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Streit um Roma in Frankreich

Regierung und Opposition interpretieren EU-Verwarnung völlig gegensätzlich

Von Ralf Klingsieck, Paris *

Die Androhung eines EU-Verfahrens gegen Frankreich wegen der Art und Weise, wie ausländische Roma ausgewiesen werden, wird von Regierungsseite und Opposition völlig gegensätzlich interpretiert.

Für die Pariser Rechtsregierung war vor allem eines wichtig: Die Brüsseler Kommission habe auf den Vorwurf der Diskriminierung verzichtet. Dies und die Tatsache, dass nicht sofort ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof eingeleitet, sondern zunächst eine »Erklärungsfrist« bis Mitte Oktober eingeräumt wird, wertet man vor allem als Niederlage für Justizkommissarin Viviane Reding. Die hatte Paris ungewöhnlich scharf kritisiert und musste sich inzwischen wegen ihres verfehlten Vergleichs mit der Judenverfolgung sogar entschuldigen.

Was die Abschiebepraxis betrifft, so ist Paris zuversichtlich, mit den eigenen Argumenten Gehör zu finden und die EU-Kommission überzeugen zu können, dass keine Verletzung der Freizügigkeitsregeln von 2004 vorliegt. Außerdem habe man extra noch einmal die entsprechenden EU-Regeln in das neue Ausländergesetz einfließen lassen, das gegenwärtig dem Parlament vorliegt und in Kürze verabschiedet wird. Europa-Staatssekretär Pierre Lellouche betont, Frankreich wende »diskriminierungsfrei europäisches Recht an«. Das Schreiben aus Brüssel werde intensiv analysiert und sorgfältig beantwortet, bis hin zu den Ausweisungsprotokollen der Behörden und den Dokumenten, die sie den Ausländern aushändigen. »Die Zeit der Polemik sollte vorbei sein und Platz machen für konkretes Handeln«, meint Lellouche. Gleichzeitig lenkt er die Aufmerksamkeit von Paris ab: »Frankreich wird seinen Beitrag für eine europäische Strategie zur Integration der Roma in ihren Heimatländern leisten.«

In einer von Präsident Nicolas Sarkozy eingeleiteten Kampagne hat die Regierung seit Juli über 100 improvisierte Lager rumänischer und bulgarischer Roma in Frankreich gewaltsam räumen und zerstören lassen und mehr als 1000 Männer, Frauen und Kinder in ihre Heimat abgeschoben. Seit Jahresanfang liegt die Gesamtzahl der Abgeschobenen bei über 8000.

Der sozialistische EU-Abgeordnete Harlem Désir warnt, man dürfe Frankreich »nicht vom Haken lassen«. Die Regierung habe keinen Grund zu frohlocken. Die Erklärung der EU-Kommission komme einer »eindeutigen Missbilligung der Ausländerpolitik und einer Verurteilung der Abschiebepraxis« gleich.

Serge Moscovici von der Parteiführung der Sozialisten unterstreicht, dass die Regierung ihre wahre Gesinnung und ihre Absichten in einem Rundschreiben des Innenministeriums an alle Präfekturen des Landes am 5. August deutlich gemacht habe. Sie sollten »alle illegalen Lager auflösen, vor allem solche von ausländischen Roma«. Die öffentliche Empörung veranlasste selbst Sarkozy, dazu auf Distanz zu gehen. Das Rundschreiben wurde zurückgezogen und durch ein inhaltlich identisches ersetzt, in dem die Roma nicht mehr genannt werden. »Den Text hat man geändert, der Geist ist derselbe«, klagt Serge Moscovici. »Man diskriminiert weiter die Roma und andere unerwünschte Ausländer, aber man formuliert das jetzt subtiler.«

Hintergrund: EU-Recht auf freien Aufenthalt

Bürger der Europäischen Union haben das Recht auf freien Aufenthalt in jedem anderen Mitgliedstaat. Dieses Recht garantieren zahlreiche Vorschriften, so auch der Lissabon-Vertrag. Die Details regelt eine Richtlinie aus dem Jahr 2004, die auch »Freizügigkeitsrichtlinie« genannt wird. Danach benötigt ein EU-Bürger für einen Aufenthalt bis zu drei Monaten in einem anderen Mitgliedsland nur einen gültigen Personalausweis oder Pass. Wer länger bleiben will, muss als Arbeitnehmer oder Selbstständiger arbeiten oder über ausreichende Mittel verfügen, um dem Sozialsystem des Gastlandes nicht zur Last zu fallen. Auch eine Krankenversicherung wird verlangt.

Ein Staat kann laut Richtlinie einen Bürger aus einem anderen EU-Land abschieben, wenn dieser zu einer Last für das Sozialsystem wird. Dabei müssen die Behörden allerdings die persönlichen Umstände des Betroffenen berücksichtigen. Die Entscheidung soll »verhältnismäßig« sein. Außerdem gibt es die Möglichkeit, einen EU-Bürger auszuweisen, wenn er gegen das Gesetz verstoßen hat. Hier schreibt das EU-Recht ebenfalls ausdrücklich eine Einzelfallprüfung vor. Bei jeder Abschiebung hat der Bürger das Recht zur Anfechtung; außerdem muss ihm mindestens ein Monat Zeit zur Ausreise gegeben werden.

EU-Staaten müssen zudem die Charta der Grundrechte der EU bei der Anwendung europäischen Rechts beachten. Die Charta untersagt Diskriminierung aufgrund von Rasse, Hautfarbe, ethnischer oder sozialer Herkunft, Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit oder Nationalität. (dpa/ND)



* Aus: Neues Deutschland, 1. Oktober 2010


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