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"Der Staatsbankrott ist ein Drache aus der Märchenwelt"

Griechischer Linkspolitiker: Neoliberale Politik führte in die Krise

Im März hat Griechenlands Regierung unter Giorgos Papandreou dem Druck der EU nachgegeben und das Sparprogramm zur Haushaltssanierung nochmals verschärft. Die Arbeitslosenquote liegt inzwischen über elf Prozent, Lohnkürzungen und Reduzierungen von Sozialleistungen sind an der Tagesordnung. Alexis Tsipras, Vorsitzender der Partei SYNASPISMOS und Fraktionschef des Linksbündnisses SYRIZA im griechischen Parlament, hält dies für den falschen Weg. Mit ihm sprach für das Neue Deutschland (ND) Haris Triandafilidou.



ND: Der dominierenden Medienmeinung in Deutschland zufolge ist die Kombination aus Korruption und übermäßigen Sozialleistungen der Grund für die finanziellen Probleme Griechenlands.

Tsipras: Die Korruption wurde vom griechischen Ministerpräsidenten selbst zur Hauptursache der finanziellen Probleme des Landes erklärt. Ausdrücklich von übermäßigen Sozialausgaben zu sprechen, hat er bisher nicht gewagt, diese unangenehme Aufgabe überlässt er anderen. Es ist also logisch, dass diese beiden Punkte auch in den deutschen Medien reproduziert werden. Der Ministerpräsident erwähnt aber nicht, dass das korrupte Klientelsystem unseres Landes den Stempel der Partei trägt, der er vorsteht und dass er bisher keinerlei Maßnahmen zur Behebung dieser Problematik in den eigenen Reihen getroffen hat.

Der Mär vom teuren griechischen Sozialstaat und unbezahlbaren arbeitsrechtlichen Standards muss ein Ende bereitet werden: Aus allen Daten geht klar hervor, dass die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in Griechenland mehr Stunden zu geringeren Löhnen arbeiten als alle anderen in der Eurozone und dass das Renteneintrittsalter deutlich über dem europäischen Durchschnitt liegt.

Wo liegen aus linker Perspektive die Ursachen der Krise?

Im griechischen Wirtschaftsmodell und dem politischen System, dass die beiden großen Volksparteien nach 1974 gemeinsam geschaffen haben. In der Profitmache auf Kosten der Arbeitnehmer ebenso wie in der praktischen Immunität von Banken und Großkonzernen, in einem dem Mittelalter angemessenen Arbeitsrecht und in der Plünderung der Rentenkassen, nicht zuletzt in den irrational hohen Rüstungsausgaben.

Auf Drängen der EU hat die griechische Regierung ihr Sparprogramm nochmals erweitert. Eine »koloniale Herrschaft« Brüssels, wie Teile der Linken sagen?

Griechenland steht nicht unter der kolonialen Herrschaft Brüssels. Die Maßnahmen tragen die Handschrift des IWF und wurden in vielen Ländern der Welt umgesetzt. Man könnte eher von der Gefahr sprechen, unter das koloniale Joch der Ratingagenturen und Märkte zu fallen. Dies ist Resultat einer Politik, deren Interesse ausschließlich der finanziellen Dimension des europäischen Einigungsprozesses gilt. Einer Politik, die Solidarität und Demokratisierung ausklammert und den IWF als Aufsichtperson in die EU holt.

Die Zinssätze, zu denen Griechenland Kredite erhalten kann, sind auch nach der Verabschiedung des unsozialen Gesetzespakets und des europäischen »Rettungsaktes« von 25. März ungemein hoch. Die Spekulanten kreisen nach wie vor wie die Geier über uns. Ich brauche Sie nicht daran zu erinnern, dass genau diese spekulative Logik der Finanzmärkte die weltweite Krise ausgelöst hat. Es ist Aufgabe der europäischen Linken, dazu beizutragen, dass eine grundsätzliche Veränderung in Europa eingefordert wird, und zwar zu Gunsten der Völker Europas und der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen.

Ministerpräsident Papandreou erklärte bei der Verkündung des jüngsten »Reformpakets«, die darin enthaltenen Entscheidungen entsprächen zwar nicht der Ideologie seiner Partei, seien aber die einzige wirksame Lösung. Ihre Partei und das Linksbündnis SYRIZA haben dem Argument der Alternativlosigkeit wiederholt widersprochen. Welche sind ihre Vorschläge?

Die PASOK-Regierungen haben auch früher eine neoliberale Politik verfolgt, auch wenn Herr Papandreou uns das vergessen machen will. Der Unterschied zu den Maßnahmen der jetzigen Regierung besteht schlicht darin, dass wir es hier mit einer Kompromisslosigkeit à la Thatcher und einer Radikalität zu tun haben, über die all jene, die PASOK unterstützt haben, entrüstet sind. Auch die Rhetorik um den Bankrott des griechischen Staates ist Teil des Versuchs der Regierung, eine Rechtfertigung für die Verabschiedung der umfassendsten neoliberalen Maßnamen, die je in Griechenland beschlossen worden sind, zu finden. Der Staatsbankrott ist nichts als ein böser Drache aus der Märchenwelt. Adressaten sind die Arbeitnehmer, die von Protesten und Streiks abgehalten werden sollen.

Es gibt natürlich andere Mittel und Wege, aber diese stehen den Interessen des Establishments in Wirtschaft und Politik entgegen. Das benötigte Geld ist zu finden bei den Banken, verbirgt sich in den Steuergeschenken, welche die Regierung den großen Unternehmen macht, und es wird ausgegeben, um Fregatten und U-Boote aus Deutschland und Frankreich zu kaufen. Der von uns vorgelegte Ansatz zielt auf ein verändertes Modell der griechischen Wirtschaft, die Umverteilung des Reichtums und auf eine Politik, die dauerhaft für Vollbeschäftigung sorgt. Statt Löhne und Renten dem Erdboden gleich zu machen, kann das Finanzdefizit anders behoben werden. So fehlen der öffentlichen Hand aufgrund von Steuerhinterziehung knapp 20 Milliarden Euro, wegen Geringbesteuerung hoher Einkommen acht Milliarden. Die Profite der Banken beliefen sich allein im Jahr 2009 auf drei Milliarden Euro. Allein die Besteuerung der 300 profitstärksten Aktiengesellschaften auf dem Niveau der 90er Jahre würde zwei Milliarden Euro in die Staatskasse spülen.

Neben Griechenland haben auch Portugal und Spanien mit sehr hohen Finanzdefiziten und Staatsschulden zu kämpfen. Gibt es auf der Ebene der linken Parteien dieser Länder Strategien zur gemeinsamen Verteidigung arbeitsrechtlicher Standards?

Ich bin im Februar nach Portugal und Spanien gereist und habe dort Vertreter linker und kommunistischer Parteien getroffen. Kurz darauf haben wir hier in Athen eine Konferenz mit dem Titel »Die Krise und der europäische Süden« veranstaltet, an der neben Teilnehmern aus Portugal, Spanien, Italien und Frankreich auch der Vorsitzende der Europäischen Linkspartei, Lothar Bisky, teilgenommen hat. Der Erfahrungsaustausch und die Koordinierung der Linken in den Ländern des europäischen Südens sind sehr wichtig und hilfreich, können aber nur der erste Schritt sein. Uns ist sehr daran gelegen, dass die Probleme der griechischen Arbeitnehmer auch im Zentrum Europas Gehör finden und ihren Weg auch dort in das Bewusstsein der arbeitenden Bevölkerung gelangen. Als europäische Linke müssen wir gemeinsam aufzeigen, dass die Interessen der griechischen Arbeitnehmer auch die der deutschen, französischen, italienischen und aller anderen europäischen Menschen sind. In diesem Sinne möchte ich mich auch bei der Partei DIE LINKE für die Unterstützung und Solidarität bedanken, die sie den Protestierenden und Streikenden in Griechenland entgegenbringt.

* Neues Deutschland, 23. April 2010


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