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Europas "Schutztruppe"

Während die humanitäre Soforthilfe für Haiti gering bleibt, setzen die früheren Kolonialmächte 300 Polizeisoldaten in Marsch

Von Sevim Dagdelen *

Haitis Regierung geht mittlerweile davon aus, daß infolge des Erdbebens vom 12. Januar mehr als 200000 Menschen ums Leben gekommen sind. Weitere 300000 Menschen wurden verletzt, etwa 4000 von ihnen mußten Körperteile amputiert werden, weil die medizinische Hilfe zu spät kam. Schätzungen zufolge haben selbst drei Wochen nach dem Erbeben etwa zwei Drittel der Bevölkerung noch keinerlei Hilfe durch die internationale Gemeinschaft erhalten.

Ein Grund dafür, daß die internationalen Hilfslieferungen nur stockend in Haiti ankommen, ist die massive Stationierung von US-Truppen in dem Karibikstaat, die unter anderem den Flughafen von Port-au-Prince und die wichtigen Seehäfen blockieren. Während dies von Hilfsorganisationen, Regierungen der Nachbarstaaten und der haitianischen Bevölkerung kritisiert wird, halten sich die Vertreter der EU mit Kommentaren zurück. Von ihnen wird Haiti längst als Protektorat betrachtet, in dem sich die internationalen Großmächte ausprobieren und aufeinander abstimmen können.

Für das Europa-Referat des Bundestages ist das Erdbeben in Haiti primär ein »Testfall für die neuen Zuständigkeiten in der EU«. Nach dem Lissabon-Vertrag ist die Hilfe bei Naturkatastrophen Aufgabe der militärisch geprägten Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), während für humanitäre Hilfe momentan noch Entwicklungskommissar Karel de Gucht zuständig ist. Zukünftig wird dies die Aufgabe der neuen Kommissarin für humanitäre Hilfe sein. Die bulgarische Kandidatin für dieses Amt, die ehemalige Weltbank-Vizepräsidentin Kristalina Georgiewa, forderte vor dem Europäischen Parlament bereits neben einer besseren Koordination innerhalb der EU eine effektivere Zusammenarbeit zwischen humanitären und militärischen Akteuren.

Während in Haiti Millionen Menschen unter den Folgen des Erbebens leiden, wird also auf den Brüsseler Fluren um Macht und Einfluß gefeilscht. Eine außerordentliche Sitzung des Rates zu Haiti wurde von Kompetenzstreitigkeiten überschattet, ihre Ergebnisse waren in humanitärer Hinsicht mager. Die Kommission stellte 30 Millionen Euro als Soforthilfe bereit, alle Mitgliedsstaaten zusammen gerade einmal weitere 92 Millionen. Dazu wurden langfristig weitere 300 Millionen Euro in Aussicht gestellt, die aber zum größten Teil ohnehin für Haiti vorgesehen waren und dort vor allem für den Aufbau der Sicherheitskräfte bestimmt sind.

Da kam eine Initiative der Regierungen Frankreichs und Italiens gerade recht. Zusammen mit drei weiteren ehemaligen europäischen Kolonialmächten, den Niederlanden, Portugal und Spanien, hatten diese am Rande eines informellen Treffens der EU-Verteidigungsminister im September 2004 beschlossen, eine European Gendarmerie Force (EGF) aufzustellen. Bereits seit Januar 2006 ist diese einsatzfähig und besteht aus den meist schon aus der Kolonialzeit bekannten Polizeisoldaten der Mitgliedsstaaten, die in Bataillons- und Kompaniestärke gemeinsam trainieren, über ein permanentes und mehrere mobile Hauptquartiere verfügen und binnen 30 Tagen einsatzfähig sein können. Obwohl die EGF bereits seit November 2007 im Rahmen der EU-Militärmission Althea in Bosnien und Herzegowina im Einsatz ist und künftig eine wesentliche Rolle bei der Militärausbildung in Afghanistan spielen soll, handelt es sich bei ihr um ein sehr informelles Konstrukt: Der Vertrag über die Einrichtung der EGF wurde von den beteiligten Regierungen erst im Oktober 2007 unterzeichnet und ist bis heute nicht ratifiziert. Die EGF verfügt über keine Rechtspersönlichkeit und keinerlei institutionelle Anbindung an die EU. Formal handelt es sich nur um das Projekt einiger Mitgliedsstaaten. Während die 300 europäischen Gendarmen bereits auf dem Weg nach Haiti sind, ist noch nicht einmal geklärt, ob die nationalen Parlamente dem Einsatz zustimmen müssen. Zugleich verstecken die ehemaligen Kolonialmächte Frankreich und Spanien das erneute Engagement ihrer Polizeisoldaten auf der Insel Hispaniola unter dem europäischen Sternenbanner, und die neue Hohe Vertreterin für die GASP und Vizepräsidentin der Kommission, Catherine Ashton, freut sich, von einer »extrem wichtigen Rolle der EU« beim Krisenmanagement reden zu können. Was aber die euro­päischen Gendarmen der haitianischen Bevölkerung zu bieten haben, ist klar: Schlagstöcke und Tränengas.

* Sevim Dagdelen ist Sprecherin für Internationale Beziehungen der Bundestagsfraktion Die Linke

Aus: junge Welt, 6. Februar 2010



Kindesentführung

Haiti klagt US-Missionare an

Gegen die zehn in Haiti inhaftierten baptistischen Missionare aus den USA ist Anklage wegen Kindesentführung erhoben worden. Die fünf Männer und fünf Frauen seien wegen der Entführung Minderjähriger und der Bildung einer kriminellen Gruppe angeklagt worden, teilte ihr Anwalt Edwin Coq am Donnerstag (4. Feb.) in der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince mit. Die Gruppe war vor einer Woche an der Grenze zur Dominikanischen Republik festgenommen worden, als sie 33 haitianische Kinder im Alter zwischen zwei Monaten und 14 Jahren ohne Genehmigung außer Landes bringen wollte. Sie gehören der religiös-fundamentalistischen US-Organisation »New Life Children’s Refuge« an, die in einer Erklärung die »guten Absichten« ihrer Mitglieder betont hatte. Die Kinder seien nach dem Erdbeben Waisen geworden oder auf sich gestellt. Inzwischen stellte sich jedoch heraus, daß viele der Kinder noch Eltern oder Angehörige haben.

Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, UNICEF, sieht sich in Haiti seiner bislang größten Herausforderung in Sachen Kinderschutz gegenüber. Grund seien die vielen Mädchen und Jungen, die durch das Erdbeben zu Waisen wurden oder den Kontakt zu ihren Eltern verloren hätten, sagte die Vizegeneraldirektorin Hilde Johnson in Genf. »Das Risiko von Kinderhandel, dem Verkauf von Kindern als Sklaven oder illegaler Adoption ist erheblich«, warnte sie. Fast 40 Prozent aller Haitianer seien unter 14 Jahre alt, und schon vor dem Erdbeben hätten 300000 Kinder in Waisenhäusern gelebt, von denen 50000 keine Eltern mehr gehabt hätten. Durch das Beben sei die Zahl der unbeaufsichtigten oder von ihren Eltern getrennten Kinder erheblich gestiegen, sagte Johnson, ohne genaue Zahlen nennen zu können.

Die haitianische Regierung hat alle Adoptionen gestoppt, die nicht schon vor dem Beben am 12. Januar eingeleitet waren. Zu groß ist die Befürchtung, daß verwaiste oder von ihren Familien getrennte Kinder jetzt mehr denn je in Gefahr sind, verschleppt und verkauft zu werden.

** Aus: junge Welt, 6. Februar 2010


Dokumentiert:

Attacken auf Haiti

Seit Generationen schüren die USA das Chaos in dem Karibikstaat und stützten seine Diktatoren

Von Mumia Abu-Jamal ***


Drei Wochen nach dem furchtbaren Erdbeben in Haiti und den erschreckenden Nachbeben, von denen vor allem die Hauptstadt Port-au-Prince und der Ort Zacmel betroffen waren, gehen die US-amerikanischen Medien wieder dazu über, Stein für Stein eine undurchdringliche Nachrichtenmauer um das Land hochzuziehen. Durchbrochen wird diese Medienwand nur, wenn es gilt, eine sensationelle Meldung zu bringen, der auf dem Nachrichtenmarkt ein besonderer Wert zugemessen wird. Es gehört zur Natur der kommerziellen Medien, daß sie von Ereignis zu Ereignis weiterziehen und ihre grellen Scheinwerfer auf neue Sensationen richten müssen – das Allerneueste, das Superaußergewöhnliche, das Ausgeflippte. Vielleicht das neueste Al-Qaida-Video, der verruchteste Sex-Skandal, der letzte Gefühls­ausbruch der Gespielin eines prominenten Politikers – was es auch sei, der Propagandazug der Meinungsmacher muß weiterrollen!

Die Bevölkerung Haitis war schon lange vor dem Erdbeben am 12. Januar 2010 Attacken ohnegleichen ausgesetzt, weil sie gewagt hatte, vor zweihundert Jahren für ihre Freiheit zu kämpfen und zu siegen – die Freiheit der schwarzen Sklaven. Heute wundern sich viele Menschen, daß Erdbebenopfer manchmal noch lebend gefunden wurden, obwohl sie bereits zehn, elf oder zwölf Tage ohne Essen und Wasser unter Tonnen von Trümmern eingeschlossen waren. Dabei wird vergessen, daß die Armut und mangelnde Versorgung mit Nahrung für die Haitianer immer schon bedeutete, daß sie in der Regel nur alle zwei oder drei Tage eine richtige Mahlzeit bekamen.

Während der stundenlangen Live-Berichte im Fernsehen, mit denen uns in den ersten Tagen nach der Katastrophe die überlebenden Erdbebenopfer vorgeführt wurden, sah man keine molligen oder dicken Menschen. Niemand, der vergleichbar gewesen wäre mit den von Fotoaufnahmen hinlänglich bekannten übergewichtigen US-Amerikanern. Die Menschen auf Haiti sind auch ohne Diätprogramme von »Jenny Craig« oder »Slim-Fast« gezwungenermaßen schlanke Menschen und müssen sich nicht den Spruch auf die Stirn kleben »Fang’ heute an, dein Leben zu ändern!«. Diese Entscheidung wird ihnen schon lange abgenommen, weil die Löhne in Haiti äußerst niedrig sind, Arbeit sowieso schwer zu bekommen und der Kampf ums Überleben hart ist.

Auch ohne Erdbeben haben die Haitianer jahrzehntelang in einem politischen, wirtschaftlichen und sozialen Chaos gelebt, das zumeist von den USA geschürt und aufrechterhalten wurde. Seit Generationen haben die USA Haitis Diktatoren gestützt, die das Land ausgeplündert und sich mit Repression und Folter an der Macht gehalten haben. Der haitianische Historiker und Anthropologe Ralph Troullot sagte über die Invasion durch die USA im Jahr 1915 und die bis 1934 dauernde militärische Besetzung des Inselstaats, die US-Amerikaner hätten in dieser Zeit »nichts gelöst, aber alles verkompliziert«.

Die Haitianer sind ein starkes, kluges und bewundernswertes Volk. Sie haben vor 200 Jahren etwas vollbracht, das Millionen von Schwarzen rund um den Globus die Augen und Herzen geöffnet hat. Deshalb ist es nicht gerecht, daß sie für etwas bestraft werden, an dem der berühmte Sklavenführer Spartacus und seine Getreuen während des Römischen Reiches gescheitert sind. Die afrikanischen Sklaven Haitis haben das französische Imperium besiegt und Napoleon Bonaparte, einen der größten Feldherrn der Geschichte, zur Kapitulation gezwungen.

Die Menschen Haitis haben weitaus mehr Solidarität verdient, als ihnen zuteil wird. Ihre Vorfahren haben einst den Duft der Freiheit geatmet und mit Millionen anderen Unterdrückten geteilt – nicht nur mit Schwarzen, sondern auch mit Lateinamerikanern, die unter der Kolonialherrschaft der spanischen Krone geschunden wurden. Die Haitianer verdienen, was ihnen seit zweihundert Jahren vorenthalten wird: ein gutes Leben, Gesundheit, Selbstbestimmung, Wohlstand, Gerechtigkeit und Frieden.

Übersetzung: Jürgen Heiser

*** Aus: junge Welt, 6. Februar 2010




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