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Koalition zerbricht an Afghanistan

Sozialdemokraten der Niederlande verlassen Regierung / Antikriegs-Demonstration in Berlin

Während die Regierung der Niederlande am Wochenende am Streit über den Truppeneinsatz in Afghanistan zerbrach, demonstrierten in Berlin rund 2000 Kriegsgegner aus dem ganzen Bundesgebiet gegen die Teilnahme der Bundeswehr und anderer Armeen am Krieg in Afghanistan.

Aus Protest gegen die Afghanistan-Pläne des niederländischen Ministerpräsidenten Jan Peter Balkenende kündigte die sozialdemokratische Partei der Arbeit (PvdA) in der Nacht zum Sonnabend die aus drei Parteien bestehenden Mitte-Links-Koalition auf. Balkenende reichte daraufhin bei Königin Beatrix den Rücktritt seiner Regierung ein.

PvdA-Chef und Finanzminister Wouter Bos erklärte, seine Partei verlöre ihre Glaubwürdigkeit, wenn sie weiter in der Regierung bliebe. Die Sozialdemokraten bestehen darauf, die derzeit 1950 niederländischen Soldaten wie geplant noch in diesem Jahr aus der südafghanischen Unruheprovinz Urusgan abzuziehen. Für deren Verbleib gebe es »keine guten Gründe«. Balkenende dagegen ist bereit, das Mandat der Truppe auf Drängen von NATO und USA vorerst bis August 2011 zu verlängern.

Christine Buchholz, friedenspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE im Bundestag, begrüßte die Entscheidung der niederländischen Sozialdemokraten. Sie forderte SPD und Grüne auf, »sich davon eine Scheibe abzuschneiden« und gemeinsam mit ihrer Fraktion am kommenden Freitag im Bundestag gegen ein neues Afghanistan-Mandat für die Bundeswehr zu stimmen. Die Regierung plant eine Aufstockung der deutschen Truppe von 4500 auf 5350 Soldaten. Es sei ihr »zu windig, wie hier einfach 850 Soldaten mehr gefordert werden«, sagte Renate Künast, Fraktionschefin der Grünen, in einem Interview des Deutschlandfunks. Dennoch will sie ihren Parteikollegen lediglich eine Enthaltung bei der Abstimmung vorschlagen. Buchholz dagegen bekräftigte für die LINKE: »Wir bleiben dabei: Die Bundeswehr muss noch in diesem Jahr bedingungslos und vollständig abziehen.«

Dafür demonstrierten am Sonnabend (20. Feb.) auch etwa 2000 Kriegsgegner auf dem Berliner Bebelplatz. »Wir jagen nicht die Terroristen, sondern wir sind selber Terroristen in Afghanistan«, beklagte der Theologe Eugen Drewermann vor den Kundgebungsteilnehmern. Er forderte die Soldaten auf, die »vermeintliche Treue zu einem scheindemokratischen Regime durch Treue zur Menschlichkeit zu ersetzen«.

Eine Woche nach Beginn der »Großoffensive« gegen die Taliban in der afghanischen Provinz Helmand rief Staatspräsident Hamid Karsai die ausländischen Truppen in einer Rede vor dem Parlament erneut eindringlich auf, bei ihren Operationen Zivilisten nicht zu gefährden. Wenige Stunden später musste die NATO-Truppe ISAF einräumen, während der Operation »Muschtarak« (Gemeinsam) wieder einen Zivilisten getötet zu haben, der irrtümlich für einen Selbstmordattentäter gehalten wurde. Nach Angaben der Provinzregierung kamen in der ersten Woche der Offensive mindestens 15 Zivilisten ums Leben. Die ISAF bezifferte ihre Verluste auf zwölf Soldaten, sah ihre Operation aber trotz heftigen Widerstands der Aufständischen auf dem » richtigen Weg«. Es handelt sich um die größte Offensive seit dem Sturz des Taliban-Regimes Ende 2001. Insgesamt sind daran 15 000 afghanische und ausländische Soldaten beteiligt.

* Aus: Neues Deutschland, 22. Februar 2010


Bruchstellen

Von Olaf Standke **

Wenn sich die Spitzenleute der bisherigen Regierungsparteien heute in Den Haag mit Königin Beatrix treffen, dann geht es nur noch um das notwendige Plazet ihrer Majestät zum Rücktritt des Kabinetts Balkenende. Zu kitten ist die Mitte-Links-Koalition nach wochenlangem Streit nicht mehr. Als Bruchstelle erwies sich der Krieg in Afghanistan. Die Sozialdemokraten wollten dem Drängen der NATO und Washingtons auf eine Mandatsverlängerung für die niederländischen Truppen am Hindukusch nicht nachgeben und bestanden darauf, die Soldaten wie geplant noch in diesem Jahr zurückzuholen. Nur unter dieser Prämisse sind sie seinerzeit überhaupt in die Regierung gegangen. Und sie wissen bei ihrer Forderung eine Mehrheit der Bevölkerung hinter sich.

Ähnliches gilt auch für Deutschland, wo laut Umfragen bis zu 69 Prozent der Bürger dem Motto der Protestdemonstration am Sonnabend in Berlin zustimmen: »Kein Soldat mehr! Truppen raus aus Afghanistan – dem Frieden eine Chance.« Und das so schnell wie möglich. Doch wenn am Freitag im Bundestag über die geplante Truppenaufstockung auf bis zu 5350 Bundeswehrsoldaten abgestimmt wird, steht die SPD im Unterschied zu ihren Genossen jenseits des Rheins in großen Teilen fest zur NATO und Schwarz-Gelb. Die Grünen wollen sich mutig enthalten. Allein die LINKE wird wie bisher immer gegen den Kriegseinsatz stimmen. Keine niederländischen Verhältnisse also in Berlin.

** Aus: Neues Deutschland, 22. Februar 2010 (Kommentar)


Afghanistan bringt Balkenende zu Fall

Niederländische Regierung zerbricht am Streit um NATO-Krieg

Von Tobias Müller, Amsterdam ***

Unüberbrückbare Gegensätze bei der Verlängerung des niederländischen Afghanistan-Einsatzes besiegeln das Ende der Regierung von Premierminister Jan Peter Balkenende. Nach dem Ausscheiden der Sozialdemokraten aus der Koalition stehen im Sommer Neuwahlen an.

Auch eine 16-stündige Marathonsitzung konnte nicht mehr abwenden, was sich in den letzten Tagen immer deutlicher abgezeichnet hatte: Der erbitterte Streit über eine Verlängerung der niederländischen Afghanistan-Mission war der letzte der seit 2007 amtierenden Regierung aus Christ- und Sozialdemokraten sowie der Juniorpartnerin Christenunion. In der Nacht zum Sonnabend war der Austritt der sozialdemokratischen PvdA schließlich beschlossene Sache. Die Partei könne »nicht länger auf glaubwürdige Art Teil dieses Kabinetts sein«, erklärte Parteichef Wouter Bos. Die PvdA wollte die kanpp 2000 in der Provinz Urusgan stationierten Soldaten bis Ende des Jahres wie geplant zurückholen. Der Christdemokratische Appell (CDA) von Jan Peter Balkenende ist dagegen offen für den Wunsch der NATO, das Mandat zu verlängern.

»Wo Vertrauen fehlt, ist ein Versuch, sich inhaltlich zu einigen, von vornherein zum Scheitern verurteilt« – mit diesen Worten trat Balkenende vor die Presse. Zuvor hatten die CDA-Minister versucht, ihre sozialdemokratischen Kollegen für eine Verschiebung der Koalitionsentscheidung bis zum 1. März zu gewinnen. Diesen Termin hatte 24 Stunden zuvor das Parlament gesetzt, das mehrheitlich für einen fristgerechten Abzug der Soldaten bis zum Jahresende ist.

Seit 2006 leiten die niederländischen Streitkräfte die ISAF-Mission in der Provinz Urusgan. Das ursprüngliche Mandat war bereits 2008 abgelaufen, vom niederländischen Parlament aber bis 1. August dieses Jahres verlängert worden. Anfang Februar hatte NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen Den Haag ersucht, über diesen Zeitraum hinaus in kleinerem Rahmen in Urusgan zu bleiben. PvdA-Chef Bos hatte daraufhin erklärt, mit seiner Partei sei darüber nicht zu verhandeln, und vom Kabinett eine entsprechende Entscheidung gefordert. Oppositionspolitiker sahen darin auch eine Wahlkampfstrategie. In den Niederlanden stehen am 3. März Kommunalwahlen an. Und die Mehrheit der Bevölkerung ist nach 21 gefallenen Soldaten für einen Abzug aus Afghanistan.

Enttäuscht äußerten sich christdemokratische Regierungsvertreter. Außenminister Maxime Verhagen und Jack de Vries, Staatssekretär im Verteidigungsministerium, warfen der PvdA vor, den Bruch bewusst herbeigeführt zu haben. Für Arie Slob, Fraktionsvorsitzender der Christenunion, war das Ende der Regierung »ein schwarzer Tag«, sei es doch gerade in Krisenzeiten wichtig zusammenzurücken.

Königin Beatrix, die sich im Urlaub in Österreich aufhielt, will heute in Den Haag mit Balkenende, Bos und dem Chef der Christenunion, André Rouvoet, zusammentreffen Nach der formellen Annahme des Rücktritts müssen verfassungsgemäß innerhalb von drei Monaten Neuwahlen stattfinden. Am Wochenende wurden diese für Mai oder Juni erwartet. Bis dahin wird Balkenende einem kommissarischen Rumpfkabinett aus CDA und Christenunion vorsitzen. Profitieren von der Krise könnte vor allem die Partei für die Freiheit (PVV) des Populisten Geert Wilders. Ihr werden deutliche Stimmengewinnen vorausgesagt.

*** Aus: Neues Deutschland, 22. Februar 2010


Pressestimmen ***

Die RHEINISCHE POST notiert:
"Mit Krieg gewinnt man keine Wähler-Stimmen: Frei nach diesem Motto verweigern Hollands siechende Sozialdemokraten die von der Nato erbetene Verlängerung des Afghanistan-Einsatzes. Sie steigen aus der Regierung aus, um den vom Volk gewünschten Truppen-Rückzug durchzudrücken - und ihre miesen Umfragewerte vor der Kommunalwahl zu stabilisieren. Damit schaden sie ihrem Land und der Nato", kritisiert die RHEINISCHE POST aus Düsseldorf.


Das sieht die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG ähnlich:
"Der Sturz der Regierung wäre normalerweise ein zwar bedauerliches, aber nur regionales Malheur. Doch weil die Koalition im Streit über Afghanistan zerbrochen ist, reichen die Erschütterungen bis tief in die Nato hinein. Auch in anderen Ländern gibt es satte Mehrheiten in den Bevölkerungen für einen Rückzug ihrer Solda- ten. Demokratien können nur Krieg führen, solange es einen ausreichend stabilen Konsens gibt. Bricht der auseinander, kann es in vielen Hauptstädten holländi- sche Verhältnisse geben. Das aber kann sich die Nato nicht leisten. Ein Bündnis, das sich auf dem Schlacht- feld auflöst, ist auch politisch am Ende. Es wäre dar- um ein Fehler, die Vorgänge in Den Haag auf die leich- te Schulter zu nehmen oder als politisches Provinzler- tum abzutun", meint die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG.


Für die Zeitung DIE WELT ist das Ende der Koalition alles andere als eine Überaschung:
"Die Regierung hatte bereits Mitte Januar ihren Todesstoß bekommen. Zwar ging es da nicht um Afghanistan, sondern den Irak-Krieg: Eine unabhängige Kommission war zu dem Schluss gekommen, dass Balkenende ohne völkerrechtliche Grundlage gehandelt hatte, als er einen US-geführten Einmarsch politisch unterstützte. Doch der Irak-Bericht nahm vorweg, was sich nun manifestiert. Es gibt keine Argumente mehr, um den Wähler von Anti-Terror-Einsätzen zu überzeugen. Mehr noch: Die öffentliche Wut wächst, von der Politik in 'sinnlose Kriege' geführt worden zu sein. Das zumindest ist die Einstellung der europäischen Linken. Auch die SPD, die den Einsatz in der Regierung noch uneingeschränkt mitgetragen hat, besteht nun auf einem festen Abzugsdatum", merkt die Zeitung DIE WELT an.


Die NEUE OSNABRÜCKER ZEITUNG wirft allerdings ein:
"Anders als in den Niederlanden wird hierzulande gewiss keine Koalition an Afghanistan zerbrechen. Kein Politiker wird sich die Popularität von diesem Militäreinsatz ramponieren lassen. Längst steht das stille Einvernehmen im Bundestag, ihn möglichst bald zu beenden - und nach Ergebnissen nicht zu fragen."


Die FRANKFURTER RUNDSCHAU befürchtet, dass von dem Bruch der Regierungskoalition vor allem die neuen rechtsgerichteten Gruppierungen profitieren werden:
"Das ist allen voran die Partei des Islamkritikers Geert Wilders. Der Aufstand gegen 'die Etablierten in Den Haag', wie er von dem 2002 ermordeten Pim Fortuyn eingeleitet wurde, geht in die nächste Runde. Der neue Pim Fortuyn heißt Geert Wilders. Er kanalisiert das Unbehagen jener Holländer, die ständig vor einer 'Islamisierung des Landes' warnen", erläutert die FRANKFURTER RUNDSCHAU.


Die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG weist ebenfalls auf mögliche Wahlerfolge in diesem politischen Spektrum hin:
"Polemisierende Populisten machen den bedächtigeren Regie- rungsparteien das Leben schwer, am erfolgreichsten derzeit der Islamfeind Geert Wilders. Der zerbrochenen Regierung trauern die meisten Niederländer nicht nach, obschon sie das Land einigermaßen erfolgreich durch die Rezession gesteuert hat. Nach der Neuwahl aber könnten sie anders darüber denken. Alles deu- tet darauf hin, dass künftig vier oder gar fünf Parteien benö- tigt werden, um eine parlamentarische Mehrheit zu bilden. Das folgt aus der fortgesetzten Zersplitterung der Parteienland- schaft. In Den Haag ist zu sehen, wohin die Krise der Volksparteien führt, wenn keine Fünfprozentklausel sie im Zaum hält", betont die FAZ.


DER TAGESSPIEGEL aus Berlin hebt hervor:
"Die Interessenverbände der Gemeinden und Provinzen sind nicht erfreut über das Scheitern mitten in einer Wirtschaftskrise. Wertvolle Zeit geht jetzt verloren. In einer Parteienlandschaft, in der sich die fünf größten Parteien durch gerade sieben Sitze unterscheiden, kann viel passieren. Die Regierungsbildung wird sich über Monate hinziehen. Seit den politischen Morden an Pim Fortuyn und Theo van Gogh haben die Niederlande deutlich an politischer Stabilität verloren. Bei den Wahlen werden wohl die Hälfte der Parlamentssitze neu gemischt. Die Niederlande gehen ungewissen Zeiten entgegen", prophezeit DER TAGESSPIEGEL.


Markus Bernath bedauert den Rückzug der Niederländer, weil er das Kriegsbündnis NATO insgesamt in Gefahr sieht - eine für das neutrale Österreich seltsame Auffassung:
Die mangelnde Solidarität unter den Nato-Bündnispartnern, die unfaire Lastenverteilung der Europäer, wo einige - wie Österreich - nichts und andere alles in Afghanistan geben, haben jetzt ihren Tribut gefordert.
Vier Jahre lang riskierten die Niederländer ihr Leben in der umkämpften Provinz Urusgan. Viele haben es dabei verloren, während andere in weniger gefährlichen Teilen des Landes Patrouille fuhren, im Stabsquartier in Kabul Karten studierten oder zu Hause in Europa die Hände rangen und Bedenken trugen: "Krieg führen ist verwerflich; die Afghanen wollen gar keine Demokratie, da kann man leider nichts machen; es wird schon werden, wir sind dann später mit dabei." Keine Allianz hält das auf Dauer aus.
Keine Regierung kann eine solche Ungleichheit auch endlos vor ihren Wählern verteidigen. Der Rückzug der Niederländer ist eine gute Nachricht für die Taliban. Er untergräbt die neue Afghanistanstrategie der Nato und der USA und gibt dem nächsten Wackelkandidaten Argumente: Auch Kanada würde gern seine 2800 Soldaten abziehen.

Quellen: www.dradio.de/presseschau/ und Der Standard, 22. Februar 2010



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