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Der Kaukasus und das Völkerrecht

Das Prinzip "illegal, aber legitim" darf nicht zum Standard der Außenpolitik werden

Von Norman Paech *

Jahrelang rührte die Diplomatie nicht an das, was sie die »frozen conflicts« nannte, von denen sie aber wusste, dass dieses Pulverfass nicht für ewig im Permafrost eingeschlossen bleiben würde. Denn zu wichtig ist dieser Korridor zwischen Russland im Norden und der Türkei und Iran im Süden für die geostrategischen Interessen der USA und NATO geworden, als dass sie nicht auch diese Region nach dem Balkan in ihre Neuordnungspläne mit einbezogen hätten. Nun ist der Eisblock geborsten, nachdem der georgische Präsident Michail Saakaschwili die Lunte ans Fass gelegt und es zur Explosion gebracht hat.

Der kurze Krieg hat einige Strukturen des Konfliktes offengelegt, die ihn plötzlich weit über den Südkaukasus hinaus als einen weiteren Brandherd von internationalen Dimensionen ausweist. Man muss kein Verschwörungstheoretiker sein, um hinter dem militärischen Abenteuer von Saakaschwili die USA zu erkennen, die ihn jahrelang militärisch aufgerüstet, politisch unterstützt und als zukünftigen Stützpunkt ihres Auftritts an der Südgrenze Russlands aufgebaut haben. Ob mit oder ohne NATO, die Einkreisung Russlands, vor 1990 war es die Sowjetunion, ist neben der Neuordnung des Mittleren Ostens nach wie vor das zentrale Projekt der Washingtoner Außenpolitik.

Vorwärtsstrategie der USA

Ebenso eindringliche wie eindeutige Warnungen von russischer Seite vor dem imperialen Kurs der USA, selbst zaghafte Vorbehalte ihrer NATO-Verbündeten, scheinen diese Administration kaum zu beeindrucken. Alle Beteiligten wissen, dass diese Vorwärtsstrategie von Regierung und Militär in Moskau als Bedrohung angesehen wird, dass sie destabilisierend statt Vertrauen schaffend wirkt und mehr Konfrontation als Kooperation im Sinne kollektiver Sicherheit der UNO-Charta provoziert. Sie mussten auch wissen, dass Russland sich nicht tatenlos diese Einkreisung gefallen lassen würde – der Einmarsch in Georgien ist offensichtlich die erste deutliche Reaktion.

Es ist leider eine Tatsache, dass bei all diesen Unternehmungen von Afghanistan über Kosovo bis Kaukasus die UNO-Charta und das Völkerrecht immer mehr unter die Räder kommen und ihrer Frieden stiftenden Substanz beraubt werden. Das ist zwar nur einer, aber doch umso gravierenderer »Kollateralschaden« dieser Politik, weswegen es hier vor allem um die Rolle des Völkerrechts gehen soll. Welche Bedeutung kann es für die Regulierung und friedliche Lösung derartiger Konflikte haben, taugt es überhaupt noch als unabdingbare Leitlinie der Außenpolitik?

Das Völkerrecht hat über die Jahrhunderte Prinzipien zur Friedenswahrung entwickelt, die absolute und zwingende Geltung für alle Staaten beanspruchen. So das Gewalt- und Kriegsverbot, das Recht auf Selbstverteidigung, die territoriale Integrität von Staaten sowie das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Ihre Gleichrangigkeit in der Rechtsordnung bewahren diese Prinzipien jedoch nicht davor, in der konkreten Situation oft in Konflikt um den Vorrang miteinander zu treten. So auch jetzt im Kaukasus, wo der schon lange schwelende Streit um Südossetien zwei Staaten, Georgien und Russland, veranlasst hat, zu den Waffen zu greifen. Beide haben damit u. U. gegen das absolute Gewaltverbot und den Schutz der territorialen Unversehrtheit gemäß Art. 2 Z. 4 UNO-Charta verstoßen, es sei denn, einem oder beiden stehen besondere Rechtsfertigungsgründe zur Seite.

Georgien beruft sich auf die Zugehörigkeit Südossetiens zu seinem Territorium und seine territoriale Integrität, die es gegen die dortigen Unabhängigkeitsbestrebungen wiederherstellen musste. Russland spricht von einer akuten humanitären Katastrophe, massenhaften Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen, ja sogar von Völkermord, den die Georgier mit ihrem Überfall angerichtet hätten und beruft sich auf seine Pflicht, der Zivilbevölkerung und seinen eigenen Staatsbürgern zur Hilfe zu kommen. Alle diese Gründe sind uns aus anderen Konflikten nicht unbekannt. Stellt sich zunächst die Frage, welchen völkerrechtlichen Status Südossetien hat. Ist es wirklich integraler Bestandteil von Georgien oder auf Grund seiner Unabhängigkeitserklärung vom 21. Dezember 1991 und der Einsetzung eines eigenen Parlaments und einer eigenen Regierung ein de facto unabhängiges Gebiet, ähnlich wie etwa Taiwan?

Unwirksame Unabhängigkeit

Als Georgien in den Jahren 1918–1921 noch eine unabhängige Republik war, gehörte Südossetien zu ihr, während Nordossetien endgültig der Sowjetunion einverleibt wurde. 1922 erhielt Südossetien den Status eines autonomen Gebietes innerhalb der Georgischen Sozialistischen Sowjetrepublik, die Teil der Sowjetunion wurde. Mit der Auflösung der Sowjetunion erklärte sich Georgien bereits am 9. März 1990, noch einen Monat vor Russland, für souverän.

Formell wurde es am 9. April 1991 unabhängig und 1992 in die UNO aufgenommen, einschließlich der beiden autonomen Republiken Abchasien und Adscharien sowie dem autonomen Gebiet Südossetien. Die Trennung Georgiens von Russland war jedoch gleichzeitig von heftigen Kämpfen mit Aufständischen der autonomen Regionen begleitet, in die auch Moskau Truppen entsandte, die es jedoch 1992 wieder abzog. Dass sich die Bevölkerungen von Abchasien und Südossetien stärker nach Russland als nach Georgien hingezogen fühlen und nach Unabhängigkeit bzw. Anschluss an Russland streben, war bekannt, fand jedoch in den Grenzziehungen dieser Jahre keinen Ausdruck.

Was für die einseitige Unabhängigkeitserklärung Kosovos gilt, gilt auch für die Unabhängigkeitserklärungen Südossetiens und Abchasiens: Sie sind unwirksam. Beide Regionen sind von keinem Staat anerkannt worden – bis zur jüngsten Anerkennung durch Russland. Aber auch für sie gilt das gleiche wie für die Anerkennung der Sezession Kosovos durch die meisten NATO-Staaten: Sie sind alle völkerrechtswidrig. Insbesondere Russland hat ohne Vorbehalt die Aufnahme Georgiens in die UNO in den gegenwärtigen Grenzen akzeptiert.

Das am 24. Juni 1992 in Sotschi von Schewardnadse und Jelzin ausgehandelte »Abkommen über die Prinzipien einer Lösung des Georgisch-Ossetischen Konfliktes« hat ebenso wenig wie der »Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gute Nachbarschaft« vom 3. Februar 1994 sowie der Vertrag über den Beitritt Georgiens zur GUS am 2. März 1994 die territoriale Zugehörigkeit Südossetiens zu Georgien in Frage gestellt. Auch die Vereinbarungen über die Stationierung verschiedener Friedenstruppen der UNO, der GUS und Russlands zur Eindämmung der blutigen Auseinandersetzungen in den autonomen Gebieten gehen von ihrer völkerrechtlichen Zugehörigkeit zu Georgien aus, obwohl viele Streitfragen um ihren Autonomiestatus ungelöst sind. Die in Sotschi vereinbarte Friedenstruppe von 1500 Soldaten setzt sich aus einem russischen, einem georgischen und einem nordossetischen Truppenkontingent zusammen. Südossetien hat mangels internationaler Anerkennung kein eigenes Kontingent, sondern beteiligt sich an dem aus Nordossetien.

Verstoß gegen das Kriegsvölkerrecht

Selbst wenn man davon ausgehen muss, dass die georgische Regierung kaum eine effektive Hoheitsgewalt in Südossetien ausüben kann, so besteht doch kein Zweifel daran, dass es nach wie vor integrales Territorium von Georgien ist. Dies gilt im Übrigen auch für Abchasien. Georgien wäre also grundsätzlich berechtigt, auch mit Gewalt die Integrität seines Territoriums gegen Abspaltungen zu verteidigen und seine Gebietshoheit wieder herzustellen.

Doch wie Georgien dies am 8. August mit seinem Überfall auf Zchinwali versucht hat, war ganz und gar unverhältnismäßig im Sinne des Kriegsvölkerrechts. Der Angriff artete mit den zahlreichen Toten unter der Zivilbevölkerung und den schweren Zerstörungen der Wohnviertel der Stadt zu schweren Kriegsverbrechen aus. Er war völkerrechtswidrig und verstieß zudem auch gegen das Waffenstillstandabkommen, welches beide Seiten am 13. August 1994 vereinbart hatten. Moskau spricht sogar von Völkermord, ein Vorwurf, den Tbilissi sofort umdrehte und gegen die militärische Intervention Russlands erhob. Moskau rechtfertigt sein Vorgehen mit dem Schutz der Zivilbevölkerung, wobei vor allem auf die zahlreichen eigenen Staatsbürger verwiesen wird.

Eine klassische »humanitäre Intervention« also, die sich jedoch nach all den Diskussionen um die Bombardierung Ex-Jugoslawiens im Frühjahr 1999 aus »humanitären« Gründen auf sehr dünnem völkerrechtlichen Eis bewegt. Was die ganz überwiegende Mehrzahl der Völkerrechtler der »humanitären Intervention« der NATO gegen Ex-Jugoslawien entgegengehalten hat, gilt in seiner grundsätzlichen Aussage auch heute noch: Auch schwerste Menschenrechtsverletzungen und Völkermord heben das absolute Gewalt- und Interventionsverbot nicht auf. Sie ermächtigen weder einzelne Staaten noch Staatenbündnisse zu der Entscheidung, wann und wo ein Völkermord geschieht, der ihr militärisches Eingreifen erfordert. Diese Entscheidung ist immer noch dem UNO-Sicherheitsrat vorbehalten. Das Verständnis, ja die Sympathie für das Vorgehen Russlands vermag das Völkerrecht nicht zu ersetzen.

Bleibt der Schutz der eigenen Staatsangehörigen – eine der am meisten genutzten Rechtfertigungen für humanitäre Interventionen. Sie hat allerdings nicht erst seit der Invasion Grenadas durch USA-Truppen 1983 zum Schutz ihrer Bürger ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt. Zu oft hat sie als Vorwand für weitergehende Eroberungsziele herhalten müssen. Auf keinen Fall kann der Schutz der eigenen Staatsangehörigen jedoch als Rechtfertigung für das weitere Vordringen der russischen Truppen über die Grenzen Südossetiens hinaus, die Besetzung Goris sowie die Bombardierung des Flughafens von Tbilissi und des Hafens von Poti gelten. Dieses sind unbestreitbare Verstöße gegen die UNO-Charta und das Kriegsvölkerrecht und auch nicht vom Selbstverteidigungsrecht gedeckt, auf das sich Moskau gar nicht erst berufen hat.

Um ein Fazit zu ziehen, müssen wir davon ausgehen, dass Georgien als erster unter Bruch des Waffenstillstandsabkommens von 1994 das Gewaltverbot verletzt hat. Sein offensichtlich massiver Angriff auf die Zivilbevölkerung, die zu großen Teilen auch die russische Staatsangehörigkeit hat, war mit dem Verhältnismäßigkeitsgebot des Kriegsvölkerrechts nicht mehr vereinbar. Nimmt man den Angriff auch auf die russischen Friedenstruppen hinzu, so wird man Russland Abwehrmaßnahmen zum Schutz seiner Staatsbürger nicht absprechen können. Aber auch hier überwiegen unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit die Zweifel, vor allem wenn man den Übergriff auf die georgischen Kerngebiete, also jenseits der Waffenstillstandslinien und Pufferzonen, betrachtet. Hier wird definitiv die Grenze des völkerrechtlich Zulässigen überschritten. Der rasche Rückzug der russischen Truppen hat zumindest den völkerrechtlichen Status wiederhergestellt und dem Gerede von einem Kolonialkrieg und imperialen Ambitionen Russlands den Boden entzogen.

Die Hakeleien um die Stationierung der 500 russischen Soldaten der Friedenstruppen in den Pufferzonen um Abchasien und Südossetien sollten zwischen den beiden Staaten schnell beigelegt werden können. Dazu müssten allerdings die USA und EU auf ihre aggressive Strategie verzichten, Georgien in nächster Zeit zu einem Vorposten der NATO an der Südgrenze Russlands auszubauen.

Was hätte Russland machen sollen, um die Grenzen des Völkerrechts zu wahren? Es hat am 7. August den UNO-Sicherheitsrat, aber schon früher auf den »privaten« Sitzungen des Sicherheitsrats vom 21. April, 30. Mai und 21. Juli dieses Jahres auf die sich anbahnende Intervention der georgischen Truppen aufmerksam gemacht, allerdings ohne Erfolg. Dennoch gilt gerade in solchen seit langem gewalttätig schwelenden Konflikten das zwingende Gebot der friedlichen Streitbeilegung gemäß. Art. 2 Z. 3 UNO-Charta – ein Gebot, welches sich übrigens an alle Parteien sowie hinter ihnen stehende Mächte richtet. Das Motto »illegal, aber legitim«, wie man es zur Rechtfertigung der Bombardierung Ex-Jugoslawiens hören konnte, darf nicht zum Standard der Außenpolitik werden.

Lösungsvorschläge der OSZE

Die OSZE, die seit Dezember 1992 eine Mission in Tbilissi unterhält, hat Lösungsvorschläge für die Befriedung des Konfliktes vorgelegt, die im Wesentlichen mit damaligen Vorschlägen Russlands übereinstimmen. Sie sehen eine weit gehende Autonomie für Südossetien im Rahmen eines föderativen Georgien vor, weitergehend als bisher faktisch und verfassungsrechtlich vorhanden. Doch derzeit sind weder Georgiens Staatschef Saakaschwili noch der südossetische Präsident Kokoity aus ganz unterschiedlichen Interessen zu einem solchen Kompromiss bereit. Und die Anerkennung Abchasiens und Südossetiens durch die russische Regierung verschärft nur die Spannungen in der Region, mit den USA und der EU. Den NATO-Staaten fällt nun ihre eigene Kosovo-Politik auf die Füße und ihre Empörung ist schlechtes Theater – sie waren seinerzeit genügend deutlich von Russland gewarnt worden.

Aber Medwedjews Schritt wiederum – mehr eine Retourkutsche als eine Wegmarke – eröffnet keine wirkliche Perspektive für eine politische Lösung. Es wäre daher die Aufgabe der EU, nicht ihrerseits die Eskalation zu betreiben, sondern gemeinsam mit der OSZE, Russland und Georgien den Weg des OSZE-Vorschlags weiter zu verfolgen und so ein Tauwetter dieser »gefrorenen Konflikte« einzuleiten, anstatt mit der Anbindung Georgiens an die NATO die Destabilisierung der gesamten Region zu bewirken. Ob der Weg dann zu einer Unabhängigkeit oder erweiterten Autonomie der beiden Gebiete führt, muss den Verhandlungen vorbehalten bleiben. Eine Alternative dazu gibt es aber nicht.

* Prof. Dr. Norman Paech, Hamburg, emeritierter Professor für Öffentliches Recht und Völkerrecht an der Hochschule für Politik und Wirtschaft Hamburg; seit 2005 Mitglied des Deutschen Bundestages (Fraktion DIE LINKE).

Dieser Beitrag erschien am 28. August 2008 im "Neuen Deutschland"



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