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EU und Indien auf Freihandelstrip

Nichtregierungsorganisationen warnen vor negativen sozialen Folgen eines Abkommens

Von Gerhard Klas *

Unter Ausschluss der Öffentlichkeit, im Schatten der Brüssel EU-China-Gespräche, finden bis heute in Delhi weitere Verhandlungen über das geplante europäisch-indische Freihandelsabkommen statt. Diese kommen, wie es heißt, rasch voran.

Europas Wirtschaft kriselt, während Indien mit seinen knapp 1,2 Milliarden Einwohnern Jahr für Jahr ordentliche Wachstumsraten verzeichnet. Das weckt Begehrlichkeiten. Schon seit 2007 verhandelt die EU-Kommission mit der indischen Regierung auf höchster Ebene über ein Freihandelsabkommen. Spätestens Anfang 2011 soll es unter Dach und Fach sein.

Europäische Wirtschaftslobbyisten bezeichnen dies als »große Hoffnung«. Die Wunschliste der Konzerne an den EU-Verhandlungsführer, Handelskommissar Karel de Gucht, ist lang: Supermarktketten wollen in Indien Filialen eröffnen, Pharma- und Agrarindustrie fordern stärkeren Schutz ihrer Patentrechte, Lebensmittelhersteller wollen ihre Produkte zollfrei nach Indien einführen, Finanzjongleure gieren nach neuen Profiten, und Versorgungsunternehmen wollen künftig bei der Privatisierung der Wasser- und Energieversorgung, des Transport- und Gesundheitswesens auf dem Subkontinent mitfeilschen.

Auf taube Ohren stoßen solche Forderungen nicht. »Wir können die EU-Kommission in den Verhandlungen als unser Sprachrohr nutzen«, freute sich schon im März Ansgar Sickert, Hauptgeschäftsführer des Flughafendienstleisters Fraport in Indien. Einzelnen Konzernen soll sogar das Klagerecht gegen Regierungen eingeräumt werden. Die Einsprüche europäischer und indischer Umweltverbände und Gewerkschaften blieben ungehört: Ihrem Wunsch, im Vertrag auch verbindliche soziale und ökologische Kriterien zu verankern, will die EU-Kommission nicht nachkommen.

Dabei wären solche Kriterien dringend notwendig, wie aus einer Untersuchung der indischen Nichtregierungsorganisation FDI Watch und der Antilobbyinitiative Corporate Europe Observatory (CEO) aus Brüssel über die Folgen der Verhandlungen hervorgeht. Das Abkommen kann zwar die Handelsbilanzen hübscher aussehen lassen und Aktienkurse in die Höhe treiben, aber auch viele Inderinnen und Inder in den Abgrund reißen. Schon heute nimmt sich jede halbe Stunde ein indischer Bauer das Leben, weil er mit dem Erlös seiner Arbeit die Familie nicht mehr ernähren kann. Der unbeschränkte Import hochsubventionierter Lebensmittel aus der EU würde dies noch verschärfen. Auch die 33 Millionen Straßenhändler könnten einpacken, wenn Supermarktketten wie Carrefour, Tesco und Metro den indischen Markt erobern. 2008, während der Nahrungsmittelkrise, hatte die indische Regierung ein Exportverbot für Reis verhängt; das soll nach dem Willen der EU nicht mehr möglich sein.

Aber auch in Europa dürfte das Freihandelsabkommen negative Auswirkungen haben - z. B. könnten viele Beschäftigte in der Autoindustrie ihre Arbeit verlieren. Denn dort wird es zu ähnlichen Entwicklungen kommen wie schon vor Jahren im Textilsektor: Forschung, Entwicklung und Design bleiben in der EU, Produktion und Montage werden ins Billiglohnland Indien ausgelagert. Aber für die Brüsseler Verhandlungsführer sind das zweitrangige Probleme. Hauptsache, die europäische Autobranche macht Gewinn.

Schon vor Beginn der Verhandlungen im Jahr 2006 ließ der damalige EU-Handelskommissar Peter Mandelson gegenüber Wirtschaftsvertretern verlauten: »Diese Verhandlungen führen wir in ihrem Interesse.« Der breiteren Öffentlichkeit hingegen werden mit Hinweis auf die Verhandlungstaktik Informationen vorenthalten. Obwohl der große, offizielle Gipfel erst Anfang Dezember stattfindet, haben Nichtregierungsorganisationen schon jetzt zu Protesten aufgerufen. »Es bleibt nicht mehr viel Zeit«, meint Pia Eberhardt von Coroporate Europe Observatory. Sie fordert zusammen mit vielen indischen Nichtregierungsorganisationen, dass die Hinterzimmerverhandlungen, wie sie aktuell in Brüssel stattfinden, abgebrochen werden.

Danach sieht es nicht aus - das Thema wird wohl auch den EU-Indien-Gipfel im Dezember in Brüssel beschäftigen. Als letzte Hoffnung bleibt das Europaparlament. Seit der Lissabon-Vertrag in Kraft getreten ist, muss es auch neuen Handelsverträgen zustimmen. Die Geschichte des EU-Parlaments ist in dieser Hinsicht aber kein Ruhmesblatt, denn regelmäßig gelingt es den zahlreichen Brüsseler Wirtschaftslobbyisten, das Abstimmungsverhalten der Mandatsträger in ihrem Sinne zu beeinflussen. Auch in Indien agieren Lobbyisten im Interesse der europäischen Konzerne. Wie der Studie von CEO und FDI Watch zu entnehmen ist, werden sie sogar mit EU-Steuergeldern finanziert.

Die Studie gibt es als kostenlosen Download im Internet unter: www.corporateeurope.org/global-europe/content/2010/09/eu-india-trade-invaders

* Aus: Neues Deutschland, 8. Oktober 2010

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