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Lissabon-Vertrag vor Gericht

Von Freja Wedenborg, Kopenhagen *

Als einen »gigantischen Sieg für das Volk« feiert die dänische Bewegung gegen die Europäische Union eine am Dienstag getroffene Entscheidung des Højesteret, des Obersten Gerichtshofes. Dieser nahm eine Beschwerde von 35 Bürgern gegen den dänischen Premierminister Lars Løkke Rasmussen zur Entscheidung an. Die Kläger werfen dem Politiker von der rechtsliberalen Venstre-Partei vor, durch die Ratifizierung des Lissabon-Vertrags im Juni 2008 die dänische Verfassung gebrochen zu haben. Diese schreibt vor, daß eine Einschränkung der Souveränität Dänemarks nur durch eine Volksabstimmung oder mit einer Fünf-Sechstel-Mehrheit des Parlaments beschlossen werden kann.

Der dänische Juraprofessor und Rechtsanwalt Ole Krarup, der gemeinsam mit seiner Kollegin Karen Dyekjær die 35 Kläger vertritt, freut sich: »Bislang hat die Regierung gedacht, Demokratie würde bedeuten, daß sie das Volk kontrolliert. Nun aber haben wir ihr gezeigt, daß wir nicht kontrollierbar sind«. Der Lissabon-Vertrag übertrage zahlreiche Machtbefugnisse Dänemarks auf die Europäische Union, und dies in vollkommen neuen Politikbereichen. Zudem werde die Rolle von Mehrheitsentscheidungen ausgeweitet. Deshalb sei die dänische Regierung verpflichtet gewesen, die Bürger in einem Referendum zu befragen, bevor sie dem Vertrag beitrat. »Jetzt hat der oberste Gerichtshof uns zugestimmt: Der Lissabon-Vertrag bedeutet eine so radikale Veränderung der Machtverhältnisse und Entscheidungsstrukturen in der EU, daß vor Gericht geklärt werden muß, ob die dänische Verfassung verletzt wurde«, so Dyekjær.

Im Oktober 2009 hatte ein anderes Gericht erstinstanzlich entschieden, daß die 35 Bürger kein Recht auf eine Klage gegen den Lissabon-Vertrag hätten. Das Abkommen, so die Richter des Østre Landsret damals, bedeute keine Verlagerung der dänischen Souveränität im Allgemeinen oder in wichtigen Lebensbereichen, so daß es keine relevante Bedeutung für die Bevölkerung des Landes habe. Deshalb hätten die 35 kein »rechtliches Interesse« an einer gerichtlichen Behandlung ihres Anliegens, so das damalige Urteil, das nun höchstinstanzlich kassiert wurde.

Die unmittelbare Bedeutung des jüngsten Urteils ist jedoch umstritten. Regierungschef Rasmussen sieht keinen Grund zur Sorge: »Das ändert meine Sicht der Dinge nicht, hinter der Sache steckt nichts«, erklärte er. »Die Entwicklung zeigt, daß unsicher ist, ob die Zustimmung der Regierung zum Lissabon-Vertrag überhaupt gültig ist«, sagte hingegen der Sprecher der 35 Kläger, Helge Rørtoft-Madsen. Wenn sie das Verfahren gewinnen, wollen sie die Durchführung einer Volksabstimmung über den Lissabon-Vertrag in Dänemark einfordern. Bis zu einem endgültigen Urteil könnte es Medienberichten zufolge noch Jahre dauern.

* Die Autorin ist Redakteurin der dänischen Tageszeitung Arbejderen.

Aus: junge Welt, 14. Januar 2011


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