Hoyer (FDP): "Die Bundesregierung muss sich fragen lassen, ob die Isolationspolitik gegenüber der Hamas zielführend gewesen ist" / Gysi (Linke): "Der Krieg selbst ist völkerrechtswidrig"
Dokumentiert: Die in der Öffentlichkeit fast untergegangene Debatte des Bundestags über die Lage im Gaza-Krieg
Am 14. Januar debattierte der Deutsche Bundestag über die aktuelle Lage im Kriegsgebiet Gaza-Streifen. In der Öffentlichkeit wurde die Debatte kaum wahrgenommen. Im Zentrum der Berichterstattung stand am nächsten Tag das Konjunkturprogramm der Bundesregierung, wozu die Bundeskanzlerin eine Regierungserklärung abgegeben hatte.
Wir dokumentieren die Debatte im Folgenden in der Reihenfolge der Beiträge nach dem amtlichen stenografischen Protokoll.
Es sprachen:
Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht
198. Sitzung, Berlin, Mittwoch, den 14. Januar 2009
(Plenarprotokoll 16/198)
Tagesordnungspunkt 2:
Vereinbarte Debatte: Aktuelle Lage im Nahen Osten
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Vereinbarte Debatte Aktuelle Lage im Nahen Osten
Das Wort hat der Bundesaußenminister Frank-Walter
Steinmeier.
(Beifall bei der SPD)
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des
Auswärtigen:
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Seit dem 27. Dezember wird in Gaza gekämpft.
Seit 19 Tagen gibt es Krieg, große Zerstörung und Hunger.
Verletzte und fast 1 000 Tote sind bislang zu beklagen.
Das Kämpfen geht weiter, in den letzten Tagen sogar
mit größerer Intensität als am Anfang der Auseinandersetzung.
Die Gegenwehr ist durchaus heftig. Die Luftangriffe
werden fortgesetzt, begleitet von Operationen am
Boden. Ich habe mir selber in Rafah ein Bild von der
Heftigkeit der Kampfhandlungen machen können. Ich
habe eine Vorstellung, wie es den Menschen, die im Gazastreifen
geblieben sind, geht. Die Zivilbevölkerung leidet
ganz ohne Zweifel, und aus der humanitären Krise
könnte eine humanitäre Katastrophe werden. Das kann
uns nicht kaltlassen, und das lässt uns nicht kalt. Die leidende
Zivilbevölkerung hat und braucht unser Mitgefühl.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir haben am vergangenen Wochenende intensiv mit
den Hilfsorganisationen in der Region gesprochen, auch
mit dem Internationalen Roten Kreuz. Noch sind ausreichend
Medikamente vorhanden, noch arbeitet die Mehrzahl
der Krankenhäuser und Krankeneinrichtungen notdürftig
unter den Bedingungen, die wir uns vorstellen
können; aber ebenso klar war auch die Aussage, dass
das, was gegenwärtig an Nahrungsmitteln in den Gazastreifen
hineinkommt, nicht ausreichen wird, wenn der
Kampf noch länger dauern wird. Deshalb eines ganz klar
vorab: Die Kampfhandlungen müssen jetzt eingestellt
werden, die Waffen müssen zum Schweigen gebracht
werden.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
bei Abgeordneten der LINKEN)
Ich sage, obwohl ich als Außenminister weiß, dass
uns die Fernsehbilder, die wir allabendlich sehen, sehr
erschüttern und die Empörung sehr verständlich ist: Das
wird nicht ausreichen. Ich kenne keine Auseinandersetzung
der jüngeren Zeit, die wir mit Presseerklärungen
und Statements aus der Welt gebracht hätten. Es ist Arbeit
erforderlich, und die Arbeit verlangt auch, sich daran
zu erinnern, dass dieser Krieg, die Militäraktionen
Israels nicht vom Himmel gefallen sind. Sie wissen, dass
dem Krieg insbesondere in der zweiten Hälfte des letzten
Jahres eine geradezu täglich zunehmende Zahl von Raketenangriffen
aus dem Gazastreifen vorausging. Ich
habe öffentlich gesagt und stehe dazu: Keine Regierung,
auch und erst recht nicht die Regierung Israels, kann einer
solchen Bedrohung der eigenen Bevölkerung tatenlos
zusehen. Es ist gerechtfertigt, sich dagegen zur Wehr
zu setzen.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN)
Richtig ist sicher auch, dass diejenigen, die durch einen
faktischen Putsch die Loslösung des Gazastreifens vom
Westjordanland für einige Zeit durchgesetzt haben und
dafür die Verantwortung tragen, nicht die Verantwortung
für die Menschen im Gazastreifen übernommen haben.
Sie tragen mit dafür Verantwortung, dass der jetzige
Waffengang mit viel Leid für die Zivilbevölkerung zustande
kam. Schuldfragen sind in einer solchen Situation
öffentlich gestellt worden, aber die Klärung von Schuldfragen
wird uns nicht zu der Einstellung der Kampfhandlungen
führen. Das wird nur der Fall sein, wenn wir unseren
Teil dazu beitragen, dass aus Initiativen wie
beispielsweise der des ägyptischen Präsidenten Mubarak
zum Waffenstillstand ein Erfolg wird.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN)
An diesem Punkt sind wir noch nicht. Meine Gespräche
in Israel haben mir ganz klar gezeigt: Wir werden das,
was wir erhoffen und worauf wir täglich warten, nämlich
die Einstellung der Kampfhandlungen, nur erreichen,
wenn zwei Dinge gewährleistet sind: Erstens wenn Israel
zugesichert werden kann, dass es nach diesem Waffengang
ein erhöhtes Maß an Sicherheit für die israelische
Bevölkerung geben wird – deshalb muss sichergestellt
werden, dass eine Neubewaffnung der Hamas nicht in
kürzester Zeit wieder möglich sein wird –, und zweitens
– ich bin mir sicher, dass das ein Element für die Einstellung
der Kampfhandlungen ist, wenn die Einstellung
dauerhaft sein soll –, dass wir eine Regelung zur Öffnung
der Grenzübergänge finden, die eine dauerhafte
Versorgung der Zivilbevölkerung wieder sicherstellt.
(Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei
Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES
90/DIE GRÜNEN)
Ich habe in den letzten Tagen viele hässliche Kommentare
über das Tätigwerden der EU gelesen. Ich kann
mit all denen übereinstimmen, die darauf aufmerksam
machen, dass es schlecht ist, wenn die EU im Nahen Osten
mit unterschiedlichen Stimmen und konkurrierend
auftritt. Nur: Das ist nicht das Thema.
Stellen Sie sich vor, die gegenwärtige tschechische
Ratspräsidentschaft hätte sich nach dem Ausbruch der
Kampfhandlungen geweigert, in die Region zu fahren.
Die Kritik wäre nicht minder groß, sondern vielleicht
noch schärfer ausgefallen. Ich finde, man kann denjenigen,
die sich in einer damals – vor 10, 14 Tagen – noch
fast aussichtslosen Situation um Frieden bemühten, nicht
den Vorwurf machen, dass die Einstellung der Kampfhandlungen
nicht schon nach dem ersten Besuch, dem
ersten Gespräch stattfindet.
Das Wichtige ist, dass ein Dialog aufgenommen wird.
Den führen wir, und wir führen ihn unter den Europäern
so eng wie möglich miteinander. Ich selbst habe in meinen
Delegationen in Ägypten und Israel Mitglieder der
tschechischen Präsidentschaft gehabt. Das, was wir an
Gesprächen in Ägypten, Israel und in der Gesamtregion
führen, wird eng mit den französischen und britischen
Nachbarn abgestimmt.
Wo stehen wir? Das Schlüsselland Ägypten, das hier
große Verantwortung auf sich nimmt – auch mit Blick
auf die komplizierte Lage in der Arabischen Liga, wo
die Vermittlungsversuche Ägyptens auch nicht ohne Kritik
bleiben –, verdient jede Unterstützung, in den Direktgesprächen
mit Israel das zustande zu bringen, was wir
brauchen, nämlich die Voraussetzungen dafür, dass vonseiten
der Hamas versichert wird, dass kein weiterer Raketenbeschuss
stattfindet, und Israel daraufhin die
Kampfhandlungen einstellen kann. Das ist schwierig genug.
In einer solchen Situation, in der die erhoffte Vereinbarung
noch nicht zustande gekommen ist, habe ich
mich mit den Partnern in der Region auf fünf Punkte
verständigt: Wir brauchen einen Einstieg in einen Prozess.
Wenn der konsentierte Waffenstillstand nicht sofort
zu erhalten ist, dann müssen wir den Einstieg über eine
humanitäre Waffenruhe für einige Tage, besser für eine
Woche, noch besser für zwei Wochen hinbekommen.
Wir müssen dann die Zeit nutzen, um in einer solch
humanitären Waffenpause einerseits die Versorgung der
Bevölkerung sicherzustellen. Andererseits müssen wir
die diplomatischen Möglichkeiten nutzen, um zu Vereinbarungen
zu vermehrter Sicherheit an der Grenze zwischen
Ägypten und dem Gazastreifen zu kommen und
auch um Maßnahmen zu vereinbaren, wie Waffenschmuggel
in der nächsten Zukunft effektiver verhindert
wird.
Wir können die Zeit nutzen, um in den Tagen der humanitären
Waffenruhe entsprechende Vereinbarungen
mit Ägypten zu treffen. Wir können in einer nächsten
Phase die kontrollierte Öffnung der Grenzübergänge
vorbereiten. Wohlgemerkt: Wenn ich von Grenzübergängen
spreche, dann meine ich nicht nur Rafah, nicht nur
den Grenzübergang zwischen dem Gazastreifen und
Ägypten, sondern die Grenzübergänge, die es zwischen
Gaza und Israel gibt und über die die Mehrzahl der Güter
für die Versorgung der Bevölkerung läuft.
Wir müssen – das scheint auf den ersten Blick abstrus
zu sein – uns auch Gedanken darüber machen, wie wir in
einem weiteren und letzten Schritt diejenige Bevölkerung
mit alternativen Einkommensmöglichkeiten versorgen,
die gegenwärtig vom Schmuggel an der Grenze
westlich und östlich von Rafah lebt, ein für die Ägypter
nicht einfaches Problem, bei dem wir Europäer aber behilflich
sein könnten. Ich bin mir sicher: Wenn man einen
solchen Arbeitsplan verfolgt – wir sind derzeit dabei –,
dann können damit die Voraussetzungen für einen baldmöglichsten
Waffenstillstand geschaffen werden.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Gespräche dazu laufen. Ich werde morgen erneut in
der Region sein. Ägypten hat die Unterstützung von der
Europäischen Union und auch der deutschen Seite akzeptiert.
Die Unterstützung muss unter der Wahrung der
ägyptischen Souveränität stattfinden. Deshalb sind alle
Vorschläge, von denen ich interessiert in der Öffentlichkeit
gehört habe, dass eine internationale Schutztruppe
auf ägyptischem Boden stationiert werden soll, jenseits
aller vorstellbaren Möglichkeiten.
Ägypten besteht darauf, dass die Souveränität des
Landes und die Autorität der eigenen Grenzschutzpolizei
gewahrt bleiben. Deshalb kann es für uns nur darum gehen,
mit Ausstattungshilfe, mit technischem Equipment,
mit Training, mit der Diskussion einer geeigneten
Grenzschutzstrategie und Ähnlichem behilflich zu sein.
Aber das sind dann auch die Möglichkeiten, von denen
mir und uns auch die israelische Seite sagt: Wenn Grenzschutz
dadurch effektiver wird, dann ist das eine Möglichkeit
für die Israelis, auch ihrerseits von einem Mehrwert,
von einem Mehr an Sicherheit für die israelische
Bevölkerung auszugehen.
Wir sind im Augenblick bei einem Zwischenstand.
Ich hatte gehofft, Ihnen heute bei dieser Debatte sagen
zu können, wie erfolgreich der Weg zum Waffenstillstand
beschritten worden ist. Nun sind wir noch nicht so
weit. Die Mühe, ihn schnellstmöglich zu erreichen, wird
anhalten. Ich werde mich in den nächsten Tagen mit anderen
weiter darum bemühen.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
der Abg. Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN])
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Werner Hoyer,
FDP-Fraktion.
(Beifall bei der FDP)
Dr. Werner Hoyer (FDP):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Bilder aus dem Gazastreifen, die wir jeden Abend
auf unsere Fernsehschirme transportiert bekommen,
können niemanden kaltlassen. Jedes unschuldige Opfer
in diesem furchtbaren Krieg ist eines zu viel.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
SPD)
Frieden, zumindest aber zunächst ein Schweigen der
Waffen, ist also dringend erforderlich. Alle, die sich darum
bemühen, verdienen Unterstützung. Es ist überhaupt
nicht im Sinne eines wechselseitigen Aufrechnens zu
verstehen, wenn ich zugleich darauf hinweise, dass wir
Europäer uns manchmal kaum vorstellen können, was es
für Bürger großer Teile Israels bedeutet, seit Jahren unter
der permanenten Bedrohung durch Qassam-Raketen
– sie schlagen tagtäglich ein – leben zu müssen. Angesichts
dessen erscheint es geradezu zynisch, dass diese
Raketen ob ihrer geringen technologischen Qualität in
manchen Medienberichten geradezu verniedlicht oder
verharmlost werden.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU und der SPD)
Wir müssen uns in die Gefühlslage der betroffenen
Menschen hineinversetzen. Dazu gehört das Gefühl der
permanenten Demütigung, unter dem die Menschen
nicht nur in Gaza, sondern in ganz Palästina leiden. Dazu
gehört eben auch – wenn man zum Beispiel Israel verstehen
will –, zu erfassen, welche Bedeutung für die Menschen
in Israel und für die Handlungsfähigkeit der israelischen
Regierung das nach wie vor ungeklärte Schicksal
des verschleppten Soldaten Gilad Schalit besitzt. Die
Waffen zum Schweigen zu bringen, lohnt also jede Anstrengung;
aber das allein ersetzt die Perspektive für
Frieden und Stabilität nicht. Ein Waffenstillstand muss
auch genutzt werden können, um den politischen Prozess
wieder in Gang zu bringen, und umgekehrt wird es
ohne die Perspektive eines politischen Prozesses keinen
tragfähigen Waffenstillstand geben.
(Beifall bei der FDP)
Das setzt voraus, dass es gelingt, die Spirale von
Hass, Gewalt und wechselseitiger Demütigung zu durchbrechen,
die die Menschen zunehmend zur Verzweiflung
und eben auch zu mancher Verzweiflungstat bringt. Man
kann die Chancen, diesen Prozess wieder in Gang zu
bringen, natürlich nicht ermessen, wenn man nicht den
Kalender sieht, der für die jeweiligen Konfliktparteien
und auch für diejenigen, die hilfreich sein könnten, wesentlich
ist. Zu den wichtigen Daten gehört natürlich der
israelische Wahltermin Anfang Februar. Es ist schon tragisch,
dass gerade sehr moderate Politiker, die in den
direkten und diskreten Kontakten mit der palästinensischen
Seite, aber auch zum Beispiel mit Syrien schon
ziemlich weit gekommen sind, jetzt offenbar unter innenpolitischen
und wahltaktischen Zwängen stehen und
glauben, besonders konsequent und mit erheblicher
Härte gegen die Hamas vorgehen zu müssen.
Zu den wichtigen Daten gehört natürlich auch der
20. Januar, der Tag, an dem Barack Obama sein Amt als
amerikanischer Präsident übernimmt und auch seine außenpolitische
Agenda darstellt. Jeder weiß, dass ohne ein
starkes amerikanisches Engagement im Nahen Osten
keine stabile Friedenslösung denkbar ist. Die Ausführungen
der zukünftigen amerikanischen Außenministerin
Hillary Clinton gestern im Senatshearing lassen da
durchaus Hoffnung aufkommen. Dass man auf Obama
zu warten hat, ist für Europa aber keine Entschuldigung.
Die EU ist durchaus gefragt. Das war nicht immer so,
insbesondere in Israel. Das hat sich nun geändert. Dem
muss Europa gerecht werden.
Sie waren sehr kollegial, diplomatisch, Herr Minister,
gegenüber den Außenministern und den übrigen Beteiligten
aus Brüssel, die in der letzten Woche in der Konfliktregion
aufgetreten sind. An dem Anspruch gemessen,
erschien mir jedoch der Auftritt der Europäischen
Union in der letzten Woche unkoordiniert, konzeptionslos
und peinlich; ja, man schien überfordert zu sein.
(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie des Abg. Arnold Vaatz
[CDU/CSU])
Es ist schon ziemlich erbärmlich, wenn die Außenminister
aus gegenwärtiger, vorangegangener und zukünftiger
Ratspräsidentschaft – übrigens ein Format, das es
seit Beginn dieses Jahrtausends eigentlich gar nicht mehr
gibt, die klassische Troika –, ergänzt um die Außenkommissarin
und den Generalsekretär des Rates, in der Region
um Termine und Medienaufmerksamkeit buhlen
und der Nicht-mehr-Ratspräsident Nicolas Sarkozy zugleich
in Kairo Gespräche führt, von denen wiederum
sein eigener Außenminister als Teil der genannten Troika
in Jerusalem zu diesem Zeitpunkt gar nichts weiß. So
scheitert die Europäische Union an ihrem eigenen Anspruch
in der Weltpolitik.
Da stimmt es dann fast schon hoffnungsfroh, Herr
Minister, dass, wie Sie uns gestern versichert haben, Ihre
Reise nicht nur in der Europäischen Union abgestimmt
war, sondern sogar in der Bundesregierung.
(Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Die Zweifel bleiben, aber es ist ja schon beruhigend zu
wissen, dass die Bundeskanzlerin, wie ich jetzt doch
feststellen kann, über die Anstrengungen, die Sie unternommen
haben, offenbar nicht nur über die Medien informiert
worden ist.
Schon allein humanitäre Überlegungen machen ein
Schweigen der Waffen so überaus dringlich. Ich unterstütze
Sie, Herr Minister, ausdrücklich, wenn Sie davor
warnen, den erforderlichen politischen Prozess wieder
von der Schuldfrage her aufrollen zu wollen. An wechselseitiger
Schuldzuweisung, am Aufrechnen ist in der
Vergangenheit schon fast alles gescheitert, was zum Frieden hätte führen können. Das Ergebnis eines möglichen Friedensprozesses scheint doch eigentlich auf der
Hand zu liegen oder – vielleicht muss man es heute
schon so sagen – schien auf der Hand zu liegen, zumindest
dann, wenn alle Beteiligten die Vision des friedlichen
Zusammenlebens von Israelis und Palästinensern in
zwei souveränen, zur Kooperation befähigten Staaten
nach wie vor teilen. Deswegen muss der Prozess vom
Ergebnis her definiert werden, nicht von den unüberbrückbaren
Gegensätzen bei der Schuldzuweisung her.
In den letzten Jahren ist bei den allermeisten Beteiligten,
denke ich, durchaus die Erkenntnis gereift, dass eigentliche
Stärke darin besteht, Kompromisse einzugehen
und gegenüber den eigenen Leuten durchzusetzen.
Oder ist die Zwei-Staaten-Lösung etwa schon verspielt?
Hat sich die Lage in Gaza bereits so sehr von der
auf der Westbank entfernt, dass die Zwei-Staaten-Lösung
schon unrealistisch geworden ist? Man kann nur
warnen.
Mancher fragt, warum denn das Zusammenleben
nicht in einem Staat möglich sein soll. Das, meine Damen
und Herren, wäre das Ende von der Vorstellung des
jüdischen Staates Israel. Für das Existenzrecht des jüdischen
Staates Israel einzutreten – nicht für das Existenzrecht
Israels als Staat, in dem die jüdischen Israelis mehr
und mehr zur Minderheit im vermeintlich eigenen Staat
werden –, war und ist Staatsräson im Nachkriegs- und
Nach-Holocaust-Deutschland. Die Drei-Staaten-Lösung
mit einem jüdischen Israel, einem kaum zusammenhängenden
Westbank-Territorium und einem aus eigener
Kraft und als eigenes Staatsgebilde nicht lebensfähigen,
eingemauerten Gaza, das ist ganz gewiss kein Konzept
für Frieden und Stabilität im Nahen Osten.
Wer an der Idee von der Zwei-Staaten-Lösung festhält
und die Spirale von Demütigung und Gewalt durchbrechen
will, der muss also die Kraft aufbringen, der eigenen
Bevölkerung die Opfer abzuverlangen, die dann
unausweichlich sind. Das bedeutet für Israel den schmerzlichen,
aber völlig unverzichtbaren Rückzug aus den
Siedlungsgebieten auf der Westbank – eine Erkenntnis
von Ministerpräsident Olmert, die er leider erst jetzt geäußert
hat, da sein Abgang nur noch eine Zeitfrage ist –,
und das heißt für die Palästinenser: weitgehender Verzicht
auf die vollständige oder auch nur überwiegende
Rückkehr der Flüchtlinge in das Gebiet, das jetzt Israels
Kernland ist.
Wer soll eigentlich in der Lage sein, der eigenen Bevölkerung
solche unverzichtbaren Opfer mit der dafür
notwendigen Autorität abzuverlangen? Hoffen wir, dass
die israelischen Wähler im nächsten Monat die neue
Knesset-Mehrheit in die Lage versetzen, dies zu tun, und
hoffen wir, dass Gaza nicht der Todesstoß für die Regierung
von Präsident Abbas ist.
Jetzt schon scheint sich abzuzeichnen, dass das Kalkül,
eine harte Haltung gegenüber den Raketenterroristen
der Hamas würde die Bevölkerung im Gazastreifen
von der Hamas-Führung entfremden, nicht aufgeht. Im
Gegenteil, ich fürchte, dass selbst diejenigen, für die
Hamas nicht in erster Linie eine Terrororganisation ist
– was Hamas zweifellos auch ist –, sondern ein gesellschaftliches,
soziales und oft auch intellektuelles Netzwerk,
geradezu aus der Solidarität mit Abu Masin herausgetrieben
und in die Solidarität mit den Hardlinern
der Hamas getrieben werden. Deshalb muss sich auch
die Bundesregierung fragen lassen, ob die undifferenzierte
Isolationspolitik gegenüber der ziemlich heterogenen
Hamas eigentlich zielführend gewesen ist.
Es ist Zeit für einen neuen Aufbruch. Es ist sehr zu
begrüßen, wenn einige arabische Staaten bereit sind, daran
konstruktiv mitzuwirken, allen voran Ägypten. Das
ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Immerhin
gehen jene Staaten, die sich für eine umfassende Friedenslösung
aussprechen, damit beträchtliche Risiken
ein, und es ist offenkundig, dass die Eskalation der Gewalt
in Gaza die friedenswilligen Staaten der Region vor
erhebliche innenpolitische Herausforderungen stellt,
während die Extremisten neues Material für ihre unselige
Propaganda erhalten. Auch dies ist ein Grund dafür,
dass es wichtig ist, die Waffen so schnell wie möglich
zum Schweigen zu bringen.
Meine Damen und Herren, Deutschland, dessen Eintreten
für das Existenzrecht des jüdischen Staates Israel
über jeden Zweifel erhaben ist und das zugleich ein großes
Vertrauenspotenzial in der arabischen Welt besitzt,
kann und muss hier eine Rolle spielen und seine guten
Dienste als ehrlicher Makler einbringen. Vielleicht wird
Teil einer Friedenslösung, nicht einer kurzfristigen Waffenruhe,
auch eine militärische Absicherung von außen
sein. Ich begrüße aber außerordentlich, Herr Minister,
dass Sie klargemacht haben, dass diese Debatte viel zu
früh kommt. Weder sind wir an dem Punkt, wo man
grundsätzlich über eine Blauhelmmission diskutieren
könnte, noch ist erst recht eine deutsche Beteiligung daran
vorstellbar. Wenn eine solche Friedensmission Aussicht
auf Erfolg haben soll als Teil eines Friedenspakets,
dann muss diese Blauhelmtruppe im Zweifel auch in der
Lage sein, gegenüber den Konfliktparteien, die bereits
getrennt worden sind, robust aufzutreten. Das ausgerechnet
deutschen Soldaten gegenüber Palästinensern oder
Israelis abzuverlangen, ist nach meiner Auffassung ein
abwegiger Gedanke.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der SPD und der LINKEN)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich gebe das Wort dem Kollegen Eckart von Klaeden,
CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Eckart von Klaeden (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen!
Angesichts des Leids der Zivilbevölkerung auf beiden
Seiten sind wir alle entsetzt, in diesen Tagen insbesondere
über das Leid auf der palästinensischen Seite:
Über 900 Tote, davon ungefähr die Hälfte Zivilisten, und
mehrere Tausend Verletzte können, wie ich glaube, niemanden
hier im Hause unberührt lassen. Deswegen unterstützen wir die UN-Resolution 1860, die dazu führen soll, dass es so schnell wie möglich zu einem dauerhaften
Waffenstillstand kommt.
Bei allem Mitgefühl, das richtig und wichtig ist, können
wir aber als Abgeordnete, als Politiker hier nicht stehen
bleiben, sondern wir müssen die Frage nach der Verantwortung
und die Frage nach Ursache und Wirkung
stellen. Dazu gehören die Feststellungen, dass die Hamas
am 19. Dezember einen Waffenstillstand aufgekündigt
hat, der durch Ägypten verhandelt war und den
Israel als unbegrenzt gültig angesehen hat, dass seitdem
mehrere Hundert Raketen und Mörsergranaten in Israel
eingeschlagen sind und dass seit dem Rückzug der israelischen
Truppen aus Gaza im Jahr 2005 über 10 000 Raketen
und Mörsergranaten im Süden Israels eingeschlagen
sind.
Ich selber habe am 6. Januar dieses Jahres die Städte
Sderot und Beerscheba besuchen können, zwei Städte,
die seit Jahren unter diesem Raketen- und Granatenbeschuss
leiden. Bushaltestellen sind zu Betonunterständen
umgebaut worden, und auch auf den Schulwegen
gibt es entsprechende Unterstände für die Schulkinder.
Man verbindet damit die Hoffnung, dass sie innerhalb
der durchschnittlichen Vorwarnzeit von 15 Sekunden
diese Unterstände erreichen und vor einem möglichen
Raketenbeschuss geschützt sind.
Die von solchen Raketen zerstörten Klassenräume,
die ich ebenfalls besichtigen konnte, zeigen allerdings,
dass diese Vorsichtsmaßnahmen nicht immer erfolgreich
sind. Eine durchschnittliche Vorwarnzeit von 15 Sekunden
bedeutet auch, dass sie manchmal länger und
manchmal kürzer ist. Als ich in Sderot war, sind allein
drei Raketen eingeschlagen, bei denen der Alarm erst
nach dem Einschlag ausgelöst werden konnte.
Ich habe bei den Menschen eine Mischung aus Verbitterung
und Enttäuschung einerseits und Entschlossenheit
andererseits festgestellt. Verbitterung und Enttäuschung
resultieren daraus, dass sie gehofft hatten, dass nach der
monatelangen Waffenruhe die Vereinbarung eines Waffenstillstandes
in greifbare Nähe rückt. Die Entschlossenheit
zeigt sich darin, dass die Menschen dem Terror
nicht weichen und der Hamas-Strategie widerstehen
wollen, die darauf ausgerichtet ist, zunächst die Bevölkerung
zu demoralisieren und dann nicht nur den Süden
Israels, sondern ganz Israel durch Raketenbeschuss für
Juden unbewohnbar zu machen. Das erklärt auch die
Entschlossenheit, mit der die Israelis ihr Recht auf
Selbstverteidigung wahrnehmen.
Der Raketenbeschuss hat nicht nur quantitativ, sondern
auch qualitativ zugenommen. Es sind immer weniger
die sogenannten Qassam-Raketen und immer mehr
Katjuscha- und Grad-Raketen. Katjuscha-Raketen sind
in Deutschland besser bekannt unter dem Namen Stalinorgel.
Grad-Raketen sind industriell hergestellte Raketen,
die die Qassam-Raketen und die Katjuscha-Raketen
in Bezug auf Reichweite, Zielgenauigkeit und Sprengkraft
bei weitem übertreffen. Die Waffenruhe der letzten
Monate hat die Hamas intensiv genutzt, um im Gazastreifen
mit diesen Raketen aufzurüsten. Deswegen ist es
folgerichtig, dass es für die israelische Seite keine Rückkehr
zum Status quo ante geben kann, sondern ein dauerhafter
Waffenstillstand aus ihrer Sicht nur möglich ist,
wenn eine effiziente Unterbindung des Waffenschmuggels
erreicht wird. Denn es existiert ein System von
mehreren Hundert Tunneln, durch das nicht nur Waffen,
sondern auch Ziegen und Kühe geschmuggelt werden;
einmal war es sogar eine Giraffe für den Zoo von Rafah.
Ich erwähne das, damit man sich eine Vorstellung von
dem Ausmaß und der Stabilität dieser Infrastruktur machen
kann. Über 400 Tunneleingänge gibt es allein auf
ägyptischer Seite und mehrere Hundert Tunnel, durch
die dieser Schmuggel stattfindet.
Deswegen ist es unter den vom Außenminister beschriebenen
Voraussetzungen richtig und wichtig, dass
wir unsere Unterstützung und Zusammenarbeit beim
Aufspüren, Verschließen und möglicherweise auch
Sprengen dieser Tunnel anbieten. Dieser Aufgabe
kommt mit Blick auf eine schnellstmögliche Erreichung
eines dauerhaften Waffenstillstandes in der zeitlichen
Abfolge eine zentrale Bedeutung zu. Es ist gut, dass die
ägyptische Regierung dieses Problem erkannt hat und
nach Jahren jetzt bereit ist, etwas dagegen zu unternehmen.
Die Frage einer internationalen Präsenz im Gazastreifen
ist angesprochen worden. Ich teile das, was der Kollege
Hoyer gesagt hat. Ich würde diese Präsenz grundsätzlich
nicht ausschließen, bin in diesem Punkt aber
deswegen besonders zurückhaltend, weil sich zunächst
einmal die Frage des Mandats stellt. Eine bloße Beobachtermission
wird wohl nicht infrage kommen. Das
nachvollziehbare Argument der Israelis lautet: Was auf
uns an Granaten und Raketen abgeschossen wird, können
wir selber feststellen; das muss nicht noch durch
eine internationale Präsenz erfolgen. – Ein Mandat
müsste also beinhalten, den Waffenstillstand durchzusetzen
und zu überwachen. Aber spätestens dann wäre eine
internationale Präsenz in ähnliche Konflikte verwickelt,
wie sie heute die israelische Armee im Gazastreifen zu
bestehen hat.
Welche Schritte müssen als Nächstes gegangen werden?
Der zweite Schritt nach dem Schließen der Tunnel,
den ich für wichtig und unvermeidbar halte, ist die Bemühung
darum, arabische und islamisch geprägte Länder
stärker in die Überwachung eines Waffenstillstandes
einzubinden. Denn im Kern dieses Konflikts steht der
Bruderkrieg zwischen Hamas und Fatah. Wir dürfen
nämlich nicht vergessen, dass der massive Raketenbeschuss
Israels vor allem nach dem blutigen Putsch der
Hamas gegen die Fatah im Gazastreifen im Juni 2007
zugenommen hat. Fatah-Kämpfer wurden von der Hamas
ermordet, indem man ihnen zunächst in die Knie geschossen
hat und sie dann vom 14. Stockwerk geworfen
hat. Andere sind in demütigender Weise nur mit Unterhosen
bekleidet durch die Straßen von Gaza getrieben
worden.
Der Konflikt zwischen Hamas und Fatah ist im Kleinen
nichts anderes als der Konflikt zwischen moderaten
und fundamentalistischen Kräften, den wir in der islamischen
Welt seit einiger Zeit vermehrt beobachten müssen.
Wir können den moderaten Kräften diese Auseinandersetzung mit den Fundamentalisten nicht abnehmen.
Aber wir müssen sie – auch in unserem eigenen Interesse –
mit allen Mitteln dabei unterstützen.
Deswegen halte ich es für richtig, dass die moderaten
Kräfte – wie es Ägypten mit der Hamas in Bezug auf die
Waffenruhe getan hat – mit diesen fundamentalistischen
Kräften verhandeln. Ich würde es aber für einen schweren
Fehler halten, wenn wir die fundamentalistischen
Kräfte durch die Teilnahme an direkten, offiziellen Verhandlungen
legitimieren würden.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Das Beispiel, das immer als Gegenargument angeführt
wird, ist die PLO. Dieses Beispiel zeigt aber genau
das, was ich meine. Die PLO ist 1964 angetreten – wie
heute die Hamas –, Israel mit den Mitteln von Terror und
Gewalt zu vernichten. Erst nach einer Reihe schwerer
militärischer Niederlagen hat die PLO-Führung 1988 in
Algier erkannt, dass man auf das Mittel von Terror und
Gewalt verzichten muss. Sie hat durch die Anerkennung
entsprechender UN-Resolutionen Israel als Staat indirekt
anerkannt. Diesen Weg muss die Hamas gehen.
Wer den Charakter der Hamas nicht kennt, der sollte
einen Blick in die Charta der Hamas werfen, die nach
wie vor Gültigkeit hat. In der Präambel ist von der Auslöschung
Israels die Rede. Auf der Grundlage dieser
Charta fordert die Hamas:
Jeder Jude ist ein Siedler und es ist unsere Pflicht,
ihn zu töten.
Friedensinitiativen, insbesondere muslimische Friedensinitiativen,
werden als Verrat abgelehnt:
Friedensinitiativen ... widersprechen dem Grundsatz
der Islamischen Widerstandsbewegung.
In Art. 7 der Charta steht:
Das Jüngste Gericht wird nicht kommen, solange
Moslems nicht die Juden bekämpfen und sie töten.
Dann aber werden sich die Juden hinter Steinen und
Bäumen verstecken, und die Steine und Bäume
werden rufen: Oh Moslem, ein Jude versteckt sich
hinter mir, komm’ und töte ihn!
Solange die Hamas von diesen Passagen ihrer Charta
nicht Abstand nimmt, wie es die PLO getan hat, so lange
dürfen wir mit ihren Vertretern nicht direkt verhandeln
und sie durch direkte, offizielle Verhandlungen legitimieren.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Ich will einen letzten Punkt ansprechen. Selbstverständlich
müssen wir alles dafür tun, die Fatah zu unterstützen.
Dazu gehören auch die Punkte, die der Kollege
Hoyer im Hinblick auf die Siedlungspolitik angesprochen
hat, und entsprechende Aufforderungen unsererseits
und seitens der internationalen Gemeinschaft an die
israelische Regierung, diese illegale Siedlungstätigkeit
so schnell wie möglich zu beenden.
Wir müssen aber auch unsere Politik gegenüber der
Fatah und gegenüber den Palästinensern überdenken.
Bei meinem Besuch in Sderot habe ich festgestellt, dass
alle Bürgerinnen und Bürger – häufig waren es junge
Frauen im Alter von 18 bis 20 Jahren – wissen, welche
Verantwortung sie für sich und für die Gemeinschaft zu
tragen haben. Die internationale Gemeinschaft hat seit
Jahrzehnten den jeweiligen politischen Führungen auf
palästinensischer Seite die Verantwortung für elementare
Daseinsfürsorge hinsichtlich Infrastruktur, Gesundheit,
Ernährung und Bildung abgenommen. Es ist für die palästinensische
Bevölkerung daher sehr schwer, einen Zusammenhang
zwischen der Politik ihrer Führung und
den Einschränkungen oder Schwierigkeiten, die sich in
ihrem täglichen Leben ergeben, herzustellen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege von Klaeden, Ihre Redezeit.
Eckart von Klaeden (CDU/CSU):
Frau Präsidentin, ich bin bei meinem letzten Satz. –
Deswegen kommt auch dieser Frage eine wichtige Bedeutung
zu.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort hat der Kollege Dr. Gregor Gysi, Fraktion
Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert
Winkelmeier [fraktionslos])
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich verstehe
– ich habe hier schon darüber gesprochen –, dass
es im Umgang mit Israel Hemmungen und Beklemmungen
aller Art gibt. Das hängt mit den ungeheuerlichsten
Verbrechen der Deutschen an den Jüdinnen und Juden
bis 1945 zusammen. Nur helfen all diese Verkrampfungen
nicht, um einen wirksamen Beitrag zu leisten, den
Nahostkonflikt zu lösen. Die Frau Bundeskanzlerin
meinte ja, zu Beginn des Krieges ernsthaft erklären zu
müssen, dass die Verantwortung allein bei der palästinensischen
Führung im Gazastreifen läge. Das ist einseitig
und falsch,
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
obwohl diese Führung eine Mitverantwortung trägt.
Es gab hier einmal eine Einigkeit, keine Waffen in
Kriegsgebiete zu liefern. Sie aber exportieren trotz des
verheerenden Krieges weiterhin Waffen nach Israel. Das
halte ich nun aber für indiskutabel. Ich hatte vergebens
gehofft, dass Sie, Herr Außenminister, hier erklären, die
Waffenlieferungen zumindest während des Krieges auszusetzen.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert
Winkelmeier [fraktionslos])
Natürlich ist es nicht hinnehmbar, wenn die palästinensische
Führung im Gazastreifen die Anerkennung
Israels ausschließt. Natürlich ist der Abschuss von Raketen
vom Gazastreifen aus nach Israel scharf zu verurteilen, und jedes diesbezügliche Opfer beklagen wir. Natürlich ist es falsch, dass die Gaza-Führung das
Waffenstillstandsabkommen am 19. Dezember 2008 aufkündigte,
weil dann die Frage entsteht, was sie denn statt
des Waffenstillstands wollte und will.
(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Die Frage hat sich
doch beantwortet!)
Entscheidende Fehler hat aber auch die israelische
Regierung begangen. Zu einem Frieden kommt man
nicht, wenn man Gespräche mit der Führung im Gazastreifen
ablehnt. Es ist völkerrechtswidrig und falsch,
den Gazastreifen so abriegeln zu wollen, dass die Bevölkerung
in Kollektivhaft genommen wird – ohne medizinische
Versorgung, ohne Lebensmittel.
(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das stimmt
doch so nicht!)
Das Waffenstillstandsabkommen ist durch Israel verletzt
worden; denn Israel führte eine Militäraktion in einem
Versorgungstunnel des Gazastreifens durch.
(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Warum?)
Dabei gab es mehrere Tote. Auch die Gaza-Führung verletzte
das Abkommen.
Aber völlig inakzeptabel und maßlos überzogen ist
die Führung eines Krieges mit Bomben und Bodentruppen
durch Israel – und nun auch noch unter der völkerrechtswidrigen
Verwendung schrecklicher Phosphorwaffen.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert
Winkelmeier [fraktionslos])
Dabei hilft es der israelischen Regierung nicht, sich darauf
zu berufen, dass auch westliche Länder solche Waffen
verwenden; denn die Völkerrechtsverletzung eines
Staates berechtigt einen anderen Staat nicht, eine ebensolche
zu begehen. Der Krieg selbst ist völkerrechtswidrig,
weil jede überzogene Militäraktion das Völkerrecht
verletzt. Ein völkerrechtswidriger Krieg ist ein Verbrechen
gegen den Frieden.
Täglich wird die Lage im Gazastreifen für die Bevölkerung
unerträglicher. Es gibt schon über 900 Tote, von
denen mindestens die Hälfte Zivilisten sind, darunter
viele Frauen und fast 300 Kinder. Das Völkerrecht
schreibt im Krieg den Schutz der Zivilbevölkerung vor.
Natürlich weiß ich, dass der israelischen Regierung
und anderen Regierungen die Führung im Gazastreifen
nicht behagt. Das darf man als nachvollziehbar empfinden.
Nur, nirgendwo im Völkerrecht ist geregelt, dass
dies zu einem Krieg berechtigt, dass ein anderes Land einer
Bevölkerung vorschreiben darf, welche Führung sie
sich zu wählen hat oder welche Führung sie auch ohne
Wahlen haben darf. Man hat es einfach hinzunehmen.
Man kann nicht übersehen, dass Israel diesen verheerenden
Krieg begonnen hat, bevor Barack Obama als
Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika vereidigt
ist. Mit dem Kriegstreiber Bush geht so etwas viel leichter.
Aber das rechtfertigt diesen Krieg schon gar nicht.
(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Oh mein
Gott! Unerträglich!)
Leider gibt es Menschen in Israel, die hoffen, mittels
Krieg eine Führung im Gazastreifen etablieren zu können,
mit der dann leichter Verhandlungsergebnisse zu erreichen
wären. Das ist ein Denken in militärischer Logik,
das einem gravierenden Irrtum unterliegt. Dieser
Krieg erzeugt so viel Tod, so viele Verletzte, so viel Not
und Leid, dass daraus Hass in mehreren Generationen
entstehen wird. Dieser Hass ist der schlechteste Partner
für einen Frieden. Mit diesem Krieg erreicht man also
das Gegenteil von dem, was nicht wenige in Israel sich
erhoffen. Frieden erfordert Aufbau, kulturellen und
wissenschaftlichen Austausch, gegenseitiges Interesse,
Respekt und Anerkennung, wie es zum Beispiel der
weltberühmte Dirigent Daniel Barenboim in hervorragender
Art und Weise organisiert.
(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: In dieser Rede
möchte er, glaube ich, nicht auftauchen!)
Frieden braucht also das völlige Gegenteil von dem, was
ein Krieg hervorbringt.
Wir brauchen nicht baldmöglichst einen Waffenstillstand,
sondern sofort.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert
Winkelmeier [fraktionslos])
Jede weitere Stunde Krieg bedeutet weitere Tote und
Verletzte, ist inakzeptabel, nicht hinnehmbar. Die israelischen
Truppen müssen unverzüglich aus dem Gazastreifen
abgezogen werden.
Aber wie kommen wir dahin? Wie kann im Nahen
Osten endlich Frieden entstehen? Ich sage es hier klar:
Ich glaube nicht, dass die Führungen in Israel, im
Gazastreifen und im Westjordanland in der Lage sind,
diesen so schnell wie möglich selbstständig auszuhandeln
und zu gewährleisten. Ich glaube auch nicht, dass
die bisherige Kommission mit Mitgliedern aus den USA,
Russland und der EU dazu in der Lage ist; denn sie hat
versagt.
Es geht darum, drei Kernbeschlüsse der UNO zu Israel
und Palästina umzusetzen:
Erstens. Die UNO hat 1947 beschlossen, die Staaten
Israel und Palästina zu bilden. Es gibt einen Staat Israel,
aber niemand weiß, in welchen Grenzen. Nach wie vor
gibt es keinen Staat Palästina.
Zweitens. Die UNO hat 1967 beschlossen, dass die
Grenzen von 1967 zwischen Israel und Palästina gelten
sollen.
Drittens. Die UNO hat mehrfach zum Waffenstillstand,
zur Beendigung aller Kriege, zum Frieden aufgerufen.
Bundestag und Bundesregierung sollten nun die fünf
ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates der Vereinten
Nationen, das heißt die Vereinigten Staaten von Amerika,
das Vereinigte Königreich von Großbritannien und
Nordirland, die Republik Frankreich, die Russische Föderation
und die Volksrepublik China, auffordern, ihrer
diesbezüglichen Verantwortung in jeder Hinsicht gerecht
zu werden. Der Wechsel zum Präsidenten Barack Obama
in den USA birgt die Chance für einen Neubeginn.
Was wären die Aufgaben der fünf ständigen Mitglieder
des Sicherheitsrates?
Erstens. Sie haben unter strikter Wahrung des Völkerrechts
einen von ihnen garantierten Gewaltverzicht zwischen
Israel und Palästina durchzusetzen. Eine internationale
Friedenstruppe, die sowohl in Israel als auch in
Palästina zu stehen hat, muss die gegenseitige Gewaltlosigkeit
gewährleisten. Eine Beteiligung deutscher Soldaten
kommt für uns schon aus historischen Gründen, aus
den von mir anlässlich des Libanon-Krieges genannten
Gründen, die ich hier nicht wiederholen werde, nicht in
Betracht.
Zweitens. Die fünf ständigen Sicherheitsratsmitglieder
müssen die Gründung eines lebensfähigen Staates
Palästina in den Grenzen von 1967 durchsetzen. Gebietsaustausche
kommen nur bei gegenseitigem Einvernehmen
von Israel und Palästina infrage.
Drittens. Weltweit, auch unter Beteiligung Deutschlands,
muss unverzüglich für Palästina eine Art Marshallplan
aufgelegt werden, damit der Aufbau beginnen kann.
Die Menschen brauchen Bildung und Arbeit, sie brauchen
Brot, sie brauchen Ehre und eine Zukunft, die sie
aktiv mitgestalten können, damit für sie Frieden und
nicht Kampf oder Krieg attraktiv wird, damit alle
Aggressoren und Terroristen bei ihnen keine Chance
mehr haben.
Viertens. Unter Einbeziehung vor allem von Ägypten,
Jordanien, Libanon und Syrien ist ein darüber hinausgehender
Frieden ebenfalls durchzusetzen.
Fünftens. Dann können auch erfolgreiche Verhandlungen
mit dem Iran geführt werden, statt dass mit Krieg
gedroht wird – um zu entspannen und keine weiteren
Konfliktzuspitzungen zuzulassen.
Alle Menschen in Israel und alle Menschen in Palästina
haben jeweils ein Recht auf einen eigenen Staat in
klaren Grenzen. Sie haben ein Recht auf Frieden, auf Leben,
auf Gesundheit, auf Kultur und auf soziale Wohlfahrt.
Die internationale Gemeinschaft muss aufhören
mit sinnlosen Appellen und beginnen, dies ernsthaft umzusetzen.
Gelingt eine Lösung des Nahostkonflikts, gelingt die
Herstellung eines wirklichen Friedens, dann kann der
Hass im Nahen Osten Schritt für Schritt abgebaut werden,
dann kann es eine gedeihliche Zusammenarbeit
geben. Dies wären ein großer Fortschritt für die Menschheit
und ein wesentlicher Beitrag zur Abrüstung zwischen
christlich, jüdisch und islamisch geprägten Ländern,
auch zwischen der sogenannten Ersten und der
sogenannten Dritten Welt.
(Anhaltender Beifall bei der LINKEN sowie
des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich gebe das Wort dem Kollegen Jürgen Trittin,
Bündnis 90/Die Grünen.
Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
glaube, wir alle blicken mit Entsetzen auf den Ausbruch
und die Eskalation der Gewalt im Gazastreifen. Für diejenigen,
die mit Erschrecken darauf schauen, sage ich,
dass diese Gewalt nicht vor 19 Tagen begonnen hat. Sie
hat auch nicht, wie einige weismachen wollen, vor drei
Jahren mit der Blockade des Gazastreifens begonnen.
Sie hat auch nicht aufgehört während der Waffenruhe;
denn in dieser Zeit ist es dennoch zu extralegalen Tötungen
und zu Raketenangriffen des Islamischen Dschihad
gekommen. Die Gewalt ist auch älter als jene sieben
Jahre, seitdem aus dem Gazastreifen heraus Israel mit
Raketen angegriffen wird, sieben Jahre, in denen
32 Israelis getötet, über 600 verletzt und Tausende in
Angst und Schrecken versetzt wurden.
Lassen Sie mich angesichts mancher juristischer Ausführungen
hierzu in aller Klarheit sagen: Der Beschuss
von Dörfern, die gezielte Attacke von zivilen Personen
mit Raketen ist ein Kriegsverbrechen. Das ist durch kein
Wort des Völkerrechts gedeckt, und so muss man das
auch behandeln.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der SPD)
Mit aller Klarheit: Keine Regierung der Welt kann so etwas
akzeptieren. Jede Regierung ist verpflichtet, eine
solche Bedrohung von der eigenen Bevölkerung abzuwenden.
Es gibt angesichts dieser Situation ein Recht
auf Selbstverteidigung.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
SPD und der FDP)
Ich sage das mit diesem Nachdruck; denn das festzustellen
ist etwas anderes, als den Fehler zu begehen, den
die Bundeskanzlerin gemacht hat. Sie meinte nämlich, in
dieser Frage Unschuldige und Schuldige benennen zu
müssen, als sie festgestellt hat, dass die Verantwortung
für die jüngste Entwicklung eindeutig und ausschließlich
bei der Hamas liege. Bei aller Schuld der Hamas, die
niemand in Abrede stellt: Diese einseitige Parteinahme
hat nicht dazu beigetragen, diesen Konflikt möglichst
schnell zu beenden, musste sie doch als ein Stück Bestätigung
der Entscheidung für die kriegerische Lösung
verstanden werden. Ich sage das mit dieser Nachdenklichkeit,
weil ich der festen Überzeugung bin, dass man
nachdrücklich und glaubwürdig für das Selbstverteidigungsrecht
Israels eintreten und dennoch gegen den
Krieg im Gazastreifen sein kann.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Diese Differenzierung müssen wir uns an dieser Stelle
schon erlauben, nicht nur, weil dieser Krieg nicht dazu
geführt hat, dass keine Raketen mehr fliegen – vorgestern sind 19, gestern sind 20 auf Israel niedergegangen –, sondern auch, weil wir uns ebenso der anderen Seite dieses Krieges widmen müssen. Wenn man die Lageberichte
des Auswärtigen Amtes als Grundlage nimmt, so
haben die 19 Tage dieses Krieges, der „Operation Bleigießen“
heißt – das ist der offizielle Titel –, 976 Tote,
darunter 311 Kinder, und 4 418 Verletzte zur Folge gehabt.
Man kann, darf und soll nicht Leben gegen Leben
aufrechnen. Aber mir fällt es angesichts dieser Zahlen
schwer, mich mit dem Wort „unverhältnismäßig“ für
diese Reaktion zu begnügen.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES
90/DIE GRÜNEN)
Deswegen brauchen wir einen sofortigen Waffenstillstand.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES
90/DIE GRÜNEN und der SPD)
Man kann, lieber Kollege Gysi, ganz lange darüber
streiten, was das Völkerrecht für die einen wie für die
anderen hergibt, und ob es eine so extrem unverhältnismäßige
Reaktion rechtfertigt. Sicherlich wird niemand
bestreiten, dass Angriffe auf UN-Konvois, dass Attacken
auf UN-Hilfswerksschulen, in die mittlerweile
25 000 Menschen flüchten mussten, höchst fragwürdig
sind.
An dieser Stelle ist festzuhalten, dass es sich um eine
doppelte Form der Geiselnahme der Bevölkerung im
Gazastreifen handelt: Die Hamas versteckt ihre Waffen
vielfach in Krankenstationen oder in den Reihen der Zivilbevölkerung,
und die Israelis gehen dagegen vor, was
wiederum Opfer unter der Zivilbevölkerung zur Folge
hat. Das große Elend der Menschen und vor allem der
Kinder im Gazastreifen ist der Grund, warum wir jetzt
sehr schnell einen Waffenstillstand brauchen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD und der
FDP)
Ich meine, seit dem Beschluss des Sicherheitsrates
– es gibt ihn übrigens, lieber Kollege Gysi – ist die Sache
klar: Alle weiteren Intensivierungen des Krieges und
jede weitere Rakete sind mit diesem Beschluss des Sicherheitsrates
unvereinbar.
Ich habe vorhin bereits darauf hingewiesen, dass ich
die Stellungnahme der Bundeskanzlerin für falsch halte.
Ich finde, dass der Bundesaußenminister nach dem Desaster
auf EU-Ebene mit seiner Reise einen richtigen
Schritt gemacht hat. Aber ganz im Ernst frage ich Sie:
Wo ist in diesem Konflikt eigentlich das Nahost-Quartett
geblieben? Wer hat Tony Blair einmal vor Ort gesehen?
(Dr. Werner Hoyer [FDP]: Tja!)
Was ist das für ein Vermittler, meine Damen und Herren,
der in den anderthalb Jahren seiner Tätigkeit nicht ein
einziges Mal im Gazastreifen war?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der FDP und der LINKEN sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU und der SPD)
An dieser Stelle treibt mich Unruhe um. Natürlich
gibt es in den USA zurzeit ein Machtvakuum. Das ist
problematisch, weil wir alle wissen, dass die israelische
Regierung und die übrigen politischen Kräfte in Israel
sehr genau beobachten, was dort passiert. Gerade in einer
solchen Situation wäre es die Verantwortung der
Europäer und die Verantwortung des Nahost-Quartetts
gewesen, zu handeln, statt einfach abzutauchen und sich
damit herauszureden, dass man schon einmal in der
Westbank gewesen ist. Nein, ich wünsche mir handlungsfähige
Europäer. Ich wünsche dem UN-Generalsekretär
Ban Ki-moon bei seinen Bemühungen, diesen
Konflikt zu beenden, allen Erfolg.
Ich habe kein fertiges Konzept, lieber Kollege Gysi.
Einen perfekten Plan vorzulegen, fällt mir angesichts der
Realität schwer.
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Aber
Vorschläge kann man doch wohl machen!)
Auf dem Weg zu einem Waffenstillstand müssen allerdings
zwei Grundsätze beachtet werden: Der erste
Grundsatz ist, dass die legitimen Interessen aller Seiten
gewahrt werden müssen. Grundlage eines Waffenstillstands
muss sein, dass Israel nicht länger beschossen
werden darf und dass der Waffenschmuggel beendet
werden muss.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der SPD)
Der zweite Grundsatz ist das legitime Interesse der
Palästinenser, in ihrem Alltagsleben nicht länger einer
strangulierenden und jede wirtschaftliche Entwicklung
behindernden Blockade ausgesetzt zu sein, übrigens einer
Blockade, die den Waffenschmuggel in all den Jahren
überhaupt nicht hat unterbinden können.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Die Wahrheit ist: Die Hamas ist im Gazastreifen militärisch
nicht zu besiegen. Ob sie tatsächlich die Mehrheit
der Palästinenser repräsentiert oder nicht, das wird viel
eher durch die Lebensverhältnisse und durch die politische
und wirtschaftliche Entwicklung in der Westbank
entschieden. Was eine politische Lösung angeht, bin ich
eher pessimistisch.
Herr Hoyer, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen,
dass das Zeitfenster für eine Zwei-Staaten-Lösung immer
schmaler wird. Wo sind denn auf israelischer und
auf palästinensischer Seite die Regierungen, die ihrer
Bevölkerung die dafür notwendigen Kompromisse bei
der Besiedlung, bei der Rückkehr von Flüchtlingen,
beim Gewaltverzicht und bei Gebietsaustauschen zumuten
können? Wir erleben, dass sich die israelische und
die palästinensische Gesellschaft in dramatischer Art
und Weise spalten und polarisieren. Davon zeugen der
palästinensische Bruderkampf und die militanten Auseinandersetzungen
an israelischen Universitäten zwischen
arabischen und jüdischen Israelis. Daran wird
deutlich, dass das Zeitfenster für eine Zwei-Staaten-Lösung
immer schmaler wird. Das bedeutet: Wir brauchen jetzt einen Waffenstillstand, sonst schließt sich das Zeitfenster.
Ich möchte eine Schlussbemerkung machen. Mir ist
es heute nicht leichtgefallen, hier zu reden. Zurzeit finden
in diesem Lande Demonstrationen statt: Die einen
zeigen Solidarität mit Israel, die anderen demonstrieren
gegen die Aggression Israels. Es ist zu skandalösen Vorgängen
bei der Entfernung einer israelischen Flagge in
Duisburg gekommen.
(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Die haben die Flagge verbrannt!)
Ich will ganz persönlich sagen: Ich gehöre zu einer
Generation, die in der Auseinandersetzung mit ihren Vätern
über die Aufarbeitung des Holocaust durchgesetzt
hat, dass es in dieser Gesellschaft einen Grundkonsens
über die Solidarität mit und das Selbstbestimmungsrecht
von Israel gibt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie
bei Abgeordneten der LINKEN)
Die Bundeskanzlerin hat einmal gesagt, das sei Staatsräson.
Ich möchte dieses Wort nicht verwenden. Ich wünsche
mir eine Gesellschaft, in der wir eine solche Räson
nicht einklagen müssen, sondern in der sie als selbstverständlicher
Bestandteil der Gemeinschaft der Demokraten
verstanden wird.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES
90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Das Tragische an den letzten Tagen ist doch, dass dieser
Krieg dabei ist, dieses Grundverständnis einer extremen
Belastungsprobe auszusetzen. Ja, wir müssen diesen
Krieg durch einen sofortigen Waffenstillstand
beenden, um das Elend zu beenden, das damit einhergeht.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege Trittin!
Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Das würde auch dem deutsch-israelischen Verhältnis
und unserer Gesellschaft ein Stück weit helfen.
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort hat der Kollege Hans-Ulrich Klose, SPD-Fraktion.
Hans-Ulrich Klose (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Trittin, es geht mir wie Ihnen: Ich finde die
Debatte sehr schwierig, und zwar, weil ich ehrlich gesagt
nicht sicher bin, was man angesichts der Lage im Gazastreifen
und in Israel raten soll. Ein Waffenstillstand
wäre natürlich gut und unter humanitären Gesichtspunkten
dringlich, insbesondere aus Sicht der im Gazastreifen
leidenden palästinensischen Bevölkerung. Ich bin sicher,
dass es einen Waffenstillstand geben wird; aber ich bin
nicht sicher, ob es ihn schnell geben wird, und ich bin
überhaupt nicht sicher, ob es ein nachhaltiger Waffenstillstand
sein wird.
Es war übrigens die Hamas – mehrere Kollegen haben
darauf hingewiesen –, die, Herr Kollege Gysi, nach
Zwischenfällen auf beiden Seiten den zuvor von Ägypten
ausgehandelten Waffenstillstand für beendet erklärte.
Warum sie das tat, ist nicht völlig klar, aber auch nicht so
wichtig. Wichtig ist in der Tat, dass etwa seit Mitte Dezember
wieder Qassam-Raketen und industriell gefertigte
Raketen mit größerer Reichweite auf Israel abgeschossen
werden.
Was das bedeutet, habe ich mir ähnlich wie andere
Kollegen im Sommer letzten Jahres in Aschkelon und
Sderot angesehen. Insbesondere die Lage in Sderot war
wirklich eindrucksvoll. Dort hatte es bis zu diesem Zeitpunkt
fast 6 000 Raketeneinschläge mit, soweit ich weiß,
15 Toten und nahezu 600 Verletzten gegeben. Ein normales
Leben in einer Gemeinde ist unter solchen Verhältnissen
völlig ausgeschlossen; das geht nicht. In Aschkelon
waren es weit weniger Einschläge. Damals hatte es dort
noch keine Toten gegeben. Die Verunsicherung der Menschen
war bei weitem noch nicht so weit vorangeschritten
wie in Sderot.
Beide Städte sind jetzt aber wieder betroffen, außerdem
große Städte wie Aschdod und Beerscheba. Die
Reichweite der Raketen ist inzwischen auf etwa 40 Kilometer
gestiegen. Auch aus dem Libanon sind vor ein
paar Tagen Raketen auf Israel abgefeuert worden;
(Dr. Werner Hoyer [FDP]: Auch heute!)
auch sie hatten eine größere Reichweite. Das heißt doch
im Klartext, dass der Streifen Israels, der noch außerhalb
der Reichweite von Hisbollah und Hamas liegt, schmaler
und schmaler wird.
Es ist nach meiner Einschätzung nur eine Frage der
Zeit, bis das gesamte israelische Territorium gefährdet
ist. Das geht uns etwas an. Denn – das ist bereits von Ihnen,
Herr Dr. Hoyer, erwähnt worden – die Sicherheit
des jüdischen Staates Israel ist, wie auch die Kanzlerin
betont, Bestandteil unserer Staatsräson. Wenn das ernst
gemeint ist – was ich unterstelle –, dann muss auch aus
unserer Sicht ein erneuerter Waffenstillstand dauerhaft
und mit Garantien versehen sein.
Die Frage ist, ob sich Hamas jemals darauf einlassen
wird. Der Kollege von Klaeden hat aus der Charta der
Hamas zitiert. Ich kann nur allen Kolleginnen und Kollegen
empfehlen, das gelegentlich nachzulesen. Ich zitiere
noch einige Sätze:
Israel existiert und wird weiterhin existieren, bis
der Islam es ausgelöscht hat, so wie er schon andere
Länder vorher ausgelöscht hat.
Ende des ersten Zitats.
Der Dschihad ist die persönliche Pflicht eines jeden
Muslim, seit die Feinde Teile des muslimischen
Landes geraubt haben. Angesichts des Raubes
durch die Juden ist es unvermeidlich, dass ein Banner
des Dschihad gehisst wird.
Letztes Zitat:
Für das Palästina-Problem gibt es keine andere Lösung
als den Dschihad. Friedensinitiativen sind
reine Zeitverschwendung, eine sinnlose Bemühung.
Das war nur eine kleine Auswahl. Ich frage mich, ob
man es angesichts solcher Programmaussagen – denn es
sind Programmaussagen – den Israelis verdenken kann,
dass sie jetzt alles tun, um die Hamas zu entwaffnen und
den Waffenschmuggel nach Gaza zu stoppen. Wer diese
Frage verneint, also das Selbstverteidigungsrecht Israels
anerkennt, muss sich gleichwohl mit dem Argument der
Unverhältnismäßigkeit auseinandersetzen.
Israel, so wird immer wieder gesagt, reagiere unverhältnismäßig
und scheue sich nicht, auf Zivilisten, auch
auf Frauen und Kinder, zu schießen. Dieses Argument
nehme ich ernst. Denn es geht um das Völkerrecht, dessen
allgemein anerkannte Grundsätze bei uns Vorrang
vor innerstaatlichem Recht haben. Ich nehme das ernst
und bin doch zugegebenermaßen wieder ratlos: Wie sollen
denn Zivilisten geschützt werden, wenn sie – wie wir
in asymmetrischen Kriegen immer wieder beobachten –
von der nichtstaatlichen Kriegspartei als Schutzschilde
benutzt werden, wenn Munition und Waffen in Moscheen
lagern und Raketen von Balkonen aus Wohnhäusern
abgefeuert werden? Wir wissen, dass die Hamas
– auch hier dem Beispiel der Hisbollah folgend – genau
dies tut, was freilich die israelische Armee nicht von der
Verpflichtung entbindet, die Zivilbevölkerung zu schonen.
Das ist ein Dilemma, aus dem es keinen militärischen
Ausweg gibt.
Dieses Dilemma zu erzeugen, ist meines Erachtens
das strategische Ziel der Hamas. Hamas will Israel vor
den Augen der Welt zum Völkerrechtsbruch verleiten in
der Hoffnung, auf diese Weise den politischen Krieg
über die Medien zu gewinnen. Dabei scheut sich die
Hamas – wie wir schon im Libanon gelernt haben
– nicht vor inszenierten Gräuelszenen. Im Libanon war
es damals – Sie erinnern sich sicherlich – der Mann mit
dem grünen Helm, und im Fall Gaza ist es der vielfach
zitierte norwegische Arzt.
Lothar Rühl hat neulich in einem interessanten Artikel
in der FAZ dieses Dilemma beschrieben. Ich darf
kurz aus diesem Artikel zitieren:
Die Begrenzung des Krieges ist notwendig, schon
aus humanitären Gründen und nach dem Kriegsvölkerrecht,
doch eine hohe Kunst mit großem Risiko.
Bei fanatischen Feinden wie Hisbollah oder Hamas
steigt dieses Risiko wegen der andersartigen Rationalität
und den absolut gesetzten Zwecken dieser
Kriegsparteien. Das gilt besonders, wenn der Gegner
jeden dauerhaften Frieden ablehnt und – wie
Hamas – das Existenzrecht Israels nicht anerkennt.
„Verhältnismäßigkeit der Mittel“ bedeutet dann in
letzter Konsequenz Verzicht auf Erfolg und Verlust
der Fähigkeit zur Abschreckung.
Wenn man sich die Sicherheitslage Israels realitätsbezogen
vor Augen führt, muss man sich fragen, ob sie nicht
in großem Umfang darauf beruht, dass Israel Abschreckungspotenziale
hat.
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. Mein vorläufiges
Fazit lautet: Wir brauchen einen Waffenstillstand.
Aber es muss ein gesicherter Waffenstillstand
sein. Deutschland hat Technik und Expertise zur Sicherung
der Grenze zwischen Ägypten und dem Gazastreifen
angeboten, Herr Außenminister. Das ist ein erster guter
Schritt, reicht aber nicht aus. Das eigentliche Ziel
unter Sicherheitsgesichtspunkten ist die kontrollierte
Entwaffnung der Hamas. Ein parallel dazu anlaufendes
Hilfsprogramm für die palästinensische Bevölkerung ist
dringlich und könnte zur Versöhnung zwischen Israelis
und Palästinensern beitragen. Auch wir sollten dazu beitragen.
Ich sehe keine andere Lösung und auch diese
eher skeptisch.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES
90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich gebe das Wort der Kollegin Dorothee Bär, CDU/
CSU-Fraktion.
Dorothee Bär (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Trittin
hat es bereits angesprochen – ich denke, das geht heute
jedem so –: Es fällt nicht leicht, am heutigen Tag zu dieser
Thematik an das Rednerpult zu treten. Die Situation
im Nahen Osten hat sich seit Jahren zugespitzt. Im Süden
Israels und besonders im Gazastreifen hat sich eine
Lage entwickelt, die schließlich in die Tragödie mündete,
die wir derzeit erleben. Ich glaube, es geht nicht
nur mir, sondern wahrscheinlich allen so, die in den letzten
Tagen – im Gegensatz zu Eckart von Klaeden oder
zu unserem Bundesaußenminister – nicht vor Ort waren,
dass wir aufgrund der Bilder zwar einen sehr detaillierten
Eindruck haben, dass das aber nicht ersetzen kann,
sich direkt vor Ort zu informieren.
Das Leid, das wir sehen, ist groß. Das müssen wir neben
möglichen Lösungen dauernd erwähnen. Es gibt unterschiedliche
Angaben über die Zahl der Opfer. Aber
letztendlich ist es egal, wie viele Opfer es gibt. Jedes
Opfer ist eines zu viel. So ist unter anderem von knapp
1 000 Toten die Rede. Ich möchte dabei die Zahl von
über 300 Kindern hervorheben. Jedes Kind stellt ein Einzelschicksal
dar. Jede Familie, die betroffen ist, durchlebt
eine ganz furchtbare Zeit. Davor dürfen wir auf keinen
Fall die Augen verschließen, genauso wenig wie vor
den 4 000 Verletzten, den zerstörten Häusern und Schulen
sowie der mangelnden medizinischen Versorgung.
Man sitzt hilflos vor dem Fernseher und sieht Reportagen,
die zeigen, dass denjenigen, denen vielleicht noch
geholfen werden könnte, oft nicht mehr rechtzeitig geholfen
werden kann. Gerade unbeteiligte Zivilisten und die vielen Helfer vor Ort sind oft die Leidtragenden dieses Konflikts.
Die Menschen leben – das wurde bereits angesprochen
– nicht erst seit einigen Monaten oder seit drei Wochen,
sondern schon sehr viel länger mit dieser Bedrohung.
Wer miterlebt hat, dass Schüleraustausche, die seit
Jahren funktioniert haben, eingestellt wurden bzw. nur
noch einseitig stattgefunden haben, dass zum Beispiel
nur noch israelische Jugendliche zu uns in die Landkreise
kommen, aber keine deutschen Schüler mehr nach
Israel geschickt werden, hat gemerkt, was das bedeutet.
Wir haben es bei der Hamas mit einer Terrororganisation
zu tun, die die eigene Bevölkerung sehr stark als
Schutzschild missbraucht. Herr Klose hat bereits angesprochen,
was das bedeutet und was damit bezweckt
werden soll. Ein Gegner, der sich bewusst in Wohnhäusern
verschanzt und in sozialen Einrichtungen verbarrikadiert,
nimmt nicht nur den Tod unschuldiger Menschen
bewusst in Kauf, sondern versucht auch, daraus
politisch Kapital zu schlagen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten
der SPD und des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN)
Deshalb ist das Vorgehen der Hamas auf das Schärfste
zu verurteilen.
Die humanitäre Katastrophe und das Leiden der Zivilbevölkerung
lassen uns nicht kalt. Deswegen ist es am
wichtigsten, zivile Opfer zu vermeiden und die humanitäre
Versorgung sicherzustellen. Ohne Rücksicht auf
Verluste versucht die Terrororganisation Hamas, möglichst
viele palästinensische Opfer zu generieren, um damit
den Kampf, vor allem den um die Medien, zu gewinnen.
Es wurden über 10 000 Raketen in den letzten acht
Jahren auf Israel gerichtet, und wir dürfen nicht dulden,
dass die Hamas die eigene Bevölkerung zugrunde richtet,
nur um Israels Ruf in der Weltöffentlichkeit zu ruinieren.
Nur mithilfe des vielfach angesprochenen Waffenstillstands
können die Versorgung der notleidenden Bevölkerung
gewährleistet und weitere Todesopfer auf beiden
Seiten vermieden werden. Dieser Waffenstillstand
ist besonders wichtig als erster Schritt in einem Friedensprozess,
der endlich nachhaltig vollendet werden
muss. Deswegen unterstütze auch ich die Initiative
Ägyptens, als Vermittler zwischen Israel und der Hamas
zu fungieren. Ägypten kommt hier – das hat der Bundesaußenminister
angesprochen – als arabischem Anrainerstaat
eine besondere Verantwortung in diesem Konflikt
zu.
Die Angaben über die Zahl der Tunnel variieren. Mir
ist die Zahl von über 800 Tunneln unter der ägyptischen
Grenze bekannt, über die der Gazastreifen mit Waffen
versorgt wird. 500 davon wurden bereits zerstört. Dieser
Waffenschmuggel muss unbedingt unterbunden werden.
Anderenfalls bringt ein weiterer Waffenstillstand keine
Besserung. Die Aussetzung des Feuers würde von der
Hamas lediglich dazu genutzt werden, ihr Waffenarsenal
über die ägyptischen Tunnel wieder aufzustocken. Aus
diesem Grund muss Ägypten härter gegen den Schmuggel
vorgehen.
Ägypten ist aber insbesondere als islamisch geprägter
Staat in der Pflicht. Wir müssen auch aus diesem Grund
die Initiative Ägyptens weiter vorantreiben. Auch andere
islamische Länder wie zum Beispiel Syrien, Jordanien
und Saudi-Arabien müssen sich am Nahost-Friedensprozess
aktiv beteiligen. Ich unterstütze die Initiative unserer
Bundeskanzlerin – Ihre Kritik daran, Herr Trittin,
war unberechtigt, wenn auch die Rede sonst ganz gut
war –, gemeinsam mit dem französischen Staatspräsidenten
in engen Kontakten mit Israel und Ägypten Fortschritte
auf dem Weg zu einem Waffenstillstand zu erreichen.
Ich begrüße auch die Konkretisierung des von
Außenminister Steinmeier bei seiner Reise übermittelten
Angebots, insbesondere bei der Unterbindung des
Schmuggels über die Grenze zum Gazastreifen deutsche
Unterstützung zu leisten.
Der Krieg im Nahen Osten muss endlich ein Ende finden.
Für mich ist das unbedingte Bekenntnis zum Existenz-
und Selbstverteidigungsrecht Israels wichtig. Das
ist und bleibt ein Eckpfeiler deutscher, insbesondere
christsozialer und christdemokratischer Außenpolitik.
Wir brauchen eine nachhaltige Lösung dieses Konflikts;
denn dauerhafter Frieden ist nur mit einer politischen,
nicht allein mit einer militärischen Lösung machbar.
Zum Schluss möchte ich noch das positive Engagement
Daniel Barenboims würdigen. Damit hat er nicht
nur in der unsäglichen Rede von Gregor Gysi Erwähnung
gefunden.
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Rolf Mützenich
für die SPD-Fraktion.
Dr. Rolf Mützenich (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es gibt keinen Zweifel: Deutschland trägt weiterhin Verantwortung
für Israel. Ich bin der festen Überzeugung,
dass, wenn Deutsche das Wort „Israel“ in den Mund nehmen,
es einen anderen Klang hat, als wenn dies andere
tun; das ist gar keine Frage. Von dieser Schuld, von dieser
Verantwortung werden wir uns nie wieder freimachen
können.
Ich habe daher immer mit großer Skepsis die Diskussionen
verfolgt, die wir nach der deutschen Einheit hatten,
nämlich ob es eine normale Außenpolitik geben
kann. Ich glaube, eine normale Außenpolitik, insbesondere
gegenüber dieser Region, gegenüber Israel, aber
auch unter Berücksichtigung dessen, was dort passiert
ist, wird es niemals geben können. Auf der anderen Seite
sage ich gleichzeitig: Man wird diese Schuld selbst
durch gute Reden nicht zur Seite drängen, auch nicht
dann, wenn man bestimmte Positionen übernimmt und
Partei ergreift. Selbst in diesem Zusammenhang wird
man Schuld nicht abtragen können. Das kann man nur,
indem man Verantwortung übernimmt und konkrete politische Wege aufzeigt, um die Existenz Israels in der Region sicher zu machen. Ich glaube, da haben wir als
Deutsche und da hat die deutsche Sozialdemokratie in
den letzten Jahrzehnten eine Menge bewegt. Es kommt
darauf an, dass wir bei den Handlungsspielräumen und
Handlungsmöglichkeiten, die wir haben, immer wieder
das historische Verständnis unserer Schuld in Erinnerung
rufen. Ich glaube, Kollege Gysi, es mangelt nicht an
politischen Plänen, es mangelt nicht an politischer
Schrittfolge, sondern es mangelt in dieser Region an
politischem Willen, auch an dem Willen zum Kompromiss.
Das ist genau das, was wir brauchen, und nicht
neue Pläne.
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Uschi
Eid [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Ein zweiter Aspekt, den ich gerne ansprechen
möchte, ist die Frage: Hilft es uns wirklich weiter,
Schwarz-Weiß-Bilder zu malen? Hilft es uns wirklich
weiter, über Schuld zu diskutieren? Oder müssen wir
nicht einfach feststellen: „Diese Situation ist nicht
schwarz-weiß, sondern leider grau. Sie hat ganz unterschiedliche
Facetten, Verantwortungen und Akteure“? –
Deswegen hilft diese – das sage ich ganz bewusst – Ideologisierung
der Außenpolitik nicht weiter. Hier sollten
wir gerade in Deutschland aufpassen.
(Beifall bei der SPD)
Wir stehen offensichtlich vor einer Zeitenwende, in der
wir keine Ideologisierung der Außenpolitik von der anderen
Seite des Atlantiks mehr haben. Die designierte
Außenministerin hat gestern im Senat ausgeführt, dass
sie keine ideologische Außenpolitik mehr betreiben will,
sondern der Diplomatie, der Politik eine Chance geben
will. Deswegen bitte ich darum, die Schwarz-Weiß-
Malerei zu unterlassen und zu überlegen, was wir mit diplomatischen
Mitteln und einem neuen Realismus erreichen
können.
Ich richte mich deshalb ganz konkret an den Bundesaußenminister:
Herzlichen Dank, dass Sie vor einigen
Tagen für die humanitäre Waffenruhe eingetreten sind,
(Beifall bei der SPD)
dass Sie eine Reise in diese Region gemacht, dort konkrete
Angebote und Vorschläge für das Grenzmanagement
unterbreitet haben und jetzt wieder dorthin reisen
wollen.
Der dritte Aspekt, den ich ansprechen möchte, ist folgender:
Man kann immer wieder über die europäische
Außenpolitik schimpfen. Das tun wir auch; das ist keine
Frage. Aber sollten wir nicht vielleicht lieber darüber
diskutieren, wer zurzeit nicht in der Region ist, wer
keine Verantwortung übernimmt?
(Beifall des Abg. Detlef Dzembritzki [SPD])
Ich bin in den 70er-Jahren mit Fernsehbildern groß geworden,
auf denen, als Krieg im Nahen Osten herrschte,
der amerikanische Präsident in den Hauptstädten vor Ort
die Gangway der Flugzeuge rauf- und runtergelaufen ist
und die ganze Zeit zu vermitteln versucht hat. Das haben
wir in den letzten sieben Jahren nicht mehr erlebt. Aber
das brauchen wir wieder. Deswegen ist mein Appell an
die neue amerikanische Regierung, sich vom ersten Tag
an diesem Kernkonflikt im Nahen Osten zu widmen und
Lösungsvorschläge zu machen. Man kann vielleicht
nicht in allen Dingen ehrlicher Makler sein, weil man
auch Verantwortung für Israel übernimmt, aber nur eine
neue amerikanische Administration unter Präsident
Obama und Außenministerin Clinton wird ausloten, was
hier möglich ist. Ich glaube, das Motto „Entspannungspolitik
in Zeiten neuer Spannungen“ ist für diese Region
genau richtig. Wir brauchen Entspannungspolitik, wir
brauchen Diplomatie, wir brauchen Kraftanstrengungen,
um die vorliegenden Pläne umzusetzen. Ich glaube,
wenn die deutsche Bundesregierung das unterstützt, tun
wir eine Menge dafür.
(Beifall bei der SPD und der FDP)
Der vierte Aspekt: Langfristig werden wir die Hamas,
die Hisbollah und den Iran in dieser Region nur dann
politisch schwächen können, wenn der palästinensische
Staat Wirklichkeit wird. Das ist, glaube ich, das richtige
politische Mittel, um die Kräfte, die zu Gewalt bereit
und auch fähig sind, zu schwächen. Wir brauchen einen
lebensfähigen palästinensischen Staat. Ich glaube, es war
ein großer Fehler, dass wir nicht auf den Vorschlag, vermittelt
insbesondere von Saudi-Arabien und der Arabischen
Liga, eingegangen sind. Es war ein historischer
Vorschlag, als sich alle arabischen Staaten bereit erklärt
haben, mit Israel – in den Grenzen von 1967 – Frieden
zu schließen. Das wird für Israel schwer sein; gar keine
Frage. Vielleicht wird es auch nicht genau diese Grenzziehung
sein. Dies ist mir und auch den moderaten arabischen
Staaten bewusst. Aber dass über diesen Vorschlag
der arabischen Staaten zu wenig gesprochen und dass
insbesondere zu wenig gehandelt worden ist, ist die
große Nachlässigkeit insbesondere der USA, vielleicht
auch Israels. Ich hätte mir gewünscht, dass dieser Mut
aufgebracht worden wäre.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
FDP)
Zum Schluss – wenn ich dies noch sagen darf –: Ich
weiß, dass die Hamas ein gewaltbereiter Akteur ist. Leider
herrscht in dieser Region immer Gewalt; nicht nur
die Hamas hat Gewalt in diese Region getragen. Wir
müssen aber auch zur Kenntnis nehmen, dass die Hamas
bei den letzten Wahlen eine politische Mehrheit gehabt
hat. Auch mit diesem Faktum müssen wir umgehen.
Ich glaube, wir täten gut daran, zu versuchen, mit den
konkreten Schritten, die Sie vorgeschlagen haben, Herr
Steinmeier, ein neues Verhältnis zu unterschiedlichen
Akteuren aufzubauen. Ich wünsche Ihnen auf jeden Fall
eine gute Reise, und ich hoffe, Sie haben Erfolg.
Ganz herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Philipp Mißfelder für die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Philipp Mißfelder (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Bilder, die uns tagtäglich erreichen, schockieren uns
und tragen dazu bei, dass der Nahostkonflikt auch hier
auf der Tagesordnung steht und die Gemüter der Menschen
in Deutschland sehr bewegt.
Ich glaube, dass in dieser Debatte sehr gut zum Ausdruck
gekommen ist, mit welchen Unterschieden die
einzelnen Fraktionen zu diesem Konflikt stehen. Ich begrüße
– mit Ausnahme der Positionierung der Linkspartei
hier – alle Statements der Vorredner. Herr Dr. Gysi,
auch wenn Sie versucht haben, das in eine rhetorisch geschickte
Form zu kleiden – was keine seltene Eigenschaft
von Ihnen ist –, muss ich wirklich sagen: Ich habe
von Ihnen heute deutlichere Worte zur Positionierung
der Linkspartei erwartet, auch was das Selbstverteidigungsrecht
Israels angeht. Ich habe mir schon gewünscht,
dass sich Ihre Partei abgrenzt und deutlich sagt,
wie sie zu den Demonstrationen in Deutschland steht, an
denen auch der eine oder andere von der Linkspartei teilnimmt.
Ich hätte mir von Ihnen wesentlich härtere Aussagen
gewünscht.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD])
Ursache und Wirkung dürfen bei diesem Krieg nicht
verwechselt werden; das hat die Bundeskanzlerin aus
meiner Sicht zu Recht gesagt. Wir erleben, dass die einzige
Demokratie im Nahen Osten, nämlich Israel, unter
Druck gerät und dass von der Hamas versucht wird, die
Zivilbevölkerung dauerhaft zu terrorisieren. Es ist von
Vorrednern schon gesagt worden: Es geht nicht nur um
die Gebiete, die jetzt beschossen werden; vielmehr
nimmt die Reichweite der Raketen teilweise zu. Es ist
das Ziel der Terroristen, ganz Israel unbewohnbar zu
machen. Das stimmt nicht mit unserer Staatsräson überein.
Wir bekennen uns ganz klar zum Existenzrecht Israels
und unterstützen dies; deshalb sind wir bereit, dort an
der Seite Israels Partei zu ergreifen.
Seit dem Abzug der israelischen Armee aus dem Gazastreifen
im Jahr 2005 haben Kämpfer der Hamas Israel
bis zum heutigen Tag mit Tausenden von Raketen beschossen.
Allein im vergangenen Jahr sind 1 570 Raketen
und 1 500 Mörsergranaten abgefeuert worden. Dieser
Terror kann eine demokratische Gesellschaft beeinflussen
und in ihr selbst Erosionsprozesse lostreten. Genau
das ist das Ziel, das die Terroristen verfolgen. Teilweise
haben sie es auch erreicht: Heute stellt man fest, dass der
Entschluss, nach Israel zu ziehen, bei jungen Israelis, die
auch den Pass eines anderen Staates haben, gar nicht so
ausgeprägt ist. Vielmehr sagen viele: Ich bleibe lieber in
dem Land, in dem ich sicher bin. – Allein die Tatsache,
dass junge Leute heute ihrer eigenen Sicherheit zuliebe
nicht bereit sind, in Israel zu leben, ist für uns eine Verpflichtung,
uns für diesen Friedensprozess einzusetzen
und zu versuchen, ihn wieder auf den richtigen Weg zu
bringen.
Ich begrüße die Initiativen, die auf europäischer
Ebene ergriffen werden. Ich begrüße das, was unsere
Bundeskanzlerin mit dem französischen Staatspräsidenten
vereinbart hat, und auch das aktive Handeln des Bundesaußenministers
in den vergangenen Tagen und bei
der heute anzutretenden Reise. Wir in Deutschland müssen
aber auch sehen, wie sich die innerdeutsche Debatte
entwickelt. Ich habe versucht, herauszufinden, wie die
Meinungsbildung in anderen europäischen Ländern aussieht;
das ist relativ schwierig. Allerdings stellt man
heute fest, dass die Ressentiments gegenüber Israel auch
in Deutschland nach wie vor sehr stark ausgeprägt sind.
Auch jüngste Umfragen – sie sind vom heutigen Tag –
zeigen, wie kritisch unsere eigene Bevölkerung das
sieht. Deshalb müssen wir an dieser Stelle deutlich machen
– dabei spielen der Deutsche Bundestag als Organ
und die einzelnen Parlamentarier eine große Rolle –,
dass zu unserer Staatsräson das Existenzrecht Israels gehört
und dass wir deshalb keinerlei Verbrüderung oder
Sympathie mit Terroristen zulassen dürfen.
Es gibt befremdliche Vorgänge; Herr Trittin hat es
vorhin schon angesprochen. Wenn bei einer Demonstration
in Duisburg eine Israel-Fahne aus dem Fenster gehängt
wird, Steine fliegen und die Polizei mit Blick auf
den wütenden Mob schon fast in vorauseilendem Gehorsam
nicht als Erstes die Steinewerfer festnimmt, sondern
versucht, in die Wohnung hineinzukommen, um die
Fahne einzuholen, dann muss ich mich wirklich fragen,
welche Außenwirkung dieser Vorgang hat. Herr Trittin,
ich bin Ihnen dankbar, dass Sie es angesprochen haben.
So etwas darf sich nicht wiederholen.
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir dürfen Ursache und Wirkung nicht verwechseln.
Deshalb müssen wir immer auf die Geschichte der
Hamas blicken, die an vielen Stellen deutlich gemacht
hat, wie sie sich politische Agitation vorstellt. In der
Gründungscharta der Hamas – Herr Kollege Klose und
Herr Kollege von Klaeden haben sie bereits zitiert; ich
will es auch tun – steht:
Friedensinitiativen und sogenannte Friedensideen
oder internationale Konferenzen widersprechen
dem Grundsatz der Islamischen Widerstandsbewegung.
... Für das Palästina-Problem gibt es keine andere
Lösung als den Jihad.
Solange das die Position der Hamas ist, gibt es keine
Möglichkeit, in direkte Verhandlungen mit ihr zu treten.
Unsere Fraktion ist der Meinung, dass ein Friedensprozess
in Gang zu bringen ist, aber dafür bestimmte Voraussetzungen
gegeben sein müssen. Die Voraussetzung
kann nicht sein, das politische Programm der Hamas zu
akzeptieren.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Ich schließe die Aussprache.
Quelle: Stenografischer Bericht des Deutschen Bundestags, 16/198, S. 21452-21465; www.bundestag.de
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