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Die Invasion der Händler

Nitya Ghotge: Beim Freihandelsabkommen EU-Indien bleiben Kleinbauern auf der Strecke

Noch schützt Indien seine Märkte vor zu starker Einflussnahme durch global agierende Unternehmen. Doch hinter verschlossenen Türen verhandelt die Europäische Gemeinschaft seit drei Jahren über ein Freihandelsabkommen mit einem der wichtigsten Handelspartner Europas. Nitya Ghotge, Direktorin der zivilgesellschaftlichen indischen Organisation ANTHRA, engagiert sich für Menschen, die mit Landwirtschaft ihren Lebensunterhalt verdienen. Mit Unterstützung von Misereor versucht sie Einfluss auf die Verhandlungen zu nehmen. Mit ihr sprach Kai Walter für das "Neue Deutschland" (ND).

ND: Wie sind Produktion und Handel landwirtschaftlicher Produkte in Indien derzeit organisiert?

Ghotge: Überwiegend gibt es Kleinbauern, die auf lokalen Märkten ihre Produkte verkaufen. Auch der Einzelhandel ist geprägt von kleinen Läden und Straßenverkäufern. Die Agricultural Produce Marketing Cooperation (APMC) regelt auf nationaler Basis die Landwirtschaft und sorgt unter anderem dafür, dass Bauern faire Preise für ihre Produkte bekommen. Die APMC wird aber schon seit einiger Zeit geschwächt. Im Großhandel dürfen ausländische Konzerne bereits in Indien tätig werden und über indische Mittelsmänner haben sie direkten Zugang zu lokalen Märkten gefunden.

Wie wirkt sich das aus?

Bei uns gab es früher alle möglichen Früchte auf dem Markt. Sie wurden lokal angebaut. Sie waren frisch, vielfältig und billig. Jetzt gibt es Früchte aus Thailand, Neuseeland, Australien und Chile. Diese sind drei bis vier Mal so teuer. Die indischen Bauern wurden verdrängt. Ich befürchte, dass Kleinbauern bald völlig aus der indischen Landwirtschaft verschwinden und Produktion und Handel von großen indischen und ausländischen Konzernen bestimmt wird.

Wie kam es zu dieser Entwicklung?

Ein Beispiel: Auf Empfehlung der Weltbank wurde 2002 in Indien ein Gesetz verabschiedet, welches den staatlichen Einfluss und umfangreiche Regulierungen in der Milchwirtschaft abschaffte. Gleichzeitig reduzierte Indien seine Beschränkungen für die Einfuhr von Milchprodukten. Durch die hochsubventionierten Importe aus Europa kamen die indischen Milchproduzenten stark unter Druck. Als auch noch die Preise für Futtermittel extrem anstiegen, wurden viele Milchbauern in die Pleite getrieben. Bauern, die ihre Milch an Großfirmen verkaufen wollten, konnten die Qualitätsstandards oft nicht erfüllen und mussten die Milch billig auf lokalen Märkten verkaufen.

Wie reagieren die indischen Kleinbauern?

Die Bauern, die wir beraten, haben kaum eine Ahnung von den politischen Bedingungen, die ihr Leben und ihre Arbeit beeinflussen. So etwas wie Globalisierung verstehen sie nicht. Firmen wie Monsanto kommen nach Indien, verteilen kostenlos Saatgut und sagen den Bauern, sie seien fortschrittlich. Das hören die Bauern gerne, verstehen aber nicht, in welche Abhängigkeit sie sich begeben.

Mehr als 90 Prozent des Einzelhandels mit landwirtschaftlichen Produkten liegen in Indien noch in der Hand von kleinen Händlern. Was sagen sie den EU-Experten, welche die Businessmöglichkeiten in Indien als unfreundlich und restriktiv bezeichnen?

So sehen das die großen Konzerne, die bisher nur als Großhändler in Indien auftreten dürfen. Für die Kleinbauern und die Betreiber kleiner Läden ist der Markt nicht einschränkend, sondern in ihrem Sinne geschützt. Aus unserer Sicht sind auf indischer und auf europäischer Seite bisher nur die Interessen der Konzerne in die Verhandlungen zum Freihandelsabkommen eingeflossen.

Wer verhandelt denn auf indischer Seite, und mit welchen Interessen?

Es sind große Firmen, das Wirtschaftsministerium und der Premierminister. Hinter den großen indischen Firmen stecken oft global agierende Konzerne wie Carrefour (größtes Einzelhandelsunternehmen Europas, d. Red.). Sie bestimmen die Handelspolitik. Die kleinen und mittleren landwirtschaftlichen Betriebe und die Einzelbauern in Indien haben keine Stimme. Für die Regierung ist es einfacher, einen Markt zu kontrollieren, der aus wenigen großen Akteuren besteht. Deshalb fördert sie die Bildung großer landwirtschaftlicher Firmen. Was mit den Kleinbauern passiert interessiert niemanden.

Wie müsste ein Handelsabkommen zwischen Europa und Indien aussehen?

Es muss berücksichtigen, dass die Strukturen geschützt werden, in denen Menschen ihren Lebensunterhalt mit Landwirtschaft verdienen und sich und ihre Familien versorgen. Das ist nicht nur in Indien so. Ich konnte hier in Deutschland sehen, dass Kleinbauern ähnliche Probleme haben, wenn Märkte liberalisiert werden und es keine Regulierungen gibt. Menschenrechte müssen über Handelsrechten stehen. Wir sind nicht gegen Handel, aber die sozialen Auswirkungen müssen ausreichend bedacht werden.

Wie glauben Sie, noch Einfluss nehmen zu können?

Für uns geht es einerseits darum, die Betroffenen aufzuklären und zu unterstützen, ihre Ansprüche geltend zu machen. Andererseits wollen wir erreichen, dass Politiker in Europa die Situation in Indien verstehen. Ich hoffe, die deutsche Landwirtschaftsministerin Ilse Aigner wird Mitte November bei ihrem Besuch in Indien mehr sehen als die Vorzeigeprojekte. Noch immer sind die meisten Menschen in Indien arm und haben Probleme, ihren Lebensunterhalt zu sichern. Das wollen wir den europäischen Politikern zeigen, damit sie verstehen, was ein Freihandelsabkommen anrichten kann. Organisationen wie Misereor und Germanwatch helfen uns dabei. Für uns ist die Unterstützung durch Organisationen aus Europa sehr wichtig. In Indien haben wir kaum Einfluss auf die Leute, die die Verhandlungen führen.

* Aus: Neues Deutschland, 26. Oktober 2010


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