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"Weg in den autoritären Sicherheitsstaat"

Mit "Antiterror-Befugnissen" für Polizei und Geheimdienste werden die Grundrechte ausgehebelt. Ein Gespräch mit Rolf Gössner

Rolf Gössner ist Rechtsanwalt in Bremen und Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte

Inwieweit sind durch die Vorratsdatenspeicherung ganz normale Bürger betroffen?

Seit 1. Januar werden alle Telekommunikations- und Standortdaten, also Telefon-, Handy-, Email- und Internetverbindungsdaten, zwangsweise sechs Monate lang auf Vorrat gespeichert – ohne Verdacht, nur um sie bei Bedarf zur Strafverfolgung verwenden zu können. Mit Hilfe der über die gesamte Bevölkerung gespeicherten hochsensiblen Daten können Bewegungsprofile von Bürgern erstellt, geschäftliche Kontakte rekonstruiert und Freundschaftsbeziehungen identifiziert werden. Wie schnell das passieren kann, zeigen die Mißbrauchsfälle bei der Telekom, die diese Daten quasi als Hilfspolizei vorrätig halten muß. Rückschlüsse auf Inhalte, auf persönliche Interessen und Lebenssituationen der Kommunizierenden sind durchaus möglich.

Sind derartige Eingriffe in die Bürgerrechte noch mit dem Grundgesetz zu vereinbaren?

Etliche der neuen Antiterror-Befugnisse für Polizei und Geheimdienste dürften mit den Grundrechten nicht vereinbar sein. Das zeigen schon die zahlreichen Gesetze, die vom Bundesverfassungsgericht in den letzten Jahren für verfassungswidrig erklärt wurden. Erinnert sei an den Großen Lauschangriff, an die präventive Telekommunikationsüberwachung, die Befugnis zum präventiven Abschuß eines gekaperten Passagierflugzeugs durch das Militär – eine staatliche Lizenz zur gezielten Tötung unschuldiger Menschen. Auch die exzessiven Rasterfahndungen nach »islamistischen Schläfern« waren verfassungswidrig, ebenso der Kfz-Kennzeichenabgleich und die heimliche Online-Durchsuchung in Nordrhein-Westfalen. Weitere Gesetze werden folgen.

Die vielfältige Agenda sogenannter Reformen umfaßt die Aufhebung der Trennung von Polizei, Geheimdiensten und Militär. Was kann das für unseren Alltag bedeuten?

Es geht dabei um eine Entfesselung staatlicher Macht. Neuestes Projekt: der Umbau des Bundeskriminalamtes (BKA) zu einem zentralen deutschen FBI mit geheimpolizeilichen Befugnissen zur Vorfeldausforschung – inklusive Großem Spähangriff in Wohnungen und Online-Durchsuchung von Computern. Das zunehmende Verzahnen von Polizei und Geheimdiensten – unter Verstoß gegen das Trennungsgebot – kann zu einer unkontrollierbaren Machtkonzentration der Sicherheitsorgane führen. Davon können besonders politisch aktive Menschen betroffenen sein – wie die »Terror«-Ermittlungen im Vorfeld des G-8-Gipfels 2007 zeigten. Genauso wie von einem Bundeswehreinsatz im Inland mit militärischen Mitteln, wie er gerade von der Bundesregierung beschlossen wurde. Damit wird die verfassungsmäßige Trennung zwischen Militär und Polizei aufgelöst. Der sogenannte staatliche Antiterrorkampf droht quasi zum Antiterrorkrieg auszuarten.

Wird sich unsere Gesellschaft möglicherweise unwiederbringlich und von Grund auf verändern?

Ja. Das zeigt die gegenwärtige Krise des kapitalistischen Finanzsystems, das zeigt die Demontage des Sozialstaats und des demokratischen Rechtsstaats. Mit den »Antiterrorgesetzen« nach 9/11 hat sich die Kontrolldichte in Staat und Gesellschaft dramatisch erhöht. Wir erleben eine fatale Entgrenzung staatlicher Gewalten. Wir befinden uns auf dem Weg in einen präventiven und autoritären Sicherheitsstaat, die moderne Informationsgesellschaft entpuppt sich zunehmend als Überwachungs- und Kontrollgesellschaft.

Wie kann man sich zur Wehr setzen?

Dieser Demontage des Sozial- und Rechtsstaates und der Überwachung durch Staat und Wirtschaft müssen Menschen- und Bürgerrechtsgruppen, Gewerkschaften und politisch-soziale Bewegungen energischer als bisher entgegentreten. Die Demonstration in Berlin ist hochaktuell, weil wieder Zumutungen aus dem Hause Schäuble drohen – vom BKA-Gesetz bis zum Einsatz der Bundeswehr im Innern. Auch juristisch kann man sich wehren, wie etwa die fast 35000 Menschen, die eine Sammelbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht gegen die Vorratsdatenspeicherung eingereicht haben – die größte Massenbeschwerde der deutschen Rechtsgeschichte. Bisherige Beschwerden gegen Antiterrorgesetze zeigen, daß sie tatsächlich erfolgreich sein können.

Interview: Gitta Düperthal

* Aus: junge Welt, 11. Oktober 2008

Zehntausende demonstrieren in Berlin für mehr Datenschutz

Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler sowie zahlreiche Organisationen, unter ihnen die "Internationale Liga für Menschenrechte", veranstalteten am 11. Oktober eine bundesweite Demonstration gegen die ausufernde Überwachung durch Wirtschaft und Staat auf. Es wurde ein eindrucksvoller Protest gegen den Schäubleschen "Sicherheitsstaat" und die Militarisierung der Inneren Sicherheit. Die Nachrichtenagenturen berichteten:

In Berlin haben mehrere zehntausend Menschen für mehr Datenschutz demonstriert. Nach Angaben der Veranstalter vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung (AK Vorrat) nahmen rund 50.000 Menschen an der Kundgebung und dem anschließenden Protestzug unter dem Motto "Stoppt den Überwachungswahn" teil. Die Polizei sprach zunächst von rund 12.000 Demonstranten. Zu der Großkundgebung hatte ein bundesweiter Zusammenschluss von Bürgerrechtlern, Datenschützern und Internet-Nutzern aufgerufen. Sie protestierten damit gegen die aus ihrer Sicht "ausufernde Überwachung durch Staat und Wirtschaft".

Unterstützt wurden die Veranstalter unter anderem von den Grünen, der FDP, der Linken, Gewerkschaften, dem globalisierungskritischen Netzwerk Attac und Berufsverbänden wie der Freien Ärzteschaft. Der Protest richtete sich auch gegen das von der großen Koalition geplante Gesetz über zusätzliche Kompetenzen für das Bundeskriminalamt (BKA), darunter die umstrittene Online-Durchsuchung von Computern.

Rena Tangens vom AK Vorrat erklärte, die Bürger hätten damit "ein deutliches Zeichen gesetzt gegen den weiteren Marsch in den Überwachungsstaat". Die Demonstranten zogen vom Alexanderplatz bis zum Brandenburger Tor. Sie skandierten unter anderem "Wer heute noch darüber lacht, wird morgen früh schon überwacht" und "Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Daten klaut".

Martin Graudusz, Präsident der Freien Ärzteschaft, äußerte vor den Kundgebungsteilnehmern heftige Kritik an der Gesundheitskarte, mit der der Mensch "zum Datenkörper" werde. "Das Grundvertrauen zwischen Arzt und Patient soll geopfert werden wegen der wahnhaften Gier des Staates nach Daten", sagte er. Andere Redner verwiesen auf die aktuellen Datenpannen bei der Telekom. Dies habe gezeigt, dass Daten "niemals sicher sind".

Der Grünen-Politiker Volker Beck und die Linken-Politikerin Petra Pau forderten ein Ende der Vorratsspeicherung aller Telekommunikationsdaten. Weder die Kundendaten noch die im Rahmen der Vorratsdatenspeicherung massenhaft gespeicherten Verbindungsdaten seien bei der Deutschen Telekom sicher, erklärte Beck. Nach der Serie des Datenmissbrauchs bei und durch die Telekom müsse die Politik endlich Konsequenzen ziehen und den Datenschutz bei privaten Unternehmen konsequenter kontrollieren. Pau erklärte, ein wirksames Arbeitnehmer-Datenschutzrecht sei überfällig. Zudem müssten die Datenschützer in Bund und Ländern massiv aufgewertet werden.

AFP, 11. Oktober 2008

Dokumentation: Der Aufruf zur Demonstration

Stoppt die Vorratsdatenspeicherung

Der Überwachungswahn greift um sich. Staat und Unternehmen registrieren, überwachen und kontrollieren uns immer vollständiger. Egal, was wir tun, mit wem wir sprechen oder telefonieren, wohin wir uns bewegen oder fahren, mit wem wir befreundet sind, wofür wir uns interessieren, in welchen Gruppen wir engagiert sind - der “große Bruder” Staat und die “kleinen Brüder und Schwestern” aus der Wirtschaft wissen es immer genauer. Der daraus resultierende Mangel an Privatsphäre und die Vertraulichkeit gefährdet die Freiheit des Glaubensbekenntnisses, die Meinungsfreiheit, die Pressefreiheit, die Koalitionsfreiheit, Unternehmensintegrität, die Arbeit von Ärztinnen und Ärzten, Beratungsdiensten und Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten.

Die vielfältige Agenda der Reform des Sicherheitssektors umfasst die Aufhebung der Trennung von Polizei, Geheimdiensten und Militär, und gefährdet damit die Gewaltenteilung und -balance. Unter Einsatz von Massen-Überwachungstechnologie führt die grenzenlose Zusammenarbeit von Militär, Geheimdiensten und Polizeibehörden zum Aufbau von “Festungen” in Europa und anderen Kontinenten, die sich gegen Flüchtlinge und anders aussehende Menschen richten, aber zum Beispiel auch politische Aktivisten, arme und unterprivilegierte Menschen und Sportfans betreffen.

Menschen, die sich ständig beobachtet und überwacht fühlen, können sich nicht unbefangen und mutig für ihre Rechte und eine gerechte Gesellschaft einsetzen. Massenüberwachung setzt damit die Basis einer demokratischen und offenen Gesellschaft aufs Spiel. Massenüberwachung gefährdet auch die Arbeit und das Engagement von Organisationen der Zivilgesellschaft.

Überwachung, Misstrauen und Angst verändern unsere Gesellschaft schrittweise in eine Gesellschaft unkritischer Verbraucher, die “nichts zu verbergen haben” und dem Staat gegenüber - zur vermeintlichen Gewährleistung totaler Sicherheit - ihre Freiheitsrechte aufgeben. Eine solche Gesellschaft wollen wir nicht!

Wir wissen, dass der Respekt vor unserer Privatsphäre einen wichtigen Teil unserer menschlichen Würde darstellt. Eine freie und offene Gesellschaft kann ohne bedingungslos private Räume und Kommunikation nicht existieren. Die zunehmende elektronische Erfassung und Überwachung der gesamten Bevölkerung bietet keinen verbesserten Schutz vor Kriminalität. Sie kostet Millionen von Euro und gefährdet die Privatsphäre unschuldiger Bürger. Wo Angst und Aktionismus regieren, bleiben gezielte und nachhaltige Maßnahmen zur Stärkung der Sicherheit ebenso auf der Strecke wie ein Angehen der wirklichen, alltäglichen Probleme der Menschen; zum Beispiel Arbeitslosigkeit und Armut. Um gegen Sicherheitswahn und die ausufernde Überwachung zu protestieren, gehen wir am Samstag, den 11. Oktober 2008 in Berlin unter dem Motto “Freiheit statt Angst - Stoppt den Überwachungswahn!” auf die Straße. Treffpunkt ist der Alexanderplatz um 14.00 Uhr. Der Protestmarsch durch die Stadt wird mit einer großen Abschlusskundgebung vor dem Brandenburger Tor enden.

Wir rufen alle Bürgerinnen und Bürger auf, an der Demo teilzunehmen. Die Politiker sollen sehen, dass die Bürgerinnen und Bürger für ihre Freiheiten wieder auf die Straße gehen! Auf der Demo-Homepage (http://www.FreiheitStattAngst.de) finden sich jeweils die neuesten Infos zur Demo, zu Anreisemöglichkeiten und zu Möglichkeiten, mitzuhelfen.

Dokumentiert: Die Pressemeldung nach der Demonstration

"Freiheit statt Angst": Weltweite Proteste gegen Überwachung (12.10.2008)

Am gestrigen Samstag fanden unter dem Motto "Freiheit statt Angst – Stoppt den Überwachungswahn!" erstmals weltweite Proteste gegen Überwachungsmaßnahmen wie Vorratsspeicherung aller Telekommunikationsdaten, Flugreisendenüberwachung und biometrische Bürgererfassung statt. In mehr als 15 Ländern[1] forderten Bürgerinnen und Bürger den Abbau von Massenüberwachung, einen sofortigen Stopp neuer Überwachungsmaßnahmen und eine unabhängige Überprüfung bereits beschlossener Gesetze. "Eine freie und offene Gesellschaft kann ohne bedingungslos private Räume und Kommunikation nicht existieren", heißt es zur Begründung in dem internationalen Aufruf.[2]

In Berlin fand die größte Demonstration gegen Überwachung in der Geschichte der Bundesrepublik statt: In dem über 2 km langen Demonstrationszug trugen die Teilnehmer Transparente mit Aufschriften wie "Du bist Deutschland, Du bist verdächtig", "Keine Stasi 2.0 – Hier gilt das Grundgesetz", "Angst vor Freiheit?" und "Je gläserner der Bürger, desto zerbrechlicher die Demokratie". Neben thematisch einschlägiger Musik[3] waren immer wieder laute Sprechchöre zu hören wie "Wer heute noch darüber lacht, wird morgen früh schon überwacht!" oder "Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns're Daten klaut!". Am Rande der Demonstration, zu der über 117 Bürgerrechtsvereine, Berufsverbände, Gewerkschaften, Parteien und weitere Organisationen aufgerufen hatten,[4] parodierten Künstler die Überwachungsgesellschaft.

Auf der Abschlusskundgebung vor dem Brandenburger Tor forderten die Veranstalter politische Konsequenzen: padeluun vom Datenschutzverein FoeBuD erklärte, im Lichte der Massenproteste müsse die Politik jetzt reagieren und die 2007 beschlossene Vorratsdatenspeicherung aller Telekommunikationsverbindungen zurücknehmen. Patrick Breyer vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung stellte einen Fünfpunkteplan vor: Überwachungsmaßnahmen müssten reduziert, bestehende Sicherheitsgesetze evaluiert und aktuelle Verschärfungsvorhaben eliminiert werden. Im Rahmen einer "neuen, freiheitsfreundlichen Sicherheitspolitik" müsse stattdessen in konkrete Präventionsmaßnahmen etwa in der Jugendarbeit investiert und die politische Arbeit auf die wirklichen Probleme der Menschen wie Armut und Bildung fokussiert werden. Ricardo Cristof Remmert-Fontes vom Arbeitskreis kündigte weitere Aktionen an und lud die Teilnehmer ein, den erfolgreichen Tag im Rahmen einer "Langen Nacht der Überwachung" in sieben teilnehmenden Berliner Clubs zu feiern.[5]

In anderen Ländern fanden am gestrigen "Freedom not Fear"-Aktionstag die folgenden Veranstaltungen statt: Eine kulturelle Protestveranstaltung mit Musik und verschiedenen Kunstvorführungen in Den Haag, Vorträge in Rom, eine gemeinsame Überwachungskamerakartierung in Madrid, künstlerische Darstellungen vor dem Parlament in Wien, Demonstrationen in Paris, Prag, Sofia und Stockholm, die Verteilung von Datenschutzsoftware in Kopenhagen, Informationsveranstaltungen in Guatemala City und Buenos Aires sowie zum Abschluss eine Lichtprojektion an das Rathaus von Toronto.[6] In London wurde gegen den Aufbau eines Überwachungsstaates in Form einer Fotocollage auf dem "Parliament Square" protestiert, die das Konterfei des Premierministers und das Motto des Aktionstages "Freedom not Fear" (Freiheit statt Angst) zeigte.[7]

Im Vorfeld der Demonstrationen warnte der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung vor einer "Überwachungslawine in Deutschland": Der Deutsche Bundestag habe in den letzten 10 Jahren mindestens 21 mal die Kontrolle und Beobachtung der Menschen verschärft. Mindestens 18 weitere Verschärfungen der staatlichen Bürgerüberwachung stünden aktuell auf der politischen Agenda, darunter die Vorratsspeicherung von Flugreisendendaten, die Übermittlung persönlicher Daten an die USA sowie Exekutivbefugnisse einschließlich Computerüberwachung für das Bundeskriminalamt.[8]

Fußnoten:
  1. http://wiki.vorratsdatenspeicherung.de/Pressecenter_aktuell
  2. http://www.vorratsdatenspeicherung.de/content/view/242/144/
  3. http://wiki.vorratsdatenspeicherung.de/Musik
  4. http://www.vorratsdatenspeicherung.de/content/view/242/144/
  5. http://www.vorratsdatenspeicherung.de/content/view/256/49/
  6. http://wiki.vorratsdatenspeicherung.de/Pressecenter_aktuell
  7. http://www.openrightsgroup.org/2008/10/11/freedom-not-fear-the-big-picture-unveiled-on-parliament-square/
  8. http://www.vorratsdatenspeicherung.de/content/view/258/79/



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