Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Einseitiger Krieg – einseitiger Waffenstillstand

Zur neuen Lage im israelisch-palästinensischen Konflikt

Von Peter Strutynski *

22 Tage lang, vom 27. Dezember 2008 bis zum 17. Januar 2009, bombardierten israelische Kampfflugzeuge den dicht besiedelten Gazastreifen, drangen mit Bulldozern und schweren Panzern in Städte und Siedlungen ein, töteten mehr als 1.100 Palästinenser, die Hälfte von ihnen Kinder, und machten auch vor Krankenhäusern, Schulen und Einrichtungen der Vereinten Nationen nicht Halt. Israel setzte den Krieg auch fort, nachdem der UN-Sicherheitsrat mit 14 Stimmen (bei einer Enthaltung der USA) am 8. Januar die Konfliktparteien zu einem sofortigen Waffenstillstand und Israel zum Rückzug aus dem Gazastreifen aufgefordert hatte.

Der Krieg war einseitig. Er war – wie immer, wenn der der israelisch-palästinensische Konflikt mit Waffengewalt ausgetragen wurde – geprägt von der militärischen Überlegenheit Israels, die sich in gut organisierten Truppen, modernstem militärischen Gerät und einer High-Tech-Bewaffnung sowie einem nicht versiegenden Nachschub an Waffen und Munition ausdrückt. Dass wir trotzdem von „Krieg“ sprechen, ist darin begründet, dass der Gegner der israelischen Militärmacht, die bewaffneten Einheiten der Hamas-Regierung in Gaza, zu eigenständigen Kampfhandlungen bereit und in der Lage war. Diese drückten sich aus im Beschuss südisraelischen Gebiets mit Kassam- oder Katjuscha-Raketen sowie in der mittels Kleinwaffen erfolgten Gegenwehr gegen die israelischen Bodentruppen. Neben dieser formalen Gleichsetzung der beiden Kriegsparteien erinnert aber sehr wenig an einen Krieg. Eher kann von einer „Strafaktion“ gesprochen werden, wenn man den Krieg verniedlichen will, oder man bezeichnet ihn als ein „Massaker“ oder – wie es die „Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden im Nahen Osten“ jüngst getan hat – als ein „Blutbad“ [1].

Wenn der Begriff des „asymmetrischen Krieges“ überhaupt einen Sinn macht, dann ist er hier anzuwenden. 99 Prozent der auf beiden Seiten getöteten Soldaten und Zivilpersonen sind auf der Seite der Palästinenser zu beklagen, ein Prozent auf israelischer Seite. Bei den entstandenen Sachschäden dürfte die Relation kaum anders ausfallen. Unabhängig also von der Frage, ob Israel ein „Recht“ zu militärischen Aktionen gegen Hamas hatte und ob die Angriffe auf Gaza von einem breit ausgelegten Verteidigungsbegriff noch gedeckt sein könnten, deuten die Einseitigkeit der Kampfhandlungen und die krasse Unverhältnismäßigkeit der eingesetzten Mittel darauf hin, dass es sich bei der israelischen Kriegführung um einen Verstoß gegen das Völkerrecht, insbesondere gegen das Gewaltverbot nach Art. 2 Abs. 4 der UN-Charta, und eine eklatante und fortgesetzte Verletzung des humanitären Kriegsvölkerrechts handelt, das z.B. den Einsatz unterschiedslos tötender Waffen (z.B. Phosphorbomben) verbietet und die Schonung der Zivilbevölkerung vorschreibt (Vierte Genfer Konvention).

Spätestens an dieser Stelle wird von einem friedensbewegten deutschen Staatsbürger, noch dazu wenn er sich politikwissenschaftlich oder im weitesten Sinne innerhalb der Zunft der Friedensforschung äußert, das Bekenntnis abverlangt, das Verhalten der palästinensischen Seite doch bitte mit derselben Eindeutigkeit zu verurteilen. Man kann das tun und etwa darauf verweisen, dass das – offenbar äußerst ziellose oder ungenaue – Abfeuern von Raketen auf israelisches Territorium völkerrechtswidrig ist, und zwar gleichgültig ob dabei Zivilpersonen zu Schaden kommen oder nicht (und es gab ja zivile Opfer). Doch damit endet bereits die Gleichheit der Vergehen gegen das internationale Recht. Es ist kein Zufall, dass sämtliche Äußerungen, Appelle und Beschlüsse von Repräsentanten oder Organen der Vereinten Nationen während des Gaza-Krieges wegen der besonderen Schwere der israelischen Angriffe von Israel den entscheidenden Schritt zu einer Beendigung der Kämpfe verlangt haben. So heißt es etwa in der völkerrechtlich bindenden Resolution 1860 (2009) des UN-Sicherheitsrats vom 8. Januar, er, der Sicherheitsrat, „unterstreicht die Dringlichkeit und erhebt die Forderung nach einer sofortigen, dauerhaften und umfassend eingehaltenen Waffenruhe, die zum vollständigen Abzug der israelischen Truppen aus Gaza führt“. Noch viel deutlichere Worte findet der UN-Menschenrechtsrat in seiner am 12. Januar verabschiedeten Resolution, worin ebenfalls die „Besatzungsmacht“ Israel aufgefordert wird, ihre Kriegshandlungen sofort einzustellen und die Truppen aus Gaza zurückzuziehen. UN-Generalsekretär Ban Ki-moon bezeichnete in einer Rede in Beirut das Ausmaß der Gewalt im Gazastreifen als „beispiellos für die zurückliegenden Jahrzehnte“ und fährt fort: „Die israelischen Luft- und Bodenangriffe gegen Hamas haben schwere zivile Opfer, ausgedehnte Zerstörungen und schreckliches Leid der ganzen Bevölkerung verursacht“.[2] In diesem Licht verlieren auch Zumutungen des politischen Mainstreams und der führenden Medien hier zu Lande an die Adresse etwa der Friedensbewegung, ihre Kritik gleichmäßig an die beiden Kriegsparteien zu verteilen, ihre scheinbare Unschuld der Neutralität. In letzter Konsequenz verbirgt sich darin nichts anderes als die Aufforderung, den israelischen Krieg zumindest indirekt zu rechtfertigen.

Eine angemessene Beurteilung der gegenseitigen Kampfhandlungen ist erst dann möglich, wenn sowohl der historische Hintergrund des israelisch-palästinensischen Konflikts als auch die Entstehung des gegenwärtigen Status des Gazastreifens und seiner politischen Führung berücksichtig wird. Es kann nicht davon abstrahiert werden, dass Israel ein anerkannter Staat ist, der mindestens über zwei der drei notwendigen Merkmale von Staatlichkeit verfügt: eine Staatsbevölkerung und ein zentrales staatliches Gewaltmonopol. Beim dritten Merkmal von Staatlichkeit, festgelegten und international anerkannten äußeren Grenzen, ist es nicht mehr ganz so eindeutig, allerdings weniger was das internationale Recht, sondern was die israelische Politik betrifft. Die hat nämlich die vor dem Sechstagekrieg 1967 gültigen Grenzen zwischen israelischem Staatsgebiet und palästinensischen Gebieten (Westjordanland und Gazastreifen) in diesem Krieg und danach weiter verschoben: durch fortgesetzte widerrechtliche Ausdehnung israelischer Siedlungen und ihrer militärischen „Sicherung“ in den besetzten Gebieten sowie durch den ebenfalls widerrechtlichen Verlauf der seit einigen Jahren im Bau befindlichen Mauer.

Die Staatlichkeit Palästinas ist – trotz eindeutiger Bekenntnisse und Verpflichtungen der internationalen Gemeinschaft – bis zum heutigen Tag nicht hergestellt worden und rückt mit jedem Krieg und mit der ständigen Vergrößerung des Machtgefälles zwischen Israel und Palästina in weitere Ferne. Dazu gehört auch die innere Schwächung der „Quasi-Staatsgewalt“ der palästinensischen Autonomiebehörde, die nicht nur auf das Konto der Eskalation der „Bruderkampfes“ zwischen Fatah und Hamas und der faktischen Absonderung des Gazastreifens ging, sondern eine wesentliche Ursache in der Ächtung und Isolierung der 2006 demokratisch gewählten Palästinenser-Regierung durch Israel, die USA und die Europäische Union hatte. Es war eine – für die palästinensische Gesellschaft fatale – Ironie der Geschichte, dass dieselben internationalen Akteure, die seiner Zeit Palästina zu freien und demokratischen Wahlen gedrüngt hatten, das Ergebnis eben dieser Wahl nicht anerkannten, weil es politisch nicht „passte“.[3]

Das fortbestehende israelisch-palästinensische Machtgefälle sowie die Uneingeschränktheit und Willkür der israelischen Besatzungsmacht in der Behandlung der palästinensischen Bevölkerung müssen auch berücksichtigt werden, wenn der am 17. Januar zunächst einseitig von Israel ausgerufene Waffenstillstand bewertet werden soll. Das Angebot, das der israelische Ministerpräsident Ehud Olmert am Abend des 17. Januar im Anschluss an eine Sitzung des Sicherheitskabinetts machte, enthielt eine Feuerpause unter der Bedingung, dass die Palästinenser den Raketenbeschuss ebenfalls einstellten. Als Garantie dafür, dass dies auch geschehe, sollten die israelischen Truppen im Gazastreifen bleiben. Ein Abzug der Truppen wurde nur sehr vage in Aussicht gestellt: „Wenn Hamas die Angriffe vollständig stoppt, werden wir entscheiden, zu welchem Zeitpunkt wir den Gazastreifen verlassen werden.“[4] Demgegenüber hatte die Hamas als Bedingung für ein Ende ihrer eigenen Kampfhandlungen stets verlangt, dass ein beiderseitiger Waffenstillstand den Abzug aller israelischen Soldaten, ein Ende der Blockade des Gazastreifens sowie die Öffnung aller Grenzübergänge einschließlich des Grenzüberganges Rafah zu Ägypten beinhalten müsse.

Das Waffenstillstandsangebot Israels wurde von UN-Generalsekretär Ban Ki-moon und von diversen Staatsmännern, darunter auch Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier, freudig begrüßt. "Dieser Schritt eröffnet endlich die Perspektive auf ein Ende der Gewalt in und um Gaza", sagte Steinmeier noch am selben Abend und forderte die Hamas auf, "im Interesse der Menschen in Gaza und in Israel" sämtliche Kampfhandlungen und insbesondere den Raketenbeschuss von Zielen in Israel sofort einzustellen. Ban Ki-moon zeigte sich „erleichtert“ über die Entscheidung der israelischen Regierung und verband dies mit der Hoffnung, dass dies „der erste Schritt zur Schaffung eines festen und dauerhaften Waffenstillstands“ sein sollte, der zum „vollständigen Abzug der israelischen Truppen“ führen müsste, „wie es von der Sicherheitsrats-Resolution 1860 gefordert wird“.[5]

Zunächst schien es, als sollte das Angebot Israels an der unnachgiebigen Haltung der Hamas scheitern. Nach Angaben einer israelischen Armeesprecherin schlugen in der Nacht zum 18. Januar mehr als zehn Raketen und Mörsergranaten auf israelischem Boden ein. Postwendend griff die israelische Armee zwei „Startrampen“ an, von denen aus Raketen abgefeuert worden seien. Ein Einlenken von Hamas wurde noch dadurch erschwert, dass am Morgen nach dem israelischen Waffenstillstandsangebot in den Trümmern zerbombter Häuser noch 40 tote Palästinenser geborgen wurden. Dennoch reagierte die Hamas-Führung positiv auf die Feuereinstellung und verkündete ihrerseits eine sofortige einwöchige Feuerpause, während der die israelischen Truppen aus dem Gazastreifen abzuziehen seien.

Damit sind beide Konfliktparteien über ihren Schatten gesprungen. Israel verzichtete auf ursprüngliche zweite Bedingung, unter der es nur bereit sei, den Krieg zu beenden: die wirksame Unterbindung des Waffenschmuggels über die Grenze zu Ägypten. Und Hamas bestand nicht mehr auf den Abzug der israelischen Truppen als Voraussetzung für die Beendigung der Kämpfe. Aber eben dies hat Olmert kurz nach der Erklärung der Hamas-Führung in Aussicht gestellt; er sei für einen „schnellstmöglichen“ Rückzug der Truppen.

Abzuwarten bleibt, ob der Waffenstillstand wirklich genutzt werden kann zu weiter gehenden Arrangements. Wenn Israel behauptet, mit dem Krieg „alle Ziele“ erreicht zu haben, und darüber hinaus („and beyond“), so dürfte das leicht übertrieben sein. Die Verhältnisse in der „Mausefalle“ Gaza [6] werden sich erst wirksam verändern, wenn Israel auch die anderen Forderungen der UN-Sicherheitsrats-Resolution 1860 erfüllt hat (v.a. Aufhebung der Blockade). Des Weiteren sind die realen Kräfteverhältnisse im israelisch-palästinensischen Konflikt allenfalls eingefroren. Alle Forderungen, dass nicht nur die Palästinenserführung um den Präsidenten Abbas, sondern auch die Hamas-Führung als Partner an internationalen Verhandlungen beteiligt werden solle, bleiben unerfüllt, solange die Dämonisierung der Hamas nicht beendet wird. Hier haben die EU und der neue Präsident der Vereinigten Staaten, der für seine Inaugurationsrede am 20. Januar eine neue Nahost-Initiative angekündigt hat, eine Bringschuld. Von der Bundesregierung ist diesbezüglich wenig Konstruktives zu erwarten, da sie sich in Erfüllung der von Bundeskanzlerin Merkel im vergangenen Jahr proklamierten „Staatsdoktrin“ ganz hinter den israelischen Krieg gestellt hat – so wie sie schon 2006 den Libanonfeldzug für gut befunden hatte.

Der einseitige Krieg ist – vorerst – zu Ende. Die Zahl der Toten in den drei Kriegswochen wurde von der örtlichen Gesundheitsbehörde in Gaza mit 1.245 angegeben. Etwa 5.450 Menschen seien verletzt worden. Auf israelischer Seite starben 13 Menschen, darunter drei Zivilisten, bei Raketenangriffen oder Kämpfen im Gazastreifen. Allein schon wegen dieser Relation fällt es schwer, denen dankbar zu sein, die für den Krieg verantwortlich waren, nur weil sie – nach „Übererfüllung“ der Kriegsziele – den Krieg ausgesetzt haben. Ein Wort des Lobes wäre dann angebracht, wenn sich Israel zu einer Lösung im Sinne eines gerechten Friedens unter Einschluss aller einschlägigen UN-Resolutionen bereit fände. Das aber kann dauern und bedarf gewaltigen internationalen Drucks.

Fußnoten
  1. „Deutsche Juden und Jüdinnen sagen NEIN zum Morden der israelischen Armee“. Anzeige in der Süddeutschen Zeitung vom 17. Januar 2008, S. 10; www.uni-kassel.de
  2. Ban Ki-moon: Secretary-General''s address to the Lebanese Parliament, Beirut, 17. January 2009; www.uni-kassel.de
  3. Siehe Susanne Fischer (2006): Wählen lassen bis es passt? Demokratieförderung und Terrorismusbekämpfung in den palästinensischen Gebieten. www.uni-kassel.de
  4. News Middle East, 18.01.2009 (Eig. Übers.)
  5. Secretary-General's Statement After Israel's Announcement of Unilateral Ceasefire, Beirut, Lebanon 17 January 2009; www.un.org

* Dr. Peter Strutynski, Politikwissenschaftler an der Uni Kassel; AG Friedensforschung; Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag


Zurück zur Gaza-Seite

Zur Israel-Seite

Zur Palästina-Seite

Zur Nahost-Seite

Zurück zur Homepage