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Krieg gegen Zivilisten

Wie Washington in Afghanistan gezielt die Genfer Konventionen verletzt

Von Gareth Porter, Washington (IPS) *

US-Sondereinheiten in Afghanistan richten ihre nächtlichen Angriffe nach Erkenntnissen unabhängiger Experten zunehmend gegen Zivilisten. Damit sollten vor allem geheimdienstlich relevante Informationen gewonnen werden, heißt es in einer jüngst veröffentlichten Studie der »Open Society Foundation« des Finanzinvestors George Soros und des »Liaison Office«.

Die Autoren erbringen Belege dafür, daß das US-Militär inzwischen auch Personen attackiert und festnimmt, die nicht als Aufständische identifiziert wurden. Sie befragten dazu aktive und ehemalige Offiziere sowie Afghanen, die während der Angriffe in Gewahrsam genommen wurden. Demnach setzt das Militär viele Zivilisten kurzzeitig fest, um herauszubekommen, was sie über Islamisten an ihrem Ort wissen. Die Studienverfasser werfen den USA vor, damit die Genfer Konventionen zum Schutz von Personen, die nicht an Kampfhandlungen teilnehmen, zu verletzen.

Ein Offizier, der die nächtlichen Bombardements befürwortete, sagte den Experten, daß die Befragung von Personen, von denen angenommen wird, daß sie Extremisten kennen, einer der Hauptgründe für derartige Angriffe sei. »Wenn du nicht den Kerl kriegen kannst, den du haben willst, nimmst du den, der ihn kennt«, wird er zitiert. Wenn Soldaten demnach auf einem attackierten Grundstück Zivilisten aufgreifen, werden diese mit dem Argument festgenommen, daß ihre Nichtteilnahme an den Aktionen der Aufständischen nicht von vornherein klar sei.

Auf der Suche nach Informationen für den Geheimdienst nehmen die US-Streitkräfte der Studie zufolge auch den Tod Unbeteiligter in Kauf. In der Analyse wurde eine Reihe nächtlicher Angriffe in der Provinz Nangarhar zwischen Oktober und November 2010 untersucht. Dabei kam heraus, daß Menschen ins Visier genommen wurden, die sich mit einem muslimischen Geistlichen trafen, der angeblich der Schattengouverneur der Taliban in der Provinz war. Zwei Zivilpersonen kamen bei den Bombardements ums Leben.

Mehrere befragte Afghanen bestätigten, daß das US-Militär immer verschiedene Grundstücke gleichzeitig angegriffen hatte. In manchen Fällen seien ganze Dörfer unter Beschuß gekommen. In einer Ortschaft in der nordafghanischen Provinz Kundus verhafteten amerikanische und afghanische Soldaten bei einer Razzia bis zu hundert Menschen.

In dem von der NATO und den USA geführten Krieg in Afghanistan haben Verfolgungen und Verhöre von Zivilpersonen eine lange Tradition. Ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums, der bis Ende 2005 für Gefangene zuständig war, sagte IPS, Bedenken gegen Festnahmen einer großen Zahl von Zivilisten seien durch den Druck zunichte gemacht worden, »aggressivere Operationen zur Gefangennahme« durchzuführen. Der damalige Chef des NATO-Geheimdienstes in Afghanistan, Brigadegeneral Jim Ferron, sagte im Mai 2007 in einem Zeitungsinterview: »Die Gefangenen werden aus einem Grund festgenommen. Sie haben Informationen, die wir brauchen.«

* Aus: junge Welt, 24. September 2011


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