Parteinahme für die staatliche Kriegspartei propagiert. Nähme man diesen Vorschlag ernst, müsste er nicht nur für Israel und seinen Kampf gegen Hisbollah, Hamas und die Al Aksa-Brigaden gelten, sondern auch für die Truppen der Operation Enduring Freedom gegen die Taliban in Afghanistan.

Münkler hat offensichtlich die noch nicht so lange zurückliegende Epoche der kolonialen Befreiungskämpfe vergessen, welches bereits „asymmetrische Kriege“ von Guerillas gegen die alten Kolonialstaaten waren. Das Problem ist also nicht so neu und wurde seinerzeit mit der Einbindung der Befreiungsbewegungen in die Rechte und Pflichten des humanitären Völkerrechts versucht, zu regeln. Münkler hingegen meint, mit einem Konzept der Doppelstandards allen nichtstaatlichen Formen der kriegerischen Gewalt begegnen zu können. Im Ergebnis läuft es auf die Befreiung der Staaten von den Einschränkungen und Verboten der Gewaltausübung hinaus und entzieht dem ohnehin gefährdeten humanitären Völkerrecht den Rest seines normativen Einflusses.

7. Die Stabilisierung des Völkerrechts

Es mag angesichts der jüngsten Entwicklung wenig überzeugend klingen, aber ein nüchterner Blick auf die vergangenen Jahrhunderte zeigt uns, dass nie zuvor in der Geschichte der internationalen Politik das Völkerrecht, und damit die rechtliche Regelung internationaler zwischenstaatlicher Beziehungen, einen derart schnellen Wandel, eine derart progressive Kodifizierung erfahren hat wie seit der Gründung der UNO 1945. Dazu gehört die Erweiterung des Kriegsverbotes (Briand-Kellog-Pakt von 1928) zum Gewalt- und Interventionsverbot in der Charta der Vereinten Nationen und durch die anschließende Resolutionspraxis der Generalversammlung. Dazu gehört ferner die Durchsetzung des Rechts auf Selbstbestimmung in der Epoche der Dekolonisation. Dieses Recht, welches bald nach den Deklarationen der französischen Revolution durch die Armeen Napoleons in das Magma der Geschichte untergepflügt wurde, brauchte knapp zweihundert Jahre, bis es über die Stationen des Völkerbundes und der Vereinten Nationen erst in den siebziger Jahre dieses Jahrhunderts als zwingendes Recht allgemein anerkannt wurde.

Zu diesem Fortschritt gehört auch die umfassende Kodifizierung der individuellen Menschenrechte, selbst wenn der rechtliche Status der ökonomischen und sozialen Rechte immer noch bestritten und auf bloße politische Programmatik abgewertet wird. Und wenn darüber hinaus die Ergänzung und Erweiterung der individuellen Menschenrechte durch kollektive den großen Industriestaaten noch abgerungen werden muss – es handelt sich um das Recht auf Frieden und auf Entwicklung -, der Fortschritt liegt bereits in der Formulierung derartiger Rechte durch die Menschenrechtskommission der UNO und die Übernahme dieser Konzepte durch die Generalversammlung. So ist auch die Einrichtung eines Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte überhaupt der erste Ansatz, das Individuum aus seiner völkerrechtlichen Nichtexistenz herauszuholen und in den unmittelbaren Schutzraum völkerrechtlicher Sanktionen gegen den eigenen Staat zu stellen. Die verschiedenen Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegen die Türkei sprechen eine deutlichere Sprache und verschaffen den Folteropfern mehr Rechte und Wiedergutmachung als die europäischen Regierungen sie bisher von der türkischen Regierung erreichen konnten.

Am Anfang der gesellschaftlichen Organisation der Bundesrepublik nach dem zweiten Weltkrieg hat die Frage der Einordnung der BRD in die internationale Völkergemeinschaft durchaus eine prominente Rolle gespielt. Dabei war vor allem über die Stellung des Völkerrechts in seinem Verhältnis zum nationalen Recht zu entscheiden. In einer denkwürdigen Debatte im Laufe der Beratungen des Parlamentarischen Rates von 1948 sagte damals Carlo Schmid (SPD):

“Die einzige wirksame Waffe des ganz Machtlosen ist das Recht, das Völkerrecht. Die Verrechtlichung eines Teiles des Bereichs des Politischen kann die einzige Chance in der Hand des Machtlosen sein, die Macht des Übermächtigen in ihre Grenzen zu zwingen. Selbst die Gesetze eines Drakon, von denen man das Wort ‚drakonisch‘ ableitet, waren ein Fortschritt, denn sie setzten der Macht wenigstens gewisse Grenzen. Die fürchterliche Peinliche Halsgerichtsordnung Karls V., deren Lektüre uns heute Schaudern macht, war einmal ein Fortschritt, denn auch sie setzte der Macht wenigstens gewisse Grenzen. Der Vater des Völkerrechts, Hugo Grotius hat genau gewusst, was er getan hat. Er hat erkannt, dass es, nachdem es der englischen Übermacht gelungen war, die holländische Flagge fast ganz von den Meeren zu verjagen, nur ein Mittel gab, Hollands Lebensmöglichkeiten zu erhalten, nämlich die Lebensverhältnisse auf der hohen See zu verrechtlichen und gegen das englische mare clausum das mare liberum zu setzen. Die sog. kleinen Mächte sind nicht umsonst die großen Pioniere des Völkerrechts gewesen; das hat einen – oft uneingestandenen und unerkannten – politischen Grund. Daher sollten wir Deutsche, gerade weil wir heute so machtlos sind, mit allem Pathos, das uns zu Gebote steht, den Primat des Völkerrechts betonen.“

Die gegenwärtige Gefährdung der Völkerrechtsordnung des UNO-Systems ist nicht durch den Widerspruch der Rechtswissenschaft und ihrer Vertreter zu beseitigen. Die Stärkung der alten Prinzipien hängt entscheidend davon ab, ob es gelingt, sie mit einer realen Macht gegen ihre Auflösung zu schützen. Denn Völkerrecht verdankt seine Existenz und seinen Erhalt nicht allein der wissenschaftlichen und juristischen Argumentation, sondern in erster Linie der Akzeptanz und Durchsetzung durch die Staatengemeinschaft. Die Völkerrechtsordnung und ihre Institutionen der UNO waren nicht in der Lage, den völkerrechtswidrigen Überfall auf den Irak zu verhindern. Dazu hätte es einer starken Gegenkraft bedurft. Auch die Drohungen gegen den Iran können leider nicht mit dem Hinweis auf die UNO-Charta, den Non-Proliferation-Treaty und das allgemeine Völkerrecht abgewehrt werden. Auch hier bedarf es einer starken Gegenmacht, die den Prinzipien politische Geltungskraft verleiht. Diese kann jedoch nur dann aufgebaut und wirksam werden, wenn wir die Staaten auf ihre eigenen Prinzipien immer wieder verpflichten. Volkssouveränität äußert sich nicht nur in den Wahlen alle vier oder fünf Jahre, sondern in dem permanenten Plebiszit für den Primat des Völkerrechts als Friedensrecht.

* Prof. Dr. Norman Paech, Hamburg; Völkerrechtler und Mitglied des Deutschen Bundestags;
Plenumsreferat auf dem 13. Friedenspolitischen Ratschlag, 2./3. Dezember 2006, an der Universität Kassel



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