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Demonstrationen pro und kontra Verfassung

In Ägypten spitzt sich die Konfrontation zu

Von Pedram Shahyar, Kairo *

Der Machtkampf des ägyptischen Präsidenten mit der Justiz geht in eine neue Runde. Das oberste Verfassungsgericht verschob am Sonntag eine Anhörung, die zur Auflösung der von Islamisten beherrschten Verfassunggebenden Versammlung und des Oberhauses im Parlament hätte führen können.

Der Nahada-Platz in Giza ist deutlich kleiner als der legendäre Tahrir in der Kairoer Innenstadt, mit dessen Dauerbesetzung Demonstranten vor 22 Monaten Präsident Hosni Mubarak zur Amtsaufgabe nötigten. Aber er war am Sonnabend ebenfalls sehr gut gefüllt. Den ganzen Tag über kamen Menschen aus den verschiedensten Teilen der Stadt, um ihre Sympathie mit der Politik der Muslimbrüder und ihrem Präsidenten Mohammed Mursi zu bekunden.

Allerdings hatte man den Eindruck, dass ihre Demonstration zentral organisiert und koordiniert war. Anders als bei den Kundgebungen der Opposition auf dem Tahrir-Platz, zu denen die Teilnehmer aus den Stadtteilen häufig zu Fuß ziehen, hatten die Muslimbrüder offenbar viele Busse besorgt, die ihre Anhänger nach Giza brachten.

Nach Angaben der Kairoer Zeitung »Al Ahram« sind so über den ganzen Tag weit mehr als 100 000 in der Millionenstadt nahe den Pyramiden, 20 Kilometer südwestlich der Hauptstadt, zusammengekommen. Dennoch waren es wohl weniger als bei der Opposition am Dienstag. Während auf dem Tahrir-Platz auf den Transparenten unverhohlen Mursis Rücktritt verlangt wird, beschränkten sich die Parteigänger des erst ein halbes Jahr im Amt befindlichen Präsidenten auf Parolen mit Forderungen nach mehr Religiosität in der Öffentlichkeit, nach Aufwertung der Scharia in der Verfassung und nach einem islamischen Staat. Auf Transparenten wurde Mohammed Mursi aber auch als »Beschützer der Revolution« gefeiert.

Neben den Muslimbrüdern waren viele Anhänger der extrem konservativ-religiösen Salafisten aufmarschiert, was sich an vielen schwarzen Fahnen und an Flaggen Saudi-Arabiens zeigte. Es sieht aus, als hätten die bisher von einer moderaten Führung geleiteten Muslimbrüder für dieses öffentlichkeitswirksame Kräftemessen den Pakt mit den religiösen Rechten gesucht, um eine neue Verfassung gemäß ihren Wünschen durchzusetzen.

Mursi hatte in den letzten Tagen zwar wieder versucht, sehr moderate Töne anzuschlagen. In einem längeren Fernsehinterview betonte er ein weiteres Mal, dass seine neuen Machtbefugnisse allein zum Schutz der Revolution und für eine Übergangsphase gedacht sind. Er weigere sich, so erklärte Mursi, die Christen im Lande, die Kopten, als »eine Minderheit« zu bezeichnen, weil sie »ein elementarer Teil der ägyptischen Nation« seien.

Allerdings suchten manche seiner Unterstützer auf der Straße die Konfrontation. Gegner Mursis und des Verfassungsentwurfs wurden als Gottlose beschimpft, die gegen den Islam seien. Insbesondere in ländlichen Gebieten werden sie damit vermutlich überwiegend auf Zustimmung stoßen und so auch ein Ja zur Verfassung bewirken.

Trotz der Proteste der Opposition - das machte Mursi unmissverständlich klar - soll aber am Fahrplan des Verfassungsprozesses festgehalten werden. Das Referendum über die Verfassung, so Mursi am Sonnabend, werde wie geplant am 15. Dezember abgehalten.

Wie diese Abstimmung konkret ablaufen soll, ist noch unklar. Die Justiz, die für die Durchführung eines Referendums zuständig ist, befindet sich im Streik und weigert sich, den Wahlprozess zu organisieren. Eine Mehrheit für den Verfassungsentwurf der Islamisten ist dennoch sehr wahrscheinlich. Wie groß sie ausfällt, entscheidet maßgeblich über Stärke oder Schwäche der neuen politischen Herrscher Ägyptens.

* Aus: neues deutschland, Montag, 03. Dezember 2012

Das islamische Recht – die Scharia

Die islamische Rechts- und Lebensordnung Scharia soll in der neuen ägyptischen Verfassung zentrale Bedeutung haben. In Scharia-Angelegenheiten soll künftig die Meinung der obersten Religionsgelehrten des Kairoer Al-Azhar-Instituts eingeholt werden. Das ist eine Stärkung traditionalistischer islamischer Rechtspositionen.

Die Scharia gründet auf dem Koran und der überlieferten Lebenspraxis des Propheten Mohammed. Es gibt aber kein für alle Muslime gültiges Werk, sondern unterschiedliche Auslegungen verschiedener – sunnitischer wie schiitischer – Rechtsschulen aus dem 7. bis 10. Jahrhundert. In der islamischen Theologie gilt die Scharia als die Ordnung Gottes, die Frieden und Gerechtigkeit schafft. Der Islam betrachtet dabei Politik und Religion als eine untrennbare Einheit; die Scharia ist das politische und gesellschaftliche Ordnungsprinzip. Sie regelt nicht nur Rechtsnormen wie das Familien- und Strafrecht, sondern auch religiöse Vorschriften für Muslime.

In Iran (schiitisch) und Saudi-Arabien (sunnitisch) ist die Auslegung der Scharia, was grausame Bestrafungen wie das Steinigen untreuer Ehefrauen betrifft, besonders nah am Mittelalter. (dpa/nd)

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Mit gespaltener Zunge

Von Ronald Etzel **

Das einzige, was solch ein Regime versteht, ist ökonomischer Druck.« Der Europaparlaments-Präsident Martin Schulz von der SPD gab am Wochenende den Zornigen, als eine Frankfurter Sonntagszeitung seine Meinung zu Ägyptens Präsident Mursi einholte.

Harte Worte. Aber vielleicht sind sie Ergebnis des schlechten Gewissens der Sozialdemokraten - der deutschen, ihrer Internationale (SI) und nicht zuletzt von Schulz selbst. Die Partei von Mursis Vorgänger Mubarak, die der Prototyp einer institutionalisierten Kleptokratie war, gehörte bis unmittelbar vor ihrem Machtverluste nicht nur der SI an, sondern erfreute sich darin der besonderen Fürsorge von Schulz, denn: Auch wenn es Parteien aus Ländern seien, in denen es »keine mit westlichen Maßstäben vergleichbaren Demokratiestandards« gebe, so Schulz damals, - »redet man nicht mit ihnen, kann man sie nicht beeinflussen«.

Das gilt offenbar nicht mehr. Jetzt soll nicht geredet, sondern gedrückt und erpresst werden, weil die Muslimbrüder religiöse Gefühle zu politischen Zwecken instrumentalisieren. Die Beobachtung ist sicher nicht falsch, allerdings spricht Häuptling Schulz mit gespaltener Zunge. Denn genau diese Instrumentalisierung wird von EU wie SI in Syrien unterstützt und ihre Totalausformung in Saudi-Arabien großherzig beschwiegen. Und ob sich die von Schulz bevorzugten Mursi-Gegner über dessen Hilfe richtig freuen, ist noch die Frage. Denn Wirtschaftssanktionen sind etwas, was garantiert die wenigsten Ägypter gutheißen können.

** Aus: neues deutschland, Montag, 03. Dezember 2012 (Kommentar)


Gottesdiktatur in Kairo

Mursis islamistischer Verfassungsentwurf bedroht Ägyptens demokratische Errungenschaften. Richter sprechen von "psychologischem Mordanschlag"

Von Werner Pirker ***


Die Moslembrüder, Profiteure des Volksaufstandes von 2011, haben ihre dominante Stellung in der verfassunggebenden Versammlung dazu genutzt, den Entwurf einer islamischen Konstitution zu verabschieden und ihre Absicht, Ägypten zu einem "Gottesstaat" umzugestalten, entscheidend voranzutreiben. "Willkommen im Gottesstaat", kommentierte ein Blogger den Handstreich ironisch. "Das Volk will Gottes Gesetz", begrüßen hingegen die Anhänger eines auf islamischen Grundsätzen beruhenden Staates die "gottgewollte" Vorherrschaft des Islamismus über die Gesellschaft. Daß tagelang Hunderttausende Menschen für die Herrschaft des Volkes und gegen Gottes, auf die Sicherung des oligarchischen Regimes gerichtetes Gesetz demonstrierten, scheint die religiösen Eiferer nicht zu kümmern.

Am Sonnabend überreichte der Vorsitzende der verfassunggebenden Versammlung, Hossam El-Gheriani, ein Mitglied der Moslembruderschaft, Präsident Mohammed Mursi den von den Islamisten in einem Schnellverfahren durchgepeitschten Verfassungsentwurf, der praktisch auf die Verabschiedung des säkularen Staates hinausläuft. Die Prinzipien der Scharia werden als die "wichtigste Quelle der Gesetzgebung" genannt, der Islam wird zur Basis allen Handelns erklärt.

Mursi will die Bevölkerung am 15. Dezember über den Entwurf abstimmen lassen. Er nennt das einen "Meilenstein in Ägyptens demokratischer Entwicklung". In Wahrheit soll eine demokratische Prozedur zum Meilenstein einer Entwicklung werden, in der die Volkssouveränität "Gottes Willen" unterworfen wird. Die ägyptische Opposition aus Linken, Liberalen und säkularen Nationalisten sowie Vertreter der koptischen Christen und Menschenrechtsorganisationen reagierten auf die Entscheidung zur Aufhebung der Trennung von Staat und Religion mit großem Entsetzen. Der liberale Oppositionspolitiker und Friedensnobelpreisträger Mohammed ElBaradei erklärte via Twitter: "Mursi hat einen Verfassungsentwurf zur Abstimmung gestellt, mit dem Grundfreiheiten untergraben und universelle Werte verletzt werden. Der Kampf geht weiter."

Ägyptens Richter sprechen von einem "psychologischen Mordanschlag" auf die Demokratie. Am Sonntag morgen hätte das Verfassungsgericht über die Rechtmäßigkeit der Entscheidung der verfassunggebenden Versammlung urteilen sollen. Zwar werden die Rechte des Verfassungsgerichts, das sich in der Vergangenheit dem alten Regime und dem Militärrat gegenüber sehr gefügig verhalten hatte, vom Präsidenten nicht anerkannt, ein negatives Urteil der Richter wäre für Mursi aber nicht gerade prestigefördernd gewesen. Das mußte verhindert werden. Schon Stunden vor Beginn der Verhandlung umstellten Tausende Moslembrüder und Salafisten das Gericht, um die Richter am Betreten des Gebäudes zu hindern. Daraufhin setzte das Gericht seine Arbeit aus. Ein späterer Verhandlungstermin wurde nicht genannt.

Alle Zeichen stehen somit auf die Errichtung einer islamischen Diktatur. Einer Diktatur, die angesichts einer reaktionären Massenbasis noch schlimmer als die Gewaltherrschaft Mubaraks werden könnte.

*** Aus: junge Welt, Montag, 03. Dezember 2012 (Kommentar)


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