Braucht Brasilien Atomwaffen?
Von Gaby Weber *
Der brasilianische Vizepräsident José Alencar hat die Atombewaffnung des
größten und stärksten lateinamerikanischen Landes angekündigt. Nur mit
diesem »Abschreckungspotential« seien die tausende Kilometer lange
Grenze sowie die Rohstoffvorkommen vor der Küste zu sichern,
argumentierte er nach einem Bericht der konservativen Tageszeitung
/Estado de São Paulo /vom 24. September. Seine Worte, die international
erstaunlich wenig Resonanz fanden, gingen an die Adresse der USA, von
denen sich der Amazonasstaat militärisch bedroht sieht. Zwar propagiert
Barack Obama verbal eine »globale Atomabrüstung«, aber eine verbindliche
Selbstverpflichtung der atomaren Großmächte ist nicht in Sicht. Eine
neue Herausforderung für die auf ihre Souveränität bedachten
lateinamerikanischen Staaten ist die Absicht des Pentagon, sieben
Militärbasen auf kolumbianischem Staatsgebiet zu errichten. Zwar sollen
dort, so wird versichert, keine Atomwaffen gelagert werden, aber das
wird sich nur schwer kontrollieren lassen, wenn überhaupt. Die Regierung
in Brasilia sieht vor allem deswegen eine Gefahr, weil die Westgrenze
Brasiliens aus undurchdringlichem Dschungel besteht und daher kaum zu
überwachen ist. In diesem Gebiet lagern Erdöl und viele verlockende
Mineralien.
Robert Gates, Verteidigungsminister von George W. Bush und jetzt von
Barack Obama, verkündete im vergangenen Jahr die Absicht, die Vierte
Flotte zu reaktivieren, jene schwimmende Invasionsbasis der US-Navy vor
den Küsten ihres Hinterhofs; damit würde Brasilien auch von Osten her in
Gefahr geraten.
Seit dem Staatsstreich in Honduras fürchtet man auf dem Subkontinent,
daß das Weiße Haus das Arsenal der 1970er Jahre aus der Mottenkiste
hervorkramen will. Offensichtlich haben die USA das geänderte
Kräfteverhältnis der multipolaren Welt nicht zur Kenntnis genommen und
wollen mit dem atomaren »Big Stick« die Monroe-Doktrin neu beleben, also
für sich wieder die Rolle der Vormacht ganz Amerikas beanspruchen. Das
Flugzeug, das im Juni den honduranischen Präsidenten Manuel Zelaya im
Schlafanzug ins Ausland abschob, war vorher auf einer Militärbasis, auf
der US-Streitkräfte stationiert sind, zwischengelandet. Daß Brasilien
dann seine Botschaft in Tegucigalpa zur Verfügung gestellt hat, damit
Zelaya dort in Sicherheit wohnen und auf die Rückkehr in den
Präsidentenpalast hinarbeiten kann, ist ein deutliches Zeichen, daß es
Militärputsche - erfahrungsgemäß von den USA geplant oder unterstützt
- nicht toleriert.
Der Gedanke, daß sich die lateinamerikanische Großmacht (»la gran
potencia«) atomar bewaffnen will, ist nicht neu. Vor zwei Jahren hatte
schon der Unterstaatssekretär im Verteidigungsministerium, José Benedito
de Barros Moreira, diese Forderung erhoben. Alencar erläuterte nun in
dem Pressegespräch in Brasilia, daß der Besitz der Atombombe auch armen
Ländern wie Pakistan Machtpositionen verschafft habe, die sie sonst
niemals erhalten hätten: »Sie setzen sich an den Tisch der Mächtigen,
nur weil sie die Nuklearwaffe besitzen.« Nach seinen Wünschen soll auch
der brasilianische Wehretat massiv und an das Bruttosozialprodukt
gekoppelt werden. Alencar, früher selbst Verteidigungsminister, sprach
von drei bis fünf Prozent.
Der amtierende Minister Nelson Jobim spielte Alencars Überlegungen
herunter: »Internationale Verträge wie auch die eigene Verfassung
verbieten die Herstellung und den Gebrauch von Atomwaffen.« Alencar
konterte, Verträge seien »verhandelbar«. Ob und wie auch die Verfassung
veränderbar sei - dazu äusserte er sich nicht. Ein Plebiszit gegen die
USA als einzige Atommacht Amerikas würde vermutlich eine große Mehrheit
finden.
Seit zwei Jahren erlebt die brasilianische Atomwirtschaft einen Boom,
mehrere neue Atomreaktoren sollen gebaut werden, beschloß die Regierung.
Und im Februar 2008 wurde ein bilaterales Abkommen mit Argentinien über
den Bau einer Fabrik zur Anreicherung von Uran unterschrieben. Für
Heriberto José Boada, Sprecher der Nationalen Atomkommission in Buenos
Aires, ist das »ein Meilenstein in den Beziehungen beider Länder«. Über
Jahrzehnte hinweg haben sie miteinander um die Vorherrschaft auf dem
Subkontinent konkurriert, selten saßen sie an einem Tisch. Heute wehen
andere Winde, Winde der Kooperation, denn sie haben einen gemeinsamen
Feind: die Vereinigten Staaten, die aufs Säbelrasseln nicht verzichten
wollen. Da die USA ihre politische und kulturelle Vorherrschaft verloren
haben, bleibt ihnen nicht viel anderes übrig.
In einer multipolaren Welt soll »ein neues Zentrum von Anbietern der
Atomtechnologie entstehen«, so Boada. Im großen Maßstab bieten zur Zeit
vor allem drei Länder diese Technologie an: Frankreich, die USA und
Rußland. »Aber sie sind wegen der hohen Nachfrage völlig überfordert.
Wenn wir in Zukunft Atomtechnologie anbieten, freuen sich darüber vor
allem die Entwicklungsländer.«
Lange stritten sich die Südamerikaner mit den Industrieländern über
Agrarsubventionen, Patentrecht, Finanzpolitik und die Handhabung des
Schuldenproblems. Der Norden zeigte sich beinhart. Provokant wirkte es
auch, daß die Bush-Administration ihre Militärhilfe von dem Versprechen
der Empfängerstaaten abhängig machte, US-Soldaten während ihres
Aufenthaltes auf latein-amerikanischem Boden Immunität zu gewähren und
sie dem Zugriff des Internationalen Strafgerichtshof zu entziehen. Fast
alle Regierungen lehnten dies ab, einzige Ausnahme waren Kolumbien und
das damals von der rechten Colorado-Partei regierte Paraguay. Zur Strafe
entzog das Pentagon den Unwilligen die Militärhilfe. Aber die grämten
sich nicht. Denn China sprang in die Bresche und bot Waffen und
Offiziersausbildung an. Die Südamerikaner errichteten ein neues
Verteidigungsbündnis: UNASUR, ohne die USA. Kolumbien ist
UNASUR-Mitglied, wie lange noch, ist ungewiß, da es der US-Army sein
Territorium für Stützpunkte zur Verfügung stellt. Washington winkt mit
einem Freihandelsabkommen, die Südamerikaner bieten kontinentale
Integration an. Besonders der Handelsaustausch mit Venezuela ist für die
Regierung in Bogotá verlockend.
Nicht nur mit den Chinesen unterhalten die Lateinamerikaner glänzende
Wirtschaftsbeziehungen. Letztes Jahr verabredeten in Buenos Aires die
Außenminister der südamerikanischen und der arabischen Länder eine
»strategische Allianz«. Konkrete Projekte wurden nicht bekannt, aber
schon heute treibt man regen Handel, auch mit dem Iran. Südamerika
produziert Getreide und Fleisch im Überfluß und verfügt über Mineralien.
Die arabischen Länder müssen Lebensmittel und viele Rohstoffe
importieren. Seit Jahren hat die Regierung von Hugo Chávez mit den
Ländern des Nahen Ostens im Rahmen der Organisation erdölexportierender
Länder (OPEC) enge Bande geknüpft, Iran baut in Venezuela mehrere
Fabriken und fördert im Orinocodelta Erdgas. Und auch für den Aufbau
einer Atomtechnologie haben Venezuela und der Iran im vergangenen Jahr
ein Kooperationsabkommen unterzeichnet. In Uruguay errichtet Teheran
eine Zementfabrik und läßt sich dafür mit Reislieferungen bezahlen. In
Bolivien hilft der Iran bei der Suche nach Erdgas und erhält dafür die
Lizenz für ein landesweites Fernsehen.
Technisch sind die Latinos schon lange in der Lage, Kernwaffen zu
produzieren. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sowohl brasilianische wie
argentinische Militärs heimlich an der Atombombe gebastelt. Besonders
erfolgreich war Argentinien, nicht zuletzt wegen der nach 1945 dort
untergetauchten deutschen Nazi-Wissenschaftler, die ihre in der
Bundesrepublik verbotene Forschungsarbeit fortsetzen konnten. Zwischen
1960 und 1964 lieferte Buenos Aires über 116 Tonnen Uranerz (Yellow
Cake) nach Israel und erhielt im Gegenzug Plutonium aus dem israelischen
Atomforschungszentrum Dimona. Was damit geschehen ist, wurde offiziell
nie erklärt. Ab Mitte der 1980er Jahre gaben die Argentinier ihre
Atomwaffen-Träume auf, seitdem haben die Militärs massiv an Einfluß
verloren. Das ging weniger auf »Überzeugungsarbeit« aus dem Norden
zurück als auf Entwicklungen der südamerikanischen Gesellschaft. 1991
unterschrieb Buenos Aires den Atomwaffensperrvertrag. Inzwischen
exportiert Argentinien Atomkraftwerke in alle Welt, auch nach Europa.
Das traditionelle Mißtrauen zwischen Brasilien und Argentinien wurde
überwunden. Beide Staaten gründeten eine binationale Behörde für die
Kontrolle von nuklearem Material: ABACC inspiziert sämtliche
Waffenarsenale und Atomeinrichtungen beider Länder, inklusive der
Lagerung des nuklearen Materials.
Südamerika hatte gute Gründe, die weiterhin gelten, sich dem atomaren
Rüstungswettlauf fernzuhalten. Aber es ist nationaler Konsens nicht nur
in Brasilien, die Rohstoffe zu sichern. Werden die Brasilianer zur
atomaren Trumpfkarte greifen, um Aggressoren abzuschrecken? Alencars
Worte sind eine Warnung.
* Aus: Ossietzky, 31. Oktober 2009
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