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Empörung in Haditha

Wut und Enttäuschung in Irak nach mildem Urteil gegen US-Soldaten. Gericht wirft Verantwortlichem von Massaker "Verletzung der Dienstpflicht" vor

Von Simon Loidl *

Die Bewohner der irakischen Stadt Haditha sind empört. Ihre letzte Hoffnung auf Gerechtigkeit wurde am Dienstag (24. Jan.) von einem US-Militärgericht in Kalifornien zunichte gemacht. Dieses entschied mehr als sechs Jahre nachdem im November 2005 zwei Dutzend unbewaffnete Iraker einem Rachefeldzug von US-Soldaten zum Opfer fielen gegen eine Haftstrafe für den letzten von insgesamt acht Angeklagten. Der für das Massaker verantwortliche Unteroffizier Frank Wuterich wurde nach Angaben eines Armeesprechers wegen Verletzung der Dienstpflicht zu 90 Tagen Haft verurteilt. Absitzen muß er aus Verfahrensgründen aber nicht einmal diese. Außerdem wird er zum einfachen Gefreiten degradiert, jedoch ohne Gehaltseinbußen hinnehmen zu müssen. Die Anklage hatte auf Totschlag in neun Fällen gelautet.

Am 19. November 2005 war eine Gruppe Marineinfanteristen unter Wuterichs Kommando nach einem Bombenanschlag, bei dem ein US-Soldat getötet worden war, mordend durch die im Nordwesten des Landes gelegene Stadt gezogen. Drei Stunden lang gingen sie von Haus zu Haus und töteten 24 Menschen, unter ihnen mehr als zehn Frauen und Kinder sowie einen 76jährigen Mann im Rollstuhl.

Die US-Armee hatte zunächst erklärt, die Zivilisten seien bei der Explosion der Bombe ums Leben gekommen. 2006 tauchte ein Video auf, das unmittelbar nach dem Massaker am Ort des Geschehens aufgezeichnet worden war und der Darstellung der Ereignisse durch die Armee widersprach. Das US-Magazin Time begann daraufhin mit intensiven Recherechen und stieß mit den dabei erzielten Ergebnissen eine offizielle Untersuchung an.

Mit dem Urteil gegen Wuterich endete der letzte von insgesamt acht Prozessen gegen US-Soldaten in diesem Fall. Einer der Angeklagten wurde freigesprochen, gegen sechs weitere Beteiligte wurden die Vorwürfe gänzlich fallengelassen. Eine Verurteilung wegen Totschlags hätte Wuterich lebenslänglich ins Gefängnis bringen können. Kurz nach Prozeßbeginn bot ihm die Staatsanwaltschaft jedoch an, daß er gegen Eingeständnis einer Dienstpflichtverletzung einer Haftstrafe entgehen könnte.

Die Reaktionen im Irak waren von Fassungsloskeit und Wut gekennzeichnet. Die juristische Aufarbeitung des Massakers war vor allem von den Bewohnern Hadithas genau verfolgt worden. Diese nahmen bereits die bisherigen Freisprüche und Verfahrenseinstellungen stets mit Empörung zur Kenntnis. Daß nun auch der Hauptverantwortliche weiterhin auf freiem Fuß bleibt, stößt auf völliges Unverständnis. »24 unschuldige Menschen zu töten und nur mit drei Monaten Haft bestraft zu werden« – allein das sei schon ein »Angriff auf die Menschlichkeit«, zitiert die Nachrichtenagentur AFP den Anwalt Chalid Salman, der die Angehörigen der Opfer vertritt.

Ein Sprecher des irakischen Ministerpräsidenten Nuri Al-Maliki sagte, daß die Strafe »nicht angemessen« sei. Die Regierung würde »mit allen juristischen Mitteln für die Rechte unserer unschuldigen Bürger, die Opfer dieser rücksichtslosen Schüsse wurden«, kämpfen.

Überlebende des Massakers hingegen kritisieren auch die eigene Regierung. Irakische Politiker seien mitverantwortlich, »weil sie nichts unternommen haben, um die Verbrecher vor Gericht zu bringen«, so der Staatsbedienstete Nadschi Fahmi, der bei dem Massaker selbst einen Bauchschuß davongetragen hatte, gegenüber der Nachrichtenagentur AP.

* Aus: junge Welt, 26. Januar 2012


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