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"Bestraft Griechenland!"

Analyse. Bei dem Gezeter um Hellas geht es vor allem um Machtfragen in der EU

Von Andreas Wehr *

Die Schlagzeilen können dramatischer kaum sein: »Griechische Misere« (Frankfurter Allgemeine Zeitung – FAZ vom 7.1.10), »Sprengstoff in der Währungs­union« (FAZ vom 29.1.10), »Abgebrannt am Mittelmeer« (Die Zeit vom 14.1.10) »Monster-Defizit« (Spiegel online vom 5.12.09), »Schuldenkrise spitzt sich zu« (FAZ vom 29.1.10). Die Rede ist von schwindelerregenden Defiziten, gefälschten Statistiken, horrenden Risikoaufschlägen und von Spekulationen über ein »Bail-out«, eines Heraushauens des klammen Schuldners durch die Europäische Zentralbank.

Was ist an all dem dran? Ist Griechenland, immerhin ein Mitglied der EU und der Euro­Zone, ein »failed state«, ein gescheiterter Staat? Natürlich nicht. Droht ihm ein Staatsbankrott? Auch das nicht. Die griechischen Staatsschulden sind zwar hoch, in Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt, BIP) liegen sie inzwischen bei 113 Prozent, doch noch stärker drücken die Schulden Italien mit 115 Prozent und Island, das in die EU und in die Euro-Zone drängt, mit 118 Prozent. Und in Belgien hatte der Schuldenstand 1993 schon einmal 140 Punkte erreicht, ohne daß der Bankrott erklärt werden mußte. Außerhalb Europas gibt es sogar weit höhere Verschuldungen. So beträgt das Defizit Japans 189,6 Prozent des BIP.

Daß von einem anstehenden griechischen Staatsbankrott nicht die Rede sein kann, zeigte die erst am 26. Januar 2010 erfolgreich begebene Staatsanleihe von acht Milliarden Euro. Da gab es unter den Interessenten keine Zurückhaltung, ganz im Gegenteil: »Die Investoren hatten mehr als das Dreifache nachgefragt« (FAZ vom 29.1.10). Deshalb sieht man auch für eine geplante weitere Anleihe in Höhe von fünf Milliarden keine Schwierigkeiten. Anders ist da schon die Situation in Lettland. Dort mußten kürzlich Pläne für eine Staatsanleihe aufgeschoben werden. Doch Lettland liegt außerhalb der Euro-Zone, Griechenland in ihr. Gefährdet das Land nicht deshalb die gemeinsame Währung Euro? Sollte Griechenland nicht besser die Euro-Zone verlassen? Doch um den Euro herunterziehen zu können, fehlt dem Land schlicht das Gewicht. In absoluten Zahlen wird das deutlich. Das griechische Defizit von 406 Milliarden Dollar wird von dem Spaniens mit 695 und vor allem dem Italiens mit 2062 deutlich übertroffen. Und selbst wenn die Gesamtverschuldung der Euro-Zone durch wachsende Defizite Griechenlands minimal steigt, so bleibt ihre Verschuldungsdynamik insgesamt moderat. Für 2009 beträgt die Neuverschuldung rund sechs Prozent. Das ist zwar doppelt so hoch wie die vertraglich verlangten drei Prozent, aber 2009 war schließlich auch das bisher schlimmste Jahr der Krise, es wurden gigantische Bankenrettungspakete geschnürt und kostspielige Konjunkturprogramme auf den Weg gebracht. Zugleich stagnierten oder sanken die Steuereinnahmen. Mit einer Gesamtneuverschuldung von sechs Prozent steht die Euro-Zone weltweit sogar noch gut da. Das Defizit der USA beläuft sich für 2010 hingegen auf zehn Prozent, und auch in Ländern wie Japan oder Großbritannien liegt es über der Euro-Zone. Für Panik gibt es also in Brüssel überhaupt keinen Anlaß!

Politisches Kalkül

Weshalb also das ganze Gezeter um Hellas? Dahinter steckt politisches Kalkül. Es geht um die Durchsetzung des Stabilitäts- und Wachstums­paktes mit all seinen Auflagen und Sanktionen, koste es, was es wolle. Vor allem jene, die diesen Pakt einst ersonnen hatten, also die deutschen Politiker und Banker, wollen ihn unbedingt erhalten. Es geht um Machtfragen in der EU. Das auch in der Krise währungspolitisch weitgehend stabile Kerneuropa, gruppiert um Deutschland, will die geschwächte europäische Peripherie, will Irland, Portugal, Spanien, Italien und eben Griechenland auf seinem Kurs halten. Deshalb wird Griechenland systematisch runtergeschrieben: »Das Menetekel Staatsbankrott erscheint inzwischen an der Anzeigetafel.«[1]

Griechenland eignet sich wie kein zweites Land für eine solche Strafaktion. Von Beginn an galt als es unerzogenes, ja als illegitimes Kind der Euro-Zone. Und eigentlich dürfte es ihr gar nicht angehören, hatte es doch schon bei seinem Beitritt 2001 ganz offensichtlich die Statistiken geschönt. Manipuliert hatte aber auch Italien. Nur mit diesem Gründungsland der Union traut man sich nicht so rücksichtslos umzuspringen. Ganz anders wird Griechenland angefaßt. Otmar Issing, der ehemalige Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank: »Aber kaum ein anderes Land hat auf der einen Seite über Jahre hinweg so große Vorteile aus der Währungs­union gezogen und auf der anderen Seite so sehr gegen die gemeinsamen Regeln verstoßen wie Griechenland.«[2] Da paßte es ins Bild, daß nach dem Regierungswechsel von Konservativen zu Sozialdemokraten in Athen im Oktober 2009 plötzlich ganz neue Zahlen über den wirklichen Schuldenstand des Landes bekannt wurden. Die abgewählten Konservativen hatten die Defizite heruntergerechnet, um noch einmal die Wahlen gewinnen zu können. Die neu ins Amt gekommene Regierung korrigierte am 21. Oktober 2009 die Angaben. Das Defizit für 2008 beträgt nun 7,7 und nicht 5,0 Prozent des BIP. Noch ärger fiel die Anhebung für 2009 aus: Es sind 12,5 statt 3,7 Prozent. Die Europäische Kommission schickte umgehend eine Kommission nach Athen, die die Arbeit der dortigen Statistikämter untersuchte. Der von ihr vorgelegte Bericht fiel verheerend aus.[3]

Tribunal der Heuchler

Die Empörung in den übrigen EU-Ländern ist seitdem grenzenlos. »Griechischer Schlendrian« und »Mißwirtschaft« sind noch die harmloseren Titulierungen. Lauthals werden Vettern- und ­Klientelwirtschaft, Steuerhinterziehung, Korruption und Verschwendung am Peloponnes angeprangert. Nun gibt es am Verhalten der herrschenden politischen Klasse Griechenlands nichts zu beschönigen. Es ist die Linke, die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) und das linkssozialistische Parteienbündnis SYRIZA, die diese Zustände seit Jahren anprangert. So zahlen Begüterte kaum Steuern und wird die Quote hinterzogener Mehrwertsteuern auf 30 Prozent geschätzt. In der übrigen EU beträgt sie dagegen nur (!) zwölf Prozent. Die gesamte Steuerhinterziehung wird für Griechenland mit 30 Milliarden Euro jährlich angegeben. Doch all das hat bisher kaum jemanden in Brüssel oder Berlin aufgeregt, so wenig wie etwa die Behandlung der Asylbewerber, die extrem niedrigen Löhne und so wenig wie das marode Bildungssystem, das die Studenten in den Aufruhr treibt.

Der griechische Kapitalismus ist so verfault und parasitär, wie er es in anderen Ländern auch ist. Man denke an die Manipulation der Justiz in Italien, um die dunklen Geschäfte Berlusconis, des reichsten Mannes des Landes, nicht ans Licht kommen zu lassen. Man denke an die Spesenskandale von Politikern aller Parteien in Großbritannien oder an den französischen Präsidenten Sarkozy, der sich mit den Mächtigen und Einflußreichen umgibt. Und auch die Zustände in Deutschland gleichen mehr und mehr griechischen. Vettern- und Klientelwirtschaft, Steuerhinterziehung und Korruption breiten sich auch hier immer weiter aus. 485 Milliarden Euro Schwarzgeld haben deutsche Reiche im Ausland versteckt, und kaum jemand interessiert sich dafür. Auch hier verrottet die Infrastruktur. Doch nein, auf der Anklagebank des von der Versammlung der Heuchler errichteten Tribunals hat nur der »statistische Serienlügner« (FTD vom 9.11.09) Griechenland Platz zu nehmen.

In der Euro-Falle

Dabei hätten deutsche Politik und deutsches Kapital genug Anlaß, über ihre eigene Verantwortung nachzudenken. Heiner Flassbeck wies darauf hin, daß die griechische Krise auch etwas mit den Erfolgen des Exportweltmeisters Deutschland zu tun hat (FTD vom 16.12.09). Gewappnet mit Billigstlöhnen, begünstigt durch Sozialabbau und versorgt mit großzügigen Subventionen, konkurrieren deutsche Großunternehmen gnadenlos ihre europäischen Konkurrenten nieder. Der freie EU-Binnenmarkt öffnet ihnen dafür Tor und Tür. Und was des einen Überschuß ist, ist nun einmal des anderen Verlust. Griechenland, Spanien, und Portugal verlieren beständig an Wettbewerbsfähigkeit. Ihre Leistungsbilanzen stehen tief im Minus. Würden sie noch über eigene Währungen verfügen, hätten sie längst abgewertet, um Exporte billiger und Importe teurer zu machen, so wie es Tschechien und Polen kürzlich taten. Doch als Mitglieder der Euro-Zone können sie das nicht mehr, sie stecken in der Falle. Neoliberale raten statt dessen zu einer »inneren Abwertung«, was bedeutet: Löhne und Preise runter.

Die Europäische Kommission verfolgt gegenüber Griechenland zwei Ziele: Erstens: Das Defizit soll vor allem durch Sozialabbau und Lohnkürzung gedrückt werden. Hier wird auf Irland als Vorbild verwiesen. Das irische Budget ist für 2010 um vier Milliarden Euro gekürzt worden. 2011 wird es noch einmal um diese Summe gedrückt. Die öffentlich Beschäftigten erhalten bereits 15 Prozent weniger Gehalt. Sozialleistungen wurden generell um vier, Leistungen für Kinder um zehn Prozent abgesenkt. Die sozialdemokratische Regierung in Athen hat sich bereits auf diesen Kurs begeben. Die Gehälter im öffentlichen Dienst oberhalb von 2000 Euro wurden eingefroren und Beihilfen generell um zehn Prozent gekürzt. Doch der entscheidende Schnitt steht noch aus: Das Renteneintrittsalter soll deutlich angehoben und die Renten gekürzt werden. Doch das wird nicht so einfach sein. Hier stößt die Regierung auf den Widerstand kampf­erprobter, kommunistisch geführter Gewerkschaften. Und anders als etwa ihre deutschen Kollegen konnten die schon mehr als einmal eine solche »Reform« erfolgreich abwehren. Der internationale, massive öffentliche Druck auf die neue griechische Regierung zielt denn auch darauf, den Sozialdemokraten bei diesem Sozialabbau den Rücken zu stärken.

Zweitens: Am Beispiel Griechenlands demonstriert die EU, wie man Staaten zu behandeln gedenkt, die sich nicht an die Vorgaben aus Brüssel halten. Die Regierung in Athen wird nicht nur, wie 19 weitere EU-Staaten auch, nach den Bestimmungen des Stabilitätspaktes mit einem Defizitverfahren überzogen. Nein, für Griechenland hat sich Kommissar Joaquín Almunia etwas Besonderes ausgedacht: »Die Regierung in Athen habe die im Frühjahr gemachten Vorgaben klar mißachtet, sagt Almunia. Das griechische Defizit soll daher verschärft werden. Griechenland wird 'in Verzug gesetzt'. Das ist theoretisch der letzte Schritt, bevor Sanktionen wie Geldbußen verhängt werden.« (FAZ-Net vom 10.11.2009) Und die FAZ zitiert den Kommissar sinngemäß: »Deshalb werde die Kommission eine engmaschige Haushaltsüberwachung in Gang setzen, wie es sie in dieser Strenge ›noch nie‹ gegeben habe.« (FAZ vom 2.2.2010) Am Mittwoch hat die Brüsseler Kommission konkrete Schritte angekündigt und will den griechischen Haushalt bis auf weiteres unter direkte EU-Kontrolle stellen.

Brüssels mächtige Verbündete

Das »in Verzug setzen« Griechenlands bedeutet, daß ein Land mit einem hohen Defizit schneller zur Dreiprozentmarke zurückkehren muß als eines mit einem moderaten Defizit. Während sich etwa Frankreich bis 2014 Zeit lassen will, um sein Defizit von gegenwärtig sieben auf drei Prozent zu drücken, wird von der Athener Regierung verlangt, dies in großen Schritten innerhalb kürzester Zeit zu tun. Von heute 12,7 Prozent hat man in nur drei Jahren, bis 2012, auf jene magischen drei Prozent zu kommen. Dieser Fahrplan wurde von Brüssel vorgegeben: »Die Ankündigung eines verschärften Sparkurses kam offenbar auf Druck der Europäischen Kommission zustande, die die von Athen schon vorher als ›Schock-Sparplan‹ titulierten Ambitionen inoffiziell als zu wenig ehrgeizig eingestuft hatte. (...) Das Ziel einer Reduktion des Defizits um vier Prozentpunkte des BIP übersteigt deutlich die Vorgaben, die die Brüsseler Kommission allen anderen EU-Staaten in laufenden Defizitverfahren gemacht hat. Die schärfste Sparvorgabe hat derzeit Irland mit jährlich zwei Prozentpunkten des BIP.« (FAZ vom 6.1.2010) Eine Kürzung um vier Prozent bereits im Jahr 2010, also während die griechische Wirtschaft in der Krise noch immer leicht schrumpft, ist aber das sicherste Mittel, um das Land endgültig auf Talfahrt zu schicken. Doch das interessiert ganz offensichtlich niemanden in Brüssel.

Nun weiß die Europäische Kommission sehr gut, daß sie ihren lauten Sanktionsdrohungen nur schwer Taten, sprich Strafen, folgen lassen kann. Defizitverfahren hat es schon viele in der EU gegeben, finanzielle Sanktionen wurden aber noch keine ausgesprochen. Andere Strafen, wie etwa die Kürzung der Regional- und Strukturhilfen, wie einige empfehlen, lassen sich noch viel weniger durchsetzen.[4] Und doch ist die Kommission damit noch lange nicht am Ende ihres Lateins angelangt. Bei der Disziplinierung des Landes setzt sie auf mächtige Verbündete: Dies sind die Finanzmärkte. Die spekulieren schon seit Monaten gegen Griechenland. Ihre Spekulation nährt sich von Vermutungen und Gerüchten über einen Staatsbankrott oder gar über ein Auseinanderbrechen der Euro-Zone. Vor allem die Medien aus den USA und Großbritannien tun sich dabei hervor. »Die Finanzmärkte sind empfänglich für allerlei Gerüchte über angeblich bevorstehende Hilfsaktionen für die Griechen, auch die Diskussion über einen möglichen Ausschluß Griechenlands aus der Währungsunion läßt sich nicht abstellen.« (FAZ vom 29.1.2010) Und wo es einmal an Gerüchten mangelt, da produzieren die »Märkte« flugs selbst welche. Etwa als die vom Economist, eines der Sprachrohre der »Märkte«, herausgegebene Zeitschrift European Voice meldete, daß es um Griechenland bereits so schlecht stehe, daß das Land um sofortige Hilfe bei den Regierungen in Paris und Berlin nachsuche. Kaum war dieses Gerücht ausgeräumt, tauchte die Meldung auf, Athen sei in seiner Not nun sogar in Peking vorstellig geworden. China dementierte sofort mit der süffisanten Bemerkung: »Ein Ökonom kann keine Diversifizierung von einer unsicheren Vermögensklasse (gemeint waren die USA, A.W.) auf eine noch viel weniger sichere Vermögensklasse befürworten.« (FTD vom 29.1.2010)

Abgepreßtes Extrakapital

Man sieht, wem das Gerede vom bevorstehenden griechischen Staatsbankrott tatsächlich dient. Es schafft Verunsicherung und schürt Ängste. Anlagesuchendes Kapital wird damit vertrieben, denn Kapital ist ja bekanntlich scheu wie ein Reh. Um es zurückzulocken, bedarf es mehr Futter, was heißt mehr Zinsen, was heißt ein höherer Risikoaufschlag. Und so konnte der griechische Staat Ende Januar 2010 seine Staatsanleihe wohl ohne Probleme unterbringen, doch nur, weil er deutlich mehr zahlt als etwa der Bund für seine Anleihen. »Der Risikoaufschlag für griechische Staatsanleihen erreichte im Vergleich zu Bundesanleihen den höchsten Wert seit Einführung des Euro. Die Rendite zehnjähriger Anleihen stieg auf sieben Prozent.« (ebd.) Die Investoren nahmen dieses erspekulierte Geschenk gern in Empfang. Für das betroffene Land bedeutete es hingegen, gut 250 Millionen Dollar zusätzlich drauflegen zu müssen, die für Schulen, Krankenhäuser und Straßen fehlen. Vorbereitet wurde diese Abpressung von Extrakapital durch die Herabstufung der Bonität des Landes durch die drei führenden US-Ratingagenturen. Wie von Geisterhand geführt, kamen diese Knechte der »Märkte« zur selben Zeit zur Erkenntnis, daß Griechenland die bisherige gute Bonitätsnote nicht länger verdiene.

So sind die Finanzmärkte Brüssel behilflich, Griechenland in das Joch des Stabilitätspaktes zu zwingen. Es ist daher keineswegs abwegig, wenn es heißt: »Finanzmärkte retten EU-Stabilitätspakt« (FTD vom 6.10.2009). In einer anderen Ausgabe dieser Zeitung konnte man lesen: »Bleibt die Hoffnung auf den Markt. Wenn die Risikoaufschläge für griechische Staatsanleihen steigen, wird das Schuldenmachen teurer und damit unattraktiver. Die anderen Euro-Staaten sollten diese Entwicklung zulassen und sie nicht durch unnötige Hilfszusagen konterkarieren.«[5]

Offenbarungseid für die EU

Nun ließe sich die Macht der Finanzmärkte mit Leichtigkeit brechen und die hohen Risikoaufschläge umgehend auf das Niveau der Bundesanleihen senken, stellten sich nur die übrigen Staaten der Euro-Zone hinter ihr angeschlagenes Mitglied. Dafür bräuchten sie lediglich klarzustellen, daß sie am Ende für die Schulden eines ihrer Mitglieder aufkommen. Dies wäre an sich eine Selbstverständlichkeit, ist man doch mit der gemeinsamen Währung Euro eine Schicksalsgemeinschaft eingegangen. Doch so ist die Wirtschafts- und Währungsunion genau nicht konstruiert. Zwar gibt es eine gemeinsame Währung, aber die Finanz- und Wirtschaftspolitik liegt weiter in der jeweiligen nationalen Zuständigkeit. Und damit die Finanzmärkte den spekulativen Druck auf ein einzelnes Mitgliedsland immer weiter erhöhen können, hat man in die europäischen Verträge ausdrücklich einen Haftungsausschluß hineingeschrieben.[6] Über den Sinn dieser Klausel heißt es in dem führenden Kommentar für EU-Recht: »Die Stellung der Mitgliedsstaaten auf den Finanzmärkten soll nicht durch Haftungs- oder Schuldübernahmen der Gemeinschaft verbessert werden. Die Kreditwürdigkeit soll vielmehr durch Haushaltsdisziplin bestimmt sein. (...) Die Verminderung der Kreditwürdigkeit soll vielmehr ›Anreiz‹ dafür bilden, eine exzessive Ausgabenpolitik zu vermeiden. Oder anders ausgedrückt: Der Ausschluß dieser Begünstigung auf den Finanzmärkten soll den Druck in Richtung disziplinierter Haushaltsführung steigern.«[7] Diese No-Bail-Klausel des Vertrags ist zentral für die Funktionsweise der Wirtschafts- und Währungsunion. Sie garantiert, daß die Euroländer keine solidarische Haftungsgemeinschaft oder gar eine Transferunion für in Not geratene Mitgliedsstaaten bilden können.

Geht es nach Issing, sollen Hilfen bestenfalls von außen kommen dürfen. Und solche Hilfen hätten für ihn dann einen Sinn, »wenn sie unter strikten sanktionsbewehrten Auflagen gewährt würden. Für diese Aufgabe kommt im Grunde nur der Internationale Währungsfonds (IWF) in Frage«. Dies wäre aber der Offenbarungseid der Europäischen Union: Für die Sanierung eines EU- und Euro-Zonenmitglieds wird nach dem von Washington gesteuerten Währungsfonds gerufen! Doch das ist, nach Issing, immer noch besser, als daß darüber in Brüssel entschieden wird, denn »das Argument, hier sei die ›europäische Solidarität‹ gefordert, enthält politischen Sprengstoff.«[8]

Der Konflikt um Griechenland ist ein gnadenloser Kampf imperialistischer Staaten um Märkte und Einflußzonen in der EU. Starke Länder wollen dabei schwache brechen. Ob ihnen das gelingt, wird von der Entwicklung der Klassenkämpfe in den bedrängten Ländern abhängen.

Fußnoten
  1. Otmar Issing, Die Europäische Währungsunion am Scheideweg, in: FAZ vom 29.1.2010. Issing leitet heute das Center for Financial Studies in Frankfurt. Einer der Hauptträger dieses Centers ist die Deutsche Bank
  2. Otmar Issing, a.a.O.
  3. Vgl. European Commission – January 2010, Report on Greek Government Deficit and Debt Statistics, Brussels, 8.1.2010 (COM (2010) 1 final)
  4. »Um Griechenlands Schmarotzertum zu unterbinden und den Rettungsfall erst gar nicht eintreten zu lassen, sind Sanktionen nötig. So wäre es theoretisch möglich, dem Land für eine gewisse Zeit Gelder aus dem EU-Strukturfonds zu verweigern.« In: Bestraft Griechenland! Financial Times Deutschland vom 2.12.2009
  5. Bestraft Griechenland! a. a. O.
  6. Vgl. Artikel 125 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (VAEU)
  7. Jürgen Schwarze, EU – Kommentar S. 1192
  8. Otmar Issing, a.a.O.
* Andreas Wehr ist Mitarbeiter der Linksfraktion (GUE/NGL) im Europäischen Parlament und dort Koordinator im Ausschuß für Wirtschaft und Währung (ECON).
Mehr Analysen unter www.andreas-wehr.eu

Aus: junge Welt, 5. Februar 2010



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