Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Konzerne auf dem Sprung

Gipfel EU–Indien: Supermarktketten sollen Subkontinent aufrollen. Das würde traditionelle Handelsstrukturen vernichten und vor allem die ärmere Bevölkerung treffen

Von Gerhard Klas *

Am Freitag (10. Feb.) trafen sich hochrangige Politiker der Europäi­schen Union und Indiens zum zwölften gemeinsamen Staatsgipfel in Neu- Delhi. Ursprünglich sollte bei dieser Gelegenheit das lange geplante Freihandelsabkommen zwischen beiden Wirtschaftsmächten verabschiedet werden. Dieser Vertrag soll unter anderem europäischen Supermarktketten Geschäfte in dem 1,2-Milliarden-Einwohner-Staat ermöglichen. Doch der Abschluß des 2007 angeschobenen Vorhabens mußte erneut vertagt werden, weil es bei der indischen Bevölkerung auf Ablehnung stößt. Unter anderem, weil der Einzelhandel in Indien nach einem anderen System funktioniert als der in den Industrieländern.

Straßenhändler bestimmen das Bild der Städte und Dörfer auf dem Subkontinent. Nur in der Landwirtschaft arbeiten mehr Menschen als im Einzelhandel. Etwa 35 Millionen Inder stehen mit ihren zweirädrigen Holzpritschen auf Plätzen und an Straßenrändern. Laut preisen sie ihre Waren an: Gemüse, Früchte, Haushaltswaren, Bekleidung, Tee, Kosmetika – alles für den täglichen Bedarf. Und dann gibt es noch zwölf Millionen Kirana-Shops, das sind permanente Holzverschläge, manchmal auch aus Stein mit einem Wellblech-Dach, einige mit Stromversorgung. Sie sind vergleichbar mit unseren früheren Tante-Emma-Läden und spielen für die Mehrheit der Inder eine wichtige Rolle bei ihrer Versorgung.

»In diesen Shops können Kunden anschreiben lassen«, erklärt Saggari Ramdas, eine Aktivistin aus dem südindischen Bundesstaat Andhra Pradesh. »Das ist vor allem für diejenigen wichtig, die als Gelegenheitsarbeiter nur hin und wieder Geld verdienen können – und das sind die meisten Inderinnen und Inder«, so Ramdas. Sie weiß, wovon sie redet, denn sie ist Sprecherin vieler Kleinbauern, Landarbeiter und Straßenhändler aus der Region. »Diese Gelegenheitsarbeiter haben mit den Betreibern der Kirana-Shops und mit Straßenhändlern langfristige Beziehungen entwickelt und müssen nicht sofort bezahlen: In einem Supermarkt ist so was nicht möglich.«

Dort, wo große Einkaufszentren nach westlichem Vorbild eröffnen, locken sie vor allem die wohlhabendere Mittelschicht. Den Straßen- und Kleinhändlern kommt damit die solvente Kundschaft abhanden, mit deren Käufen sie auch Kreditausfälle und Rabatte für ihre ärmeren Kunden ausgleichen konnten. Von der Regierung in Auftrag gegebene Studien bestätigen ebenfalls, daß der informelle Einzelhandel im Umfeld dieser Shoppingzentren innerhalb kurzer Zeit dramatische Umsatzeinbußen hinnehmen muß. Bisher kontrollieren Supermärkte nach westlichem Vorbild erst fünf Prozent des indischen Einzelhandels, der ein Gesamtvolumen von umgerechnet 322 Milliarden US-Dollar (244 Milliarden Euro) pro Jahr hat. Vor allem europäische Handelsketten wittern deshalb gute Geschäfte mit der Mittelschicht und wollen rechtzeitig auf den indischen Markt. Bisher können sie dort noch keine Filialen eröffnen. Das soll sich mit dem geplanten Freihandelsabkommen ändern.

Als die indische Koalitionsregierung unter Führung der Kongreßpartei (INC) Ende des vergangenen Jahres einen Vorstoß wagte und einen dahingehenden Gesetzesentwurf vorlegte, kam es zu lautstarken Protesten auf der Straße und im Parlament. Sogar die zweitgrößte Partei der Regierungskoalition lehnte den Entwurf ab.

»Im Moment gibt es viel Druck von Bürgerinitiativen, Bauernorganisationen, dem Einzelhandel und den Straßenhändlern«, so Ramdas. Der Protest habe auch auf der politischen Ebene gewirkt. »Der Finanzminister mußte vor dem Parlament erklären, daß sie den Gesetzentwurf zurückhalten werden – wohlgemerkt, er hat nicht gesagt, sie würden ihn zurückziehen, nur auf unbestimmte Zeit zurückhalten«, äußert sich Ramdas mißtrauisch über das Gebaren der Regierung.

Wann es zur Wiedervorlage kommen wird, ist noch unklar. Vor allem Kleinhändler und die meisten Bauernorganisationen fürchten die Konkurrenz und die Macht der Supermärkte. Die Marktöffnung für die großen westlichen Ketten ist in der Bevölkerung dermaßen unbeliebt, daß sogar die beiden populärsten Politiker der regierenden Kongreßpartei – Rahul und Sonia Gandhi – mit Blick auf kommende Wahlen kein Wort zur Unterstützung der Gesetzesreform verlauten ließen. Aber der Druck ist groß. Die drastischen Kürzungsprogramme im Zuge der Euro-Krise lassen die Absatzmärkte in Europa schrumpfen. Mit der konsumhungrigen indischen Mittelschicht könnten diese Verluste ausgeglichen werden. Als der Gesetzentwurf innerhalb weniger Tage auf Eis gelegt wurde, sorgte das in der internationalen Wirtschaftspresse, aber auch bei den potentiellen Geschäftspartnern in Indien, für bissige Kommentare. Einige Marktanalytiker sprachen sogar vom »politischen Selbstmord« des Premierministers, der derart die Interessen der Investoren aus dem Ausland brüskiert habe. Saggari Ramdas erinnert das an vergangene Zeiten. »Auch Briten, Holländer und Portugiesen kamen angeblich nur nach Indien, um Handel zu treiben – und dann übernahmen sie die politische Kontrolle. Was im Moment passiert, nenne ich Neokolonialismus.« Leider, so Ramdas, gebe es im Land »eine Klasse, die davon ebenfalls profitiert«.

* Aus: junge Welt, 11. Februar 2012


Zurück zur Indien-Seite

Zur EU-Europa-Seite

Zurück zur Homepage