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Der baltische Tiger setzt die Krone ab

Nach wirtschaftlichem Absturz und Sparkur wechselt Estland mit neuer Zuversicht seine Währung aus

Von André Anwar, Stockholm *

Ein Plastiktütchen mit 42 Euromünzen im Wert von 12,79 Euro gehört zu den Standard-Weihnachtsgeschenken in Estland. 600 000 »Starter-Kits« hat die Regierung als Vorgeschmack auf die Einführung der EU-Währung am 1. Januar in Umlauf gebracht.

»Wenn es stürmt, ist es sicherer an Bord«, fasst der liberale estnische Finanzminister Jürgen Libi die Lage ein paar Tage vor der Einführung des Eesti (Euro) zusammen. Die 17. Nation mit der Gemeinschaftswährung gehört mit ihren nur 1,4 Millionen Einwohnern zu den kleinsten EU-Ländern.

Das geduldige Volk des vor der Wirtschaftskrise noch als »baltischer Tiger« bezeichneten Landes machte in den vergangenen Jahren eine Radikalkur durch. Der Euro wird nun als Belohnung für die großen Strapazen und als Symbol für eine bessere Zukunft angesehen. Der kleinste der baltischen Staaten hat sich bislang am erfolgreichsten gegen die Finanzkrise behauptet.

Zur Wirtschaftskrise im Winter 2008 standen die im Baltikum dominierenden schwedischen Banken vor dem Aus. Sie hatten bedenkenlos Kredite ins Land gepumpt, die Estland jahrelang zu den Wachstumsspitzenreitern Europas machten. Dies aber mit wenig Verankerung in der wirtschaftlichen Realität. In Tallinn verstopften Porsche Cayenne, BMW und Hummer die Straßen. In den Einkaufszeilen der Hansestadt reihte sich ein Luxuswarengeschäft ANS andere. Die Immobilienpreise schossen in die Höhe. Die kleine, neue Oberschicht verdiente kräftig an Spekulationsgeschäften, bekam immer neue Kredite in Auslandswährungen. Dann kam die Kreditkrise, die Zinsen schossen in die Höhe. Plötzlich gab es einen enormen Gebrauchtwarenhandel für Luxusautos. Schwedens Banken wollten ihr Geld zurück.

Die anfangs diskutierte Idee, die Landeswährung abzuwerten, wurde auch aus Rücksicht auf internationale Verpflichtungen, Nothilfen und Versprechungen von allen großen politischen Kräften im Lande fallen gelassen. Stattdessen wurden der öffentliche Dienst von Schule bis Polizei empfindlich beschnitten und Löhne gekürzt. Das Bruttoinlandsprodukt, 2007 noch mit sieben Prozent im Plus, war 2009 mit 13,9 Prozent im Minus. Die Arbeitslosenrate stieg von sieben Prozent 2007 auf 17,5 Prozent 2010. Wer im öffentlichen Dienst noch Arbeit hat, musste 20 Prozent an Lohnkürzungen hinnehmen. Im privaten Sektor liegen diese bei bis zu 40 Prozent und die ohnehin geringen Sozialleistungen verschwanden fast ganz. Anders als in Island, Griechenland und Spanien gab es keine Straßenproteste, keine Streiks, keine Staatskrisen. Die Esten bissen die Zähne zusammen. Sie wollten beweisen, dass sie dem Westen und der EU angehören.

In der ersten Aufstiegsphase nach der Unabhängigkeit von Russland 1990 hatte sich Estland als Internetpionier profiliert. In dem Bereich will es wieder zu alter Stärke erblühen. Und der Euro schafft Vertrauen. Unternehmer stellen erleichtert fest, dass es wieder einfacher geworden ist, Geld zu leihen, das in reale Produktion angelegt wird und mittelfristig der Bevölkerung in Form von Arbeitsplätzen zugute kommen könnte.

Der Aufschwung kommt nicht über die Neujahrsnacht mit dem Euro, an dessen Kurs die estnische Krone seit Jahren fest gekoppelt ist. Aber er ist spürbar. Mit der niedrigen Einheitssteuer, einem selbst in der Krise niedrigen Haushaltsdefizit von derzeit 2,2 Prozent und einem schnellen Staatsapparat, in dem etwa die eigene Firma im Internet innerhalb von 18 Minuten gegründet sein soll, will man wieder Investoren anlocken. Bislang konnte Estland stärker vom Export profitieren als die Nachbarn Lettland und Litauen. Für 2010 prognostiziert die Notenbank ein Wirtschaftswachstum von 1,2 Prozent. Die Inflation, 2010 bei 1,5 Prozent, soll im ersten Eurojahr nicht über 2,5 Prozent steigen. »Die Konjunkturerholung ist spürbar. Aber die Unsicherheit bleibt bestehen«, warnt Vize-Zentralbank-Chef Marten Ross. Vor allem die weiter schwache Binnennachfrage macht dem Land zu schaffen.

* Aus: Neues Deutschland, 29. Dezember 2010

Pflicht zur Einführung des Euro

Bislang haben 16 der 27 Mitglieder der Europäischen Union den Euro als Währung eingeführt. Im Jahr 2002 starteten zunächst Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Österreich, Portugal und Spanien. Später folgten Slowenien (2007), Malta und Zypern (2008) sowie die Slowakei (2009). Laut dem Maastricht-Vertrag sind alle EU-Länder zur Einführung des Euro verpflichtet, sofern sie bestimmte Konvergenzkriterien bei Haushaltsdefizit, Verschuldung, Inflation und Wechselkursstabilität erfüllen.
ND




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