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Juristisches Kurzgutachten: Deutschland muss die Strafanzeige gegen Donald Rumsfeld behandeln

Prof. Dr. Michael Bothe und Dr. Andreas Fischer-Lescano: "Die Regeln des Völkerrechts sind von deutschen Gerichten in jeder Phase eines Strafverfahrens zu beachten"

Am 30. November reichte das "Center for Constitutional Rights" Klage wegen des Irakkriegs gegen den US-Verteidigungsminister, den ehemaligen CIA-Chef und andere US-Führungskräfte beim Generalbundesanwalt in Karlsruhe ein. Sie werden von der Menschenrechtsorganisation des Völkerrechtsbruchs beschuldigt (siehe: "Der Kriegsverbrechen beschuldigt"). Im Februar wurde die Klage vom Generalbundesanwalt abgewiesen (siehe: "Bundesanwaltschaft wird nicht gegen US-Verteidigungsminister Rumsfeld ermitteln").
Eine Kritik von Andreas Fischer-Lescano am Verhalten der Bundesanwaltschaft haben wir bereits an anderer Stelle publiziert: "Rechtsrealität versus Realpolitik".
Im folgenden juristischen "Kurzgutachten" geht es darum zu zeigen, dass jeder Staat befugt ist, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord nach dem Weltrechtsprinzip zu verfolgen. Wir dokumentieren das Gutachten ohne den wissenschaftlichen Apparat (Fußnoten). Der Text mit Fußnoten ist hier abgelegt: www.jura.uni-frankfurt.de.



Kurzgutachten

Die Bedeutung völkerrechtlicher Bestrafungspflichten und der völkergewohnheitsrechtlichen Jurisdiktions- und Immunitätsregeln für Verfahren nach dem Völkerstrafgesetzbuch

Vorgelegt von Prof. Dr. Michael Bothe, Frankfurt am Main, und Dr. Andreas Fischer-Lescano, LL.M., Frankfurt am Main

April 2005


1. Fragestellung

Uns ist im Zusammenhang mit gegenwärtig beim Generalbundesanwalt anhängig gemachten Strafanzeigen die Frage vorgelegt worden, welches die völkerrechtlichen Rahmenbedingungen für ein Strafverfahren nach dem neuen deutschen Völkerstrafgesetzbuch sind. Diese Fragestellung hat zwei Aspekte:

1. Welches sind die Grundlagen und Tragweite einer völkerrechtlichen Befugnis (jurisdiction) und gegebenenfalls einer völkerrechtlichen Verpflichtung zur Verfolgung der im VStGB geregelten Straftaten?

2. Welche völkerrechtliche Regeln schränken gegebenenfalls diese Befugnis oder Verpflichtung ein, und zwar

a. unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität oder vergleichbaren völkerrechtlichen Gesichtspunkten; oder

b. wegen einer völkerrechtlich begründeten Immunität?

2. Das Weltrechtsprinzip (universal jurisdiction)

Das neue VStGB geht für die dort geregelten Straftaten vom sog. Weltrechtsprinzip aus, d.h. von der Befugnis der Bundesrepublik Deutschland, diese Straftaten unabhängig von sonstigen Anknüpfungspunkten für die deutsche Strafzuständigkeit zu verfolgen und zu bestrafen. Die genaue Tragweite der Strafzuständigkeit des Staates ist völkerrechtlich seit langem umstritten. Der StIGH hat in seinem Grundsatzurteil im Lotus-Fall den Staaten eine relativ weite Regelungsbefugnis zuerkannt, damit aber nicht alle Zweifelsfragen gelöst. Anerkannt sind als völkerrechtlich zulässige Anknüpfungspunkte staatlicher Strafzuständigkeit das aktive und passive Personalitätsprinzip sowie das Tatortprinzip. Daneben gibt es schon lange den Grundsatz, dass bestimmte Straftaten gegen Grundprinzipien der internationalen Ordnung es rechtfertigen, dass jeder Staat, der eines solchen Täters habhaft wird, diesen verfolgen und bestrafen darf, auch wenn einer der genannten besonderen Anknüpfungspunkte für die staatliche Strafzuständigkeit nicht vorliegt. Das wohl älteste Beispiel für eine solche Straftat gegen die internationale Ordnung ist die Piraterie.

Die Völkerrechtsentwicklung der letzten Jahrzehnte ist dadurch gekennzeichnet, dass grundlegende und wertbezogene Ordnungsvorstellungen sich in den internationalen Beziehungen verdichten. Kernpunkt dieser Ordnungsvorstellungen ist der Schutz der Menschenrechte. Eine Verletzung dieser Grundsätze betrifft nicht nur den Staat, dessen Territorium, dessen Staatsorgane oder dessen Staatsangehörige durch diese Verletzung konkret betroffen sind, sondern sie betrifft rechtlich gesehen jedes Mitglied der internationalen Rechtsgemeinschaft. Deshalb spricht man in diesem Zusammenhang auch von Verpflichtungen erga omnes. Konsequenz dieser Betroffenheit aller Staaten ist ihre Befugnis, Schritte zu ergreifen, die Beachtung dieser grundlegenden Ordnungsprinzipien gegenüber einem Staat, der sie verletzt, durchzusetzen. Zu solchen Schritten gehört auch die Ausübung staatlicher Strafgewalt nach dem Weltrechtsprinzip (universal jurisdiction). Eine Grenze dieser Befugnis zur Rechtsdurchsetzung ist das völkerrechtliche Gewaltverbot, obwohl auch das nicht mehr unbestritten ist.

Diese Entwicklung ist im Grundsatz unbestritten. Zu den Delikten, die auf diese Weise nach dem Grundsatz der universal jurisdiction von Staaten verfolgt und bestraft werden dürfen, gehören heute Kriegsverbrechen , Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. In den Worten von Richterin am IGH van den Wyngaert:

"International law clearly permits universal jurisdiction for war crimes and crimes against humanity. For both crimes, permission under international law exists. For crimes against humanity, there is no clear treaty provision on the subject but it is accepted that, at least in the case of genocide, States are entitled to assert extraterritorial jurisdiction."

Eben davon geht auch das am 30. Juni 2002 in Kraft getretene deutsche Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) aus. Das VStGB ist gegenüber dem Strafgesetzbuch und dem IStGH-Statutgesetz ein eigenständiges Regelungswerk. Es enthält einen Teil mit allgemeinen Bestimmungen und einen besonderen Teil, in dem die Tatbestände des Völkermords, der Verbrechen gegen die Menschlichkeit und der Kriegsverbrechen normiert werden. Die deutsche Strafgewalt wird nach dem Weltrechtsprinzip ausgeübt (§ 1 VStGB), d.h. auf den Tatort oder die Staatsangehörigkeit von Täter und Opfer kommt es insoweit nicht an. Das Gesetz steht damit auf einem gesicherten völkerrechtlichen Boden. Mögliche Grenzen dieses Grundsatzes sind sogleich noch zu erörtern.

3. Bestrafungspflichten

Neben diese Erweiterung der staatlichen Strafzuständigkeit tritt seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges zunehmend eine staatliche Verpflichtung, eine solche Zuständigkeit auch auszuüben. Diese Entwicklung ist zunächst durch das Vertragsvölkerrecht geprägt. Ausgangspunkt waren die vier Genfer Abkommen zum Schutz der Opfer bewaffneter Konflikte von 1949. Die einschlägigen Bestimmungen der vier Abkommen sind weitgehend identisch. Wegen der Relevanz für das oben erwähnte Verfahren seien hier die Vorschriften des III. Überkommens über die Behandlung von Kriegsgefangenen zitiert.

„Artikel 129

Die Hohen Vertragsparteien verpflichten sich, alle notwendigen gesetzgeberischen Maßnahmen zur Festsetzung von angemessenen Strafbestimmungen für solche Personen zu treffen, die irgendeine der im folgenden Artikel umschriebenen schweren Verletzungen dieses Abkommens begehen oder zu einer solchen Verletzung den Befehl erteilen.
Jede Vertragspartei ist zu Ermittlung der Personen verpflichtet, die der Begehung oder Erteilung eines Befehls zur Begehung dieser schweren Verletzungen beschuldigt sind; sie stellt sie ungeachtet ihrer Nationalität vor ihre eigenen Gerichte. ...“

Mit dem Erlass des VStGB hat die Bundesrepublik endlich ihrer Verpflichtung nach Art. 129 Abs. 1 genüge getan. Die Pflicht zur Strafverfolgung nach dem Weltrechtsprinzip im konkreten Fall ergibt sich aus Abs. 2.

Zu diesen Bestrafungspflichten nach den Genfer Abkommen sind im Laufe der letzten Jahrzehnte weitere hinzu gekommen. Zu erwähnen sind insbesondere die Konvention über die Bekämpfung und Bestrafung des Verbrechens der Apartheid von 1973 (Art. III-V), die Konvention gegen Folter von 1984 (Art. 6 und 7), die Convention on the Safety of United Nations and Associated Personnel von 1994 (Art. 9 und 14) sowie eine Reihe von Konventionen über die Bekämpfung gewisser Arten des Terrorismus.

Ob und inwieweit alle diese Bestrafungspflichten bereits Bestandteil des völkerrechtlichen Gewohnheitsrechts sind, ist fraglich. Eine kürzlich erschienene Studie des IKRK kommt jedenfalls für Kriegsverbrechen, die auch schwere Verletzungen der Genfer Abkommen darstellen, zu dem Ergebnis, dass eine gewohnheitsrechtliche Bestrafungspflicht in der Tat besteht.

Grundlage der dargestellten Entwicklungen, die auch für die Auslegung der einschlägigen Regeln wesentlich ist, ist die Tatsache, dass die Straflosigkeit solch schwerer Verbrechen politisch und gesellschaftlich in der internationalen Rechtsgemeinschaft nicht hinnehmbar ist. Dieses gegenwärtig viel diskutierte Prinzip war schon 1949 bei der Abfassung der Genfer Abkommen von Bedeutung. So heißt es in dem grundlegenden Kommentar zu den Abkommen, der von dem seinerzeitigen Leiter der Rechtsabteilung und späteren Vizepräsidenten des IKRK Jean Pictet herausgegeben wurde, schon 1952:

„L’universalité de la juridiction pour les violations graves permet d’espérer que celles-ci ne resteront pas impunies et l’obligation d’extrader concourt à l’universalité de la répression."

Wesentlich ist dann die Frage, ab wann eine solche Pflicht zur Strafverfolgung besteht, bzw. was eine solche Pflicht auslöst. Auszugehen ist vom Text der einschlägigen Vorschriften. Danach muss eine Person „beschuldigt“ sein, „alleged to have committed“. Das bedeutet, dass ein hinreichend konkreter Anfangsverdacht vorliegen muss, der überhaupt staatliche Maßnahmen der Strafverfolgung erst sinnvoll ermöglicht. Der Umfang der Pflicht ist von ihrem Ziel her zu bestimmen, Straflosigkeit zu vermeiden. Sie ist damit auf alle der Sache nach möglichen und gebotenen Maßnahmen gerichtet, die die Bestrafung ermöglichen. Sie erfasst das Verfahren in allen seinen Phasen: Ermittlung, Anklage, gerichtliche Verhandlung. Aufschlussreich hinsichtlich des umfassenden Charakters dieser Pflicht ist eine frühe Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen:

„War crimes and crimes against humanity, wherever they are committed, shall be subject to investigation and the persons against whom there is evidence that they have committed such crimes shall be subject to tracing, arrest, trial and, if found guilty, to punishment.”

4. Mögliche Einschränkungen der Strafzuständigkeit – Subsidiarität im Rahmen des Weltrechtsprinzips

Es ist nunmehr zu prüfen, wieweit das Prinzip der universal jurisdiction seinerseits eingeschränkt ist, insbesondere durch einen Grundsatz der Subsidiarität:

Der deutsche Gesetzgeber hat das sonst bei Auslandstaten bestehende Ermessen der Staatsanwaltschaft strukturiert und eingeschränkt. Der im Gesetzgebungsverfahren für das VStGB neu eingeführte § 153f StPO sieht unter anderem eine Verfolgungspflicht für den Fall vor, dass sich der Beschuldigte im Inland aufhält oder ein solcher Aufenthalt zu erwarten ist. Auf der anderen Seite statuiert § 153f Abs. 2 Ziff. 4 StPO die „Subsidiarität“ als Grundlage für ein Absehen von Strafverfolgung. Danach kann in der Bundesrepublik von Strafverfolgung abgesehen werden, wenn die Tat bereits durch den Staat verfolgt wird, dessen Staatsangehöriger der mutmaßliche Täter oder das Opfer ist. Allerdings geht das Gesetz offenbar nicht davon aus, dass in diesem Fall die deutsche Strafgewalt gar nicht mehr gegeben ist, denn die Strafverfolgung wird nicht etwa ausgeschlossen, sie wird lediglich in das Ermessen der Staatsanwaltschaft gestellt.

Will man näher ermitteln, ob und inwieweit die völkergewohnheitsrechtliche Regel der universal jurisdiction durch einen Grundsatz der Subsidiarität eingeschränkt ist, muss man sich vergegenwärtigen, dass man es mit zwei voneinander zu trennenden Ebenen zu tun hat, nämlich erstens mit der Frage, ob überhaupt eine staatliche Strafzuständigkeit besteht, und zweitens mit der Frage der Zulässigkeit der Ausübung einer gegebenen Jurisdiktion. Der deutsche Gesetzgeber hat diese Ebenentrennung dadurch nachvollzogen, dass er einerseits in § 1 VStGB den Weltrechtsgrundsatz angeordnet hat, dafür eine weitere Verbindung der Tat oder des Täters zur Bundesrepublik nicht verlangt und auch sonstige Einschränkungen nicht vorgenommen hat. Erst auf der zweiten Ebene, d.h. der Frage einer Verfolgungspflicht zur Ausübung der gegebenen Jurisdiktion, hat der Gesetzgeber strafprozessual das Subsidiaritätsprinzip als Ermessensvorschrift normiert.

Zur Beurteilung der Vereinbarkeit dieser Vorschrift mit Völkerrecht oder zum Zweck ihrer völkerrechtskonformen Auslegung ist zu erörtern, wieweit völkerrechtlich eine Einschränkung des Prinzips der universal jurisdiction nach dem Subsidiaritätsprinzip besteht.

Aus dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofs ist insofern kein Argument für die Geltung eines Subsidiaritätsprinzips herzuleiten, obwohl in diesem Vertrag eine vergleichbare Frage der Jurisdiktionsausübung durch den Komplementaritätsgrundsatz geregelt wird. In Art. 17 des Statutes haben sich die Mitgliedstaaten auf einen Katalog von Bedingungen für die Zulässigkeit eines Verfahrens geeinigt, in deren Kern die Frage steht, ob der betreffende Staat „willens und fähig“ ist, ein Strafverfahren wegen in Rede stehender Vorwürfe durchzuführen, oder ob (Art. 17 Abs. 2 ICC-Statute):

“(a) The proceedings were or are being undertaken or the national decision was made for the purpose of shielding the person concerned from criminal responsibility for crimes within the jurisdiction of the Court referred to in article 5;
(b) There has been an unjustified delay in the proceedings which in the circumstances is inconsistent with an intent to bring the person concerned to justice;
(c) The proceedings were not or are not being conducted independently or impartially, and they were or are being conducted in a manner which, in the circumstances, is inconsistent with an intent to bring the person concerned to justice.”

In diesem Komplementaritätsprinzip kommt zum Ausdruck, dass die Mitgliedsstaaten des Rom-Statutes im Unterschied zu den ad hoc-Tribunalen ICTY und ICTR keine Erstzuständigkeit des ICC vorsehen wollten, sondern eine eben nur komplemtäre, d.h. "if States fulfil their obligations under international law by exercising effective jurisdiction over the crimes set out in the Rome Statute, then the Court, recognizing the primacy of national jurisdictions explicitly provided for in the Statute, will not be seized of any cases". Das ICC-Statut bietet für die Überprüfung von Willen und Fähigkeit der Mitgliedstaaten zur Ausübung der jeweiligen Jurisdiktion eine Fülle von Kriterien, die allerdings nicht abschließend sind.

Dieser Grundsatz der Komplementarität nach Art. 17 ICC-Statut betrifft aber eine andere Problemlage als diejenige der universal jurisdiction. Art. 17 regelt das Verhältnis nationaler Gerichte zu einem Internationalen Spruchkörper, nicht das horizontale Verhältnis der Abgrenzung staatlicher Hoheitsbereiche. Er schützt die Souveränität der Vertragstaaten gegen eine übergeordnete Strafgewalt. Das ist etwas anderes als die Regelung der Konkurrenz paralleler staatlicher Strafgewalten.

Für die horizontale Beziehung, um die es bei der Abgrenzung nationaler Zuständigkeiten geht, wird aber behauptet, dass sich ein eigenständiger Grundsatz der Subsidiarität entwickelt habe. Darauf beruht wohl auch die o.g. deutsche Regelung. Damit stellt sich die Frage, wieweit dieser Grundsatz der Subsidiarität eigentlich gehen könnte. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang die Entscheidung des spanischen Tribunal Supremo, das in der Sentencia 712/2003 vom 20. Mai 2003 unter Ziff. 6 den Grundsatz des Weltrechtsprinzips auf der Ebene der Jurisdiktionsausübung sehr vorsichtig einschränkt:

„Freilich ist anzuerkennen, dass eine Notwendigkeit einer Ausübung von Strafgewalt nach dem Weltrechtsprinzip nicht besteht, wenn der Tatortstaat das Weltrechtsdelikt effektiv verfolgt. In diesem Sinne kann man von einem Grundsatz der Notwendigkeit der Ausübung von Strafgewalt sprechen, die aus Natur und Zweck des Weltrechtsprinzips abzuleiten ist. Die Anwendung dieses Grundsatzes führt zu einem Kompetenzvorrang des Tatortstaates, wenn eine Konkurrenz zwischen dessen Zuständigkeit und der Zuständigkeit auf der Grundlage des Weltrechtsprinzips besteht. Dies schließt nicht die Anwendung der Bestimmung des Art. 23.4 des Gerichtsverfassungsgesetzes aus, der als Voraussetzung für die Zulässigkeit eines Verfahrens auf der Grundlage des Weltrechtsprinzips verlangt, dass die Untätigkeit oder Ineffektivität der Strafverfolgungsorgane des Tatortstaates umfassend glaubhaft gemacht wird. Dieses Erfordernis würde jedoch das Weltrechtsprinzip seines praktischen Inhalts entleeren, denn es handelt sich um einen praktisch unmöglichen Nachweis und würde eine äußerst schwierige Bewertung in einem so frühen Prozessstadium bedeuten. Darum muss für die Zulässigkeit eines Verfahrens insoweit das gleiche gelten wie für die Tatsachen, die den Tatverdacht eines Weltrechtsdelikts begründen. Erforderlich und ausreichend ist die Beibringung ernsthafter und vernünftiger Indizien dafür, dass die behaupteten schweren Straftaten bislang nicht effektiv vom Tatortstaat verfolgt wurden, aus welchen Gründen auch immer, ohne dass dies irgendein negatives Urteil über die politischen, sozialen oder materiellen Bedingungen beinhalte, die zu der besagten de facto-Straflosigkeit geführt haben.“

Das spanische Gericht verlangt also für eine Ausübung fremdstaatlicher Jurisdiktion nach dem Weltrechtsprinzip lediglich, dass nachvollziehbare Indizien dafür vorliegen, dass die territorial zuständige Gerichtsbarkeit eine effektive Verfolgung der in Rede stehenden Delikte nicht vornimmt. Diese Überprüfung ist, so das Tribunal Supremo, in einer Weise durchzuführen, die den Grundsatz der Universaljurisdiktion nicht aushöhlt, weshalb die Zulässigkeit eines Verfahrens vor den Gerichten von Drittsaaten nicht erst dann gegeben sei, wenn eine vollständige Nichtaktivität des Tatortstaates vorläge. Es genügen hinreichende Indizien für eine mangelnde effektive Behandlung der Tatvorwürfe. Diese Argumentation ist erkennbar an der oben dargelegten Tatsache orientiert, dass das Weltrechtsprinzip dem Schutz wichtiger Werte der internationalen Gemeinschaft dient und damit selbst einen Wert darstellt, den es zu bewahren gilt. Straflosigkeit von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord zu vermeiden, ist ein fundamentales Gemeinwohlgut der internationalen Ordnung. Von daher kann ein völkerrechtlicher Grundsatz der Subsidiarität, so man ihn denn überhaupt anerkennen will, nur eine eingeschränkte Bedeutung haben.

Der deutsche Gesetzgeber hat im Einklang mit diesen völkerrechtlichen Grundsätzen für den Fall des Ausfalls der Strafgerichtsbarkeit des eigentlich sachnäheren Staates, d.h. des Anscheins der Ineffektivität der Verfahren dieses Staates im konkreten Fall, nicht nur angeordnet, dass Scheinverfolgungen, deren Ziel es ist, einzelne Täter der Strafverfolgung zu entziehen, unbeachtlich sind. Er hat vielmehr auch das Legalitätsprinzip für den Fall der Ineffektivität dieses staatlichen Verfahrens vorgesehen. Er hat damit der Staatsanwaltschaft den Raum für Ermessenserwägungen genommen und verlangt eine Prüfung, ob im konkreten Fall Anzeichen dafür gegeben sind, dass eine effektive Strafverfolgung der Verbrechen nicht stattfindet. Militärische Untersuchungskommissionen sind dabei keine funktionalen Äquivalente zu Gerichtsverfahren. Findet keine effektive Strafverfolgung statt, so ist kein Ermessen eingeräumt, von der Strafverfolgung abzusehen. Das entspricht auch der völkerrechtlichen Lage.

5. Mögliche Einschränkung der Bestrafungspflichten.

Eine weitere Frage ist, ob das Subsidiaritätsprinzip u.U. einen Staat von den dargestellten Strafverfolgungspflichten, insbesondere denjenigen nach den Genfer Abkommen, dispensieren kann. Auszugehen ist dabei vom Text der einschlägigen Bestimmungen. Diese sehen nur eine Ausnahme von der Bestrafungspflicht vor, nämlich dass der mutmaßliche Täter an einen anderen Staat ausgeliefert wird, der gewisse Bedingungen erfüllt: Nach Art. 129 Abs. 2 des III. Abkommens und den entsprechenden Bestimmungen der anderen Abkommen muss dieser Staat „an der gerichtlichen Verfolgung interessiert“ sein und „gegen die erwähnten Personen ein ausreichendes Beweismaterial vorbringen“. Daraus lässt sich wohl verallgemeinernd ableiten, dass die Grenzen der Bestrafungspflicht dort verlaufen, wo die effektive Bestrafung in einem Drittstaat hinreichend gesichert ist. Diese Grenzlinie verläuft damit ähnlich wie die, die das spanische Tribunal Supremo für den Grundsatz der universal jurisdiction gezogen hat. Wenn, aber nur wenn eine effektive Strafverfolgung in einem anderen Staat gesichert ist, kann der Staat, der sonst in die Lage versetzt ist, Maßnahmen der Strafverfolgung im Hinblick auf einen konkreten Tatverdacht zu ergreifen, von solchen Maßnahmen absehen.

6. Mögliche Einschränkungen des Bestrafungsrecht oder der Bestrafungspflicht: Immunitätsrechtliche Fragen

Der Frage, ob die deutsche Gerichtsbarkeit aufgrund einer völkerrechtlich begründeten Immunität der angezeigten Personen (oder einiger von ihnen) ausgeschlossen ist, kommt besondere Bedeutung zu. Dies hat der Generalbundesanwalt in Verfahren nach dem VStGB aufgrund von § 20 Abs. 2 GVG und Art. 25 GG von Amts wegen zu beachten, ebenso das mit einem Klageerzwingungsverfahren befasste Gericht.

a) Immunität ratione personae

Das Völkerrecht kennt unterschiedliche Arten von Immunität. Zum einen gibt es eine grundsätzliche Immunität für Amtshandlungen. Diese gilt, das ist kaum mehr bestritten, nicht für Kriegsverbrechen, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Folter, jedenfalls soweit die Anti-Folterkonvention Anwendung findet. Zum zweiten gibt es eine in ihrer Tragweite umstrittene völkerrechtliche Regel, nach der amtierende Regierungsmitglieder während ihrer Amtszeit Immunität von der Gerichtsbarkeit anderer Staaten genießen. Der Internationale Gerichtshof hat eine solche Immunität für den Außenminister der Republik Kongo in einem Fall anerkannt, in dem dieser in einem anderen Staat (Belgien) wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit strafrechtlich verfolgt wurde. Die Argumentation der Mehrheit des Gerichts stellt allerdings sehr auf die Tatsache ab, dass es sich um den Außenminister, den Chef des Diplomatie seines Landes, handelte. Ob diese Erwägungen auch auf andere Minister anzuwenden sind, ist darum nach dem Urteil des IGH zumindest offen.

Eine weitere Frage ist, ob die gewohnheitsrechtliche Immunität eines Ministers, soweit gegeben, Vorrang genießt vor der völkervertragsrechtlich, nämlich durch die Genfer Abkommen, aber auch völkergewohnheitsrechtlich begründeten Pflicht, Kriegsverbrecher zu bestrafen. Die Genfer Abkommen machen da für Minister keine Ausnahme. Man kann sie daher mit guten Gründen als lex specialis gegenüber dem allgemeinen Immunitätsnormen bezeichnen. Die ILC hat in ihrem Bericht zum Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind zur nationalen und internationalen Gerichtsbarkeit das Problem klar auf den Punkt gebracht, dass Verfahrensimmunität nicht eine völkerrechtlich begründete Verantwortlichkeit aushebeln darf:

“The absence of any procedural immunity with respect to prosecution or punishment in appropriate judicial proceedings is an essential corollary of the absence of any substantive immunity or defence. It would be paradoxical to prevent an individual from invoking his official position to avoid responsibility for a crime only to permit him to invoke this same consideration to avoid the consequences of this responsibility”.

Selbst wenn eine Jurisdiktionsimmunität für amtierende Funktionsträger (Minister bzw. Staatsoberhaupt) im Fall schwerer Verletzungen des humanitären Völkerrechts angenommen werden könnte, beträfe diese nur das Gerichtsverfahren selbst bzw. einen denkbaren Haftbefehl, nicht jedoch das Ermittlungsverfahren. Die Ermittlungsbehörden sind darum dazu gehalten, die ihnen notwendigen Ermittlungsanstrengungen zu unternehmen, um ein mögliches Strafverfahren nach Ablauf der Amtszeit vorzubereiten. So ist in der Tat die Praxis deutscher Behörden in anderen Fällen persönlicher Immunität.

b) Immunität nach dem NATO SOFA

Eine andere Form von Immunität gilt, soweit das NATO-Truppenstatut und das dazu für Deutschland geltende Zusatzabkommen zur Anwendung kommt. Die Befreiung von der Strafgerichtsbarkeit des Empfangsstaates ist in Art. VII des Statuts geregelt. Danach besitzt der Entsendestaat die Gerichtsbarkeit über die Angehörigen der Truppe, der Empfangsstaat besitzt sie gleichfalls, aber nur für die auf seinem Gebiet begangenen Taten. Für diese besteht eine konkurrierende Gerichtsbarkeit. Für Straftaten, die Mitglieder der im Rahmen des NATO-Bündnisses stationierten ausländischen Streitkräfte in dritten Staaten begangen haben, besitzt die Bundesrepublik nach dem NATO-Truppenstatut keine Gerichtsbarkeit. Hier stellt sich die soeben bereits in anderem Zusammenhang diskutierte Frage, ob denn diese Befreiung von der Gerichtsbarkeit eine Verletzung der Pflicht der Bundesrepublik zur Bestrafung von Kriegsverbrechen völkerrechtlich rechtfertigen kann oder ob vielmehr die generelle Vereinbarung einer Pflicht zur Bestrafung nach dem Weltrechtsprinzip bei schweren Verletzungen im Sinne von Art. 130 des Dritten Genfer Abkommens der beschränkt multilateralen Immunitätsvereinbarung vorgeht. Aus der Sicht der Genfer Abkommen kann sich jedenfalls kein Staat auf ein irgendein regionales Abkommen berufen, um sich seinen Verpflichtungen nach diesen universal geltenden Abkommen zu entziehen.

Ein Anhaltspunkt zur Lösung dieser möglichen Kollisionsfrage kann der Entscheidung des ICTY im Furundzija-Fall entnommen werden, in der das Gericht feststellt:

“The fact that torture is prohibited by a peremptory norm of international law has other effects at the inter- state and individual levels. At the inter-state level, it serves to internationally de-legitimise any legislative, administrative or judicial act authorising torture. It would be senseless to argue, on the one hand, that on account of the jus cogens value of the prohibition against torture, treaties or customary rules providing for torture would be null and void ab initio, and then be unmindful of a State say, taking national measures authorising or condoning torture or absolving its perpetrators through an amnesty law. If such a situation were to arise, the national measures, violating the general principle and any relevant treaty provision, would produce the legal effects discussed above and in addition would not be accorded international legal recognition.”

Das Gericht stellt hier auf den besonderen Charakter der verletzten Norm als ius cogens ab. Jedenfalls bei Verletzung einer solchen Norm sollen rechtliche Regelungen, die ein Absehen von Verfolgung nach sich ziehen können, nicht greifen. Für das NATO-Truppenstatut bedeutet dies:

"If SOFAs are designed to guarantee immunity from prosecution for the most serious international crimes, then they may be deemed invalid as violating jus cogens norms that prohibit war crimes, genocide, and crimes against humanity."

Damit ist die mögliche Kollision zwischen dem Vertragsregime des NATO SOFA und dem der Genfer Abkommen klar zugunsten des letzteren zu entscheiden.

Auch ohne Bezug zu dem in Art. 53 der Wiener Vertragskonvention kodifizierten ius cogens-Grundsatz, ist allerdings festzustellen, dass das NATO SOFA den Zweck hat, die Abgrenzungen von Zuständigkeiten zu regeln, die sich aus der Stationierung fremder Truppen auf dem Territorium des Empfangsstaates ergeben. Das NATO-Statut ist dabei insbesondere dann anwendbar, wenn die strafrechtlichen Vorwürfe sich auf Straftaten beziehen, die auf dem Territorium des Empfangsstaates begangen worden sind. Unabhängig davon geltende Zuständigkeitsregeln werden durch das NATO SOFA nicht berührt. Dies wäre im Hinblick auf das Folterverbot auch deshalb rechtsunwirksam, da das vertragliche Recht der Truppenstationierung nicht die Wirkung haben kann, die Differenzierungen des Völkergewohnheitsrechtes im Hinblick auf Immunitätsausnahmen auszuhebeln.

7. Folgen für deutsche Gerichte

Aus der dargestellten völkerrechtlichen Lage ergeben sich für die deutschen Strafverfolgungsbehörden und Gerichte folgende Konsequenzen: Die Bestrafungspflicht ist von allen deutschen Staatsorganen zu beachten. Tun sie das nicht, führt das zur völkerrechtlichen Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland, die von jedem beliebigen Staat geltend gemacht werden könnte. Da und insoweit es sich um gewohnheitsrechtlich begründete Pflichten und Befugnisse handelt, entscheidet das Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 2 GG bei Zweifeln über ihre Tragweite. Unterlässt ein Gericht die entsprechende Vorlage, so entzieht es den belasteten Prozessbeteiligten seinem gesetzlichen Richter, was ggf. mit der Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung des Art. 101 GG zu rügen wäre.

8. Zusammenfassung

1. Es besteht nach Völkergewohnheitsrecht die Befugnis eines jeden Staates, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord nach dem Weltrechtsprinzip, d.h. auch ohne das Vorliegen von besonderen Anknüpfungspunkten wie Tatort oder Staatsangehörigkeit von Täter oder Opfer strafrechtlich zu verfolgen.

2. Eine Reihe völkerrechtlicher Verträge begründet die Pflicht eines jeden Vertragsstaates, bestimmte Verletzungen dieser Verträge strafrechtlich zu verfolgen. Das gilt insbesondere für schwere Verletzungen der Genfer Abkommen zum Schutz der Opfer bewaffneter Konflikte. Letztgenannte Verpflichtung ist auch Bestandteil des Gewohnheitsrechts.

3. Der Grundsatz der Subsidiarität schließt eine Zuständigkeit nach dem Weltrechtsprinzip nur aus, wenn und soweit gesichert ist, dass ein anderer Staat den fraglichen Täter wirklich effektiv verfolgt. Die Zuständigkeit nach dem Weltrechtsprinzip ist immer dann nicht ausgeschlossen, wenn ein durch Indizien bestätigter Verdacht besteht, dass der primär zuständige Staat (Tatortstaat, Heimatstaat von Täter oder Opfer) seine Strafzuständigkeit nicht oder nicht wirksam ausübt.

4. Bei Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit besteht keine Immunität für Amtshandlungen. Ob ein Verteidigungsminister als Regierungsmitglied persönliche Immunität besitzt, ist sehr fraglich. Andere hohe Amtsträger besitzen eine solche Immunität ohnehin nicht.

5. Die Immunität nach dem NATO SOFA kann keine Befreiung von der Bestrafungspflicht nach den Genfer Abkommen begründen. Kein Staat kann sich auf einen regionalen Vertrag berufen, um seiner Verpflichtung aus einem universalen Vertragsregime des humanitären Völkerrechts zu entgehen.

6. Die dargestellten Regeln des Völkerrechts sind von deutschen Gerichten in jeder Phase eines Strafverfahrens zu beachten. Da und insoweit es sich um Regeln des völkerrechtlichen Gewohnheitsrechts handelt, entscheidet bei Zweifeln über Bestand bzw. Inhalt dieser Regeln das Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 2 GG. Das Unterlassen einer entsprechenden Vorlage bedeutet eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG.

Frankfurt am Main, den 14. April 2005

Prof. Dr. Michael Bothe, Dr. Andreas Fischer-Lescano, LL.M.


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