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Sarkozy schiebt sich ins Abseits

Nur Italiens Premier Berlusconi mit Frankreichs Präsident bei Roma-Abschiebungen einig

Von Uwe Sattler *

Nicolas Sarkozy wollte auf dem europäischen Gipfel am Donnerstag seine Position zu den Roma-Abschiebungen als konform mit dem EU-Recht verkaufen. Der Versuch endete im Fiasko.

Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy hat sich wieder einmal vertan. Nachdem der Staatschef bereits zu Hause mit Massenprotesten gegen seine harte Abschiebepolitik gegenüber nichtfranzösischen Roma konfrontiert ist, gehen nun auch seine EU-Kollegen auf Distanz zum Kurs der Pariser Regierung. Frankreichs Staatschef habe auf dem Brüsseler EU-Gipfel am Donnerstag massiv unter Rechtfertigungsdruck gestanden, hieß es aus Delegationskreisen. Sarkozy, der sich wegen seiner Initiativen und Vorschläge bereits wiederholt aus Brüssel rüffeln lassen musste, sei so isoliert wie lange nicht mehr gewesen. Nur der konservative italienische Regierungschef Silvio Berlusconi stärkte Sarkozy öffentlich den Rücken. Allerdings mit Verspätung: Der Premier aus Rom musste wegen einer technischen Panne seines Flugzeugs zwischenlanden.

Dabei war es Sarkozy selbst, der die Massenabschiebungen aus Frankreich zum Gipfelthema gemacht hatte. Am Vorabend des Brüsseler Treffens, das sich eigentlich mit Wirtschaftsfragen und den Beziehungen zu Asien beschäftigen sollte, hatte er erklärt, er wolle die Frage im Kreise der europäischen Partner ansprechen. Vorausgegangen war ein heftiger Schlagabtausch mit der für Bürgerrechte zuständigen EU-Kommissarin Viviane Reding. Die Luxemburgerin hatte Frankreich am Dienstag wegen der Abschiebungen ein EU-Strafverfahren angedroht und zu den Ausweisungen erklärt: »Dies ist eine Situation, von der ich dachte, dass Europa sie nach dem Zweiten Weltkrieg nicht noch einmal erleben werde.«

Der offensichtliche Vergleich mit den Deportationen durch die Nazis rief in Paris Empörung hervor, wenngleich sich Reding beeilte, »Missverständnisse« auszuräumen. Keinesfalls habe sie einen Zusammenhang zwischen der aktuellen Lage und den Geschehnissen während des Zweiten Weltkriegs herstellen wollen, betonte Reding am Mittwoch.

Es war nicht das erste Mal, dass die EU-Kommission in der Roma-Frage einen Rückzieher machte. Während das Europäische Parlament am Donnerstag vergangener Woche mit deutlichen Mehrheit die Ausweisungen verurteilte und deren sofortigen Stopp forderte, war EU-Kommissionschef José Manuel Barroso zwei Tage zuvor in seiner erstmals gehaltenen Rede zur Lage der EU mit keinem Wort auf die Abschiebungen eingegangen - obwohl diese die im Lissabon-Vertrag vereinbarten Grundwerte ebenso verletzen wie die Regelungen zur Personenfreizügigkeit. Allerdings ist die zurückhaltende Position Brüssels gegenüber der Verletzung der Rechte der Roma nicht neu: Obgleich erst im Frühjahr der zweite europäische Roma-Gipfel erneut die Diskriminierungen der Minderheit beklagte, ist es bei schönen Worten zur Integration geblieben.

Offensichtlich hat der Pariser Kurs nun aber zu einem derart deutlichen Echo geführt, dass auch Brüssel das Problem nicht mehr aussitzen kann. Auf dem Brüsseler Gipfel habe es einen sehr harten Schlagabtausch zwischen Sarkozy und Barroso gegeben, hieß es.

* Aus: Neues Deutschland, 17. September 2010


Lauter, s'il vous plaît!

Von Charlotte Noblet **

»Sagen Sie doch öffentlich, dass das, was Frankreich den Roma gegenüber macht, den europäischen Verträgen widerspricht!« hat am Dienstag Daniel Cohn-Bendit, Ko-Vorsitzender der Grünen-Fraktion im EU-Parlament, dem Präsidenten der EU-Kommission Barroso zugerufen. Auf Vorschläge der Linken, der Sozialisten, den Grünen sowie den Liberalen hat in der vergangenen Woche das Europaparlament die Massenabschiebungen von Roma aus Frankreich in einer Resolution verurteilt.

Endlich könnte dem französischen »Bad Boy« Sarkozy auf die Finger geklopft werden. Endlich wird den viel zu wenigen wachen Bürger/innen, die in Frankreich gegen die Roma-Politik ihrer Regierung demonstrierten, eine Rückmeldung gegeben. »Stoppt den Rassismus« oder sogar »Sohn von Pétain« - in Anspielung auf den Chef des Vichy-Regimes, der mit den Nazis bei der Vertreibung von Juden mitmachte - heißt es auf den bei den Demonstrationen mitgeführten Plakaten.

Etwa 8300 nichtfranzösische Roma hat Frankreich seit Jahresbeginn zurückgeschickt nach Rumänien und Bulgarien. Begründet wurde das mit Sicherheitsbedenken: »Wir diskriminieren keine soziale Gruppe, sondern sorgen dafür, dass Menschen sich an die Gesetze halten«, sagte Innenminister Brice Hortefeux.

Die französische Regierung rechtfertigt ihre Roma-Politik mit einer EU-Richtlinie aus dem Jahr 2004, nach welcher EU-Bürger das Recht auf einen dreimonatigen Aufenthalt in einem anderen EU-Land nur dann haben, wenn sie krankenversichert sind, genug Geld für die Familie haben und eine Arbeit nachweisen. Wenn man nun dazu die in Frankreich überfleißige Nutzung der Übergangsregelungen für die neuen EU-Bürger aus Osteuropa hinzunimmt, die bis Ende 2012 nur mit einer schwer erlangbaren Erlaubnis eine Arbeit aufnehmen dürfen, dann versteht man die Probleme der Roma: Keine Arbeit, keine Aufenthaltserlaubnis, keine Wohn- und Sozialrechte. Zusammengefasst: Keine Menschenrechte mehr für die Roma in Frankreich.

Unter diesen Bedingungen sollen sich die Roma an die Regeln halten? Und sie sollen nicht damit anfangen, die Gesetze zu übertreten? Die französische Regierung macht es ihnen doch selbst vor! Vielleicht sollten die Roma aber auch einfach nur die bedrohte Mehrheit der französischen Regierung retten, unter dem Motto »Eine Minderheit rettet die Mehrheit«?

»Inakzeptabel, rechtlich fragwürdig, inhuman«. So wurde die Abschiebepraxis von Sarkozy im EU-Parlament in Straßburg beschrieben. Die Roma seien als ethnisch-kulturelle Gruppe pauschal verurteilt worden. Als Minderheit seien sie von der EU-Freizügigkeit auf einmal ausgeschlossen. Ihre Rechte als EU-Bürger seien mit Füßen getreten geworden.

Anders klingt es aus der EU-Kommission. So schlimm sei das alles nicht. Justizkommissarin Viviane Reding zeigte sich mit den abgegebenen »Garantien« Frankreichs zur Roma-Politik insgesamt zufrieden. Der Präsident der EU-Kommission Barroso spricht über die Rechte und die Werte der EU, bezieht aber null Stellung gegen das französischen Vorgehen. Überschuss an Diplomatie? Frankreich gehört zwar zu den »großen EU-Ländern«. Die »Grande Nation« hat aber einen etwas kleinen Präsidenten. Der könnte nun, diplomatisch gesehen, wieder zum »Grand Homme« gemacht werden, dessen Vorgehen endlich zu einer bisher fehlenden koordinierten europäischen Roma-Politik zwingt. Schließlich leben zehn Millionen Roma in der EU, das ist die größte Minderheit. Also: Lauter s'il vous plaît: NON zur Romapolitik in Frankreich!

** Die französische Journalistin Charlotte Noblet arbeitet unter anderem als Korrespondentin der »L'Humanité« und Bloggerin in Berlin.

Aus: Neues Deutschland, 17. September 2010 ("Brüsseler Spitzen")



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