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Österreich und der Wunsch nach einer europäischen Atombombe

Chefdenker des österreichischen Militärs musste seinen Hut nehmen - Erfolg der Friedensbewegung

Im Folgenden dokumentieren wir einen Kommentar von Thomas Roithner (ÖSFK) über die jüngste Atomwaffen-Affäre Österreichs. Um Leser, die den Hintergrund der österreichischen Debatte nicht kennen (in deutschen Zeitungen war wenig darüber zu lesen), ins Bild zu setzen, schicken wir die wichtigsten Informationen voraus (Kasten).



Österreichs militärischer Chefdenker forderte Atomwaffen - und wurde gefeuert

Erich Reiter hat als Leiter der Direktion für Sicherheitspolitik des österreichischen Verteidigungsministers am 21. Januar dem "Neuen Volksblatt" ein Interview gegeben, das für einen Stumr der Entrüstung in der Öffentlichkeit gesorgt hat. Wenige Tage später reagierte das Ministerium und entließ den militärischen Chefdenker. Er wurde mit "sofortiger Wirkung" als Leiter der Direktion für Sicherheitspolitik entbunden, berichtete die Tageszeitung "Krone" am 10. Februar. Als Begründung für diesen Schritt nannte Verteidigungsminister Günther Platter "Vertrauensverlust". "Erich Reiters Verbleib in dieser wichtigen Funktion ist nicht mehr zulässig", hieß es laut "Krone" in einer Stellungnahme. Reiter werde aber weiter für das Ministerium tätig sein, in welcher Funktion wollte man im Ministerbüro allerdings nicht verraten.

Hier ein Auszug aus dem Interview, das Erich Reiter dem Neuen Volksblatt gab;

Frage: Verträgt sich Chiracs Position überhaupt mit der europäischen Sicherheitspolitik?

Reiter: In vielen Ländern Europas ist es nicht möglich, über Nuklearwaffen auch nur zu diskutieren. Wenn wir die europäische Sicherheitspolitik bis zum Ende durchdenken, müssten wir auch die Frage mitbeantworten, was mit den Atomwaffen der Europäer geschieht. Wenn sie das in Österreich nur erwähnen, dann ist alles vorbei. Da will keiner was damit zu tun haben. Diese Verweigerung gegenüber sicherheitspolitisch wirklich ernsten Problemen, die es nicht nur bei uns gibt, damit will man überhaupt nichts zu tun haben.

Heißt das, wir sollen ernsthaft über den Einsatz von Atomwaffen reden?

So ist es. Und: Dass das vor allem eine europäische Dimension erhalten sollte, dass die EU eine Position haben sollte, ob und wann Atomwaffen eingesetzt werden. Eigentlich müssten Briten und Franzosen ihre Atomwaffen in den Dienst Europas stellen, das heißt: Europäisierung der Atomwaffen.

Aus: Neues Volksblatt (Österreich), 21. Jänner (Januar) 2006

Erfolg der Friedensbewegung

Am 21. Jänner fordert der Beauftragte für Strategische Studien Erich Reiter, einer der höchsten Beamten im Verteidigungsministerium, in einem Zeitungsinterview den Griff nach der EU-Atombombe und unterstützt die Aussagen des französischen Präsidenten Chirac, der mit dem atomaren Erstschlag drohte. Weder der Bundeskanzler, noch der Verteidigungsminister, auch nicht die Nationalratsabgeordneten der verschiedenen Parteien, die das Zeitungsinterview wohl gekannt haben, erheben Widerspruch. Erst als die Werkstatt Frieden & Solidarität auf der Titelseite der „guernica“ und in einem offenen Brief Kanzler, Verteidigungsminister und Parlamentsabgeordnete Anfang Februar auffordert, den Atomfanatiker sofort abzuberufen, erst als weitere Friedens- und Umweltorganisationen und viele Einzelpersonen gegen diese Ungeheuerlichkeit aufschreien, kommt es zu ersten Lebenszeichen in den politischen Führungsetagen. Doch noch am 4./5. Februar – also zwei Wochen nach dem Skandalinterview – ist das Verhältnis zwischen Platter und Reiter offensichtlich ungetrübt. Der Verteidigungsminister nimmt Erich Reiter zur Münchner Sicherheitskonferenz mit, wo sich die Creme de la Creme aus NATO und EU trifft, um sich über neue Pläne der Aufrüstung und Kriegsvorbereitung zu unterhalten. Der Druck der Friedensbewegung erreicht schließlich die Medien, erste Nationalratsabgeordnete schließen sich dem Protest an. Nachdem Reiter gestern in einem Interview seine Forderung nach einer „Euro-Atombombe“, die „notfalls auch eingesetzt werden soll“ wiederholt, entscheidet sich Platter zum Zurückrudern und beruft Reiter aus seiner Funktion im Verteidigungsministerium ab. Das ist ein Erfolg der Friedensbewegung. Denn ohne unsere Proteste und Öffentlichkeitsarbeit wäre nichts passiert. Das zeigt, dass Widerstand etwas bewirkt; das zeigt, wie wichtig es ist, sich in Organisationen wie der Werkstatt Frieden & Solidarität zu engagieren.

Aus dem Newsletter der Werkstatt Frieden & Solidarität, Linz, vom 10. Februar 2006



Das "neue Imperium" und die Bombe

Teile der heimischen Militärs überschätzen die globalen Bedrohungen

Von Thomas Roithner*


Es ist weniger die Einschätzung einer im globalen Maßstab unsicherer gewordenen Welt, sondern vielmehr die daraus gezogenen Konsequenzen, die im "Fall Reiter" die ExpertInnen und die Öffentlichkeit zutiefst empören und zornig machen.

Angesichts des Mangels an klassischen militärischen Bedrohungen für Österreich gehört es für wichtige Teile der heimischen Militärs zum guten Ton, die globalen Bedrohungen beängstigend zu überschätzen und das Heil in der gegenwärtigen Militarisierung der EU zu suchen.

Und Erich Reiter zählt schon beinahe traditionell zu den Speerspitzen, wenn er schon 2001 betont hat, es gehe bei den Aufgaben des Bundesheeres u.a. um die "Kooperation mit den USA und mit Japan zum globalen Management von Konflikten und zwecks Zugangs zu strategischen Rohstoffen, der Aufrechterhaltung freien Handels und der Schiffahrt". Diesem Gedankengut entspringt nun im Orchester anderer Euro-Militärs, dass "alle EU-Völker" an der Atombombe teilhaben sollen.

Mit gutem Grund weist die Linzer Werkstatt Frieden und Solidarität auf eine Aussage des luxemburgischen Premierministers Jean-Claude Juncker hin: "Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt."

Das "Geschrei" blieb in diesem Fall nicht aus. Zu den auf "Geschrei" wartenden Fällen zählt nicht nur die in der EU-Verfassung vorgesehene Aufrüstungsverpflichtung, der globale militärische Interventionismus, die trotz negativer Bevölkerungsvoten bereits arbeitende EU-Rüstungsagentur oder die militärische EU-Beistandsverpflichtung.

Das von der EU im Sog einer neoimperialen US-Kriegspolitik zur Ausarbeitung in Auftrag gegebene "European Defence Paper" entwickelt Szenarien "in denen die nationalen Atomstreitkräfte von EU-Mitgliedstaaten (Frankreich und Großbritannien) entweder explizit oder implizit in die Planung einfließen können".

Die Empörung über Reiter hat mehrere Gründe. Es ist nicht nur die Ablehnung eines militärisch geprägten Weltbildes, das Negieren der Einstellung der österreichischen Bevölkerung sowie die Ausklammerung ziviler Konfliktlösungsmöglichkeiten. Die Ablehnung der sogenannten "zivilen" und militärischen Nutzung der Atomkraft ist hierzulande ein nationaler Konsens.

Es liegt auch im Interesse des neutralen Österreichs, den UNO-Standort in Wien durch eine Stärkung der Abrüstungsbemühungen aufzuwerten. Sowohl die Atomenergiebehörde (IAEA) als auch die nukleare Teststopporganisationen (CTBTO) sind zentrale Bausteine gegen neuerliche tödliche Rüstungsspiralen. Alle Atombombenstaaten haben sich nach dem Nichtweiterverbreitungsvertrag (NPT) verpflichtet, vollständig abzurüsten.

Dem von den politischen Eliten erklärte Friedensanspruch der EU könnte durch ernstgemeinte Abrüstungsschritte in der Intention einer gesamteuropäischen Öffentlichkeit nähergekommen werden. Statt sich gedanklich in die strategischen Überlegungen der atomaren Kalten Krieger hochzurüsten und "die Atombombe im Ernstfall auch einsetzen [zu] wollen" (Reiter in "News" 6/2006), wären Initiativen zur politischen Belebung der Genfer Abrüstungskonferenz (CD) höchst an der Zeit.

Österreich findet mit seinem Verfassungsgesetz für ein "atomfreies Österreich" dafür nicht nur innerhalb der EU viele Partner, sondern findet sich mit einer breitesten Mehrheit der internationalen Staatengemeinschaft in einem Boot. Die in Österreich bereits verwirklichte Zukunftsvision ist eine nach zahlreichen globalen Vorbildern zu schaffende nuklearwaffenfreie Zone Europa.

Es liegt nicht nur im Interesse der Bevölkerung, sondern es ist friedenspolitisch auch Sinne einer globalen und zukunftsfähigen Friedensordnung zu forcieren, dass sich die EU nicht in Richtung eines nuklear gerüsteten "neuen Imperiums" verwandelt. Die zivilen Institutionen, multilateralen Verhandlungsgremien und Verträge zur Abrüstung sind ausreichend vorhanden. Es gilt, diese effektiv zu nützen, sie politisch zu stärken und Abrüstung nicht nur als Verpflichtung für "die anderen" zu betrachten.

Das atomare Muskelspiel hat zudem die drängendsten Fragen der Menschheit wie Hunger, Krankheiten, Klimaveränderung oder die globale Umverteilung von Ressourcen und politischer Mitsprachmöglichkeiten von der Agenda gerückt.

* Dr. Thomas Roithner ist Politikwissenschafter am Österreichischen Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung, Burg Schlaining, Außenstelle Wien. Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der "Friedenspolitischen Ratschläge" bestens bekannt. Zuletzt rezensierte Thomas Roithner bei uns das neue Buch von Hans Sponeck: "Ein anderer Krieg".

Der Kommentar von Thomas Roithner erschein am 11. Feburar in der Wiener Tageszeitung "Der Standard" unter der Rubrik "Kommentar der anderen".


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