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Bevölkerung bezahlt den Preis

Island: Gürtel-enger-Schnallen und EU-Aufnahme als Zukunftselixier

Von Andreas Knudsen, Kopenhagen *

Island war das erste Land, das im Zuge der Finanzkrise an den Rand der Zahlungsunfähigkeit geriet. Regierung und Bevölkerung versuchen, sich mit den Problemen zu arrangieren.

Die Isländer können auf ein turbulentes Jahr zurückblicken. Bis zum Ausbruch der Finanzkrise war das Land an Wachstumsraten gewöhnt, die deutlich über denen anderer Industrienationen lagen. Dann musste man schmerzhaft lernen, dass der Boom auf brüchiges Eis -- riskante Spekulationen des Finanzsektors -- gebaut war. Heute prägen Arbeitslosigkeit, drastische Einsparungen in Staatsund Privathaushalten das Bild.

Eine kleine Mehrheit im Parlament beschloss im Oktober 2008, der Staat übernehme die ausländischen Verpflichtungen einer der drei nationalisierten Großbanken. Landsbanki hatte über ihre Marke Icesave Fuß gefasst auf dem britischen und niederländischen Markt. Ihre Pleite hinterließ einen Schuldenberg von 3,5 Milliarden Euro, den Island in den kommenden 15 Jahren abbezahlen soll. In dieser Zeit werden jährlich zehn Prozent des Nationaleinkommens, das zudem um rund ein Fünftel gesunken ist, zur Schuldentilgung für eine Handvoll Finanzabenteurer aufgewendet werden müssen. Kein Wunder, dass das Abkommen auf derart massiven Protest stieß, dass Präsident Ólafur Ragnar Grímsson an die Parlamentarier appellierte, auf die Stimmen der Demonstranten zu hören.

Zum ersten Mal in der Geschichte der kleinen Insel im Nordatlantik mit rund 320 000 Einwohnern wurde ein Regierungsrücktritt erzwungen. Doch die neugewählte Mitte-Links-Regierung musste erkennen, dass die Banken- und Investitionswelt mit Misstrauen auf isländische Geschäftsleute und die Landeswährung blicken. Deshalb der EU-Aufnahmeantrag im Eiltempo, während die Überwindung der Vertrauenskrise eine längere Zeit erfordern wird.

Große Wahlmöglichkeiten hat Island nicht. Ansonsten würde der Internationale Währungsfonds Kreditzusagen zurückziehen und die EU-Aufnahmeverhandlungen würden schon in der Anlaufphase scheitern. Die nordischen Länder können kaum weitere günstige Staatskredite gewähren, so dass der Spielraum zur Beschaffung dringend benötigter Devisen begrenzt ist. Isländische Unternehmen horten Valuta, um der inflationsgeplagten Krone zu entgehen.

Während die staatlichen Aufräumarbeiten im Gang sind, läuft die juristische Aufarbeitung. Die norwegisch-französische Untersuchungsrichterin Eva Joly, die als Kommissionsleiterin engagiert wurde, dürfte Jahre dafür benötigen. Die Pleitiers haben sich ins Ausland abgesetzt und sind nicht sonderlich willig, ihre verfilzten Transaktionen und Besitzanteile offenzulegen. Fakt ist bisher nur, dass sie ihre Unternehmen und Banken als persönliches Eigentum ansahen und einander Milliardenkredite in Euro, Pfund und Schweizer Franken gewährten, für die es keine Deckung gab.

Ein internes Motivationsvideo der auch in Deutschland tätigen Kaupthingbank, das im Internet zirkuliert, illustriert den damaligen Größenwahn: Bilder von Muhammed Ali, Einstein und dem Mauerfall begleiten emphatische Sprüche über Wachstum ohne Grenzen. Das Selbstverständnis, eine Bank zu sein, »die nicht normal denkt«, weckt heute andere Assoziationen.

Als Volk, das sich Jahrhunderte lang unter schwierigen Verhältnissen zu behaupten wusste, lassen sich die Isländer jedoch nicht so leicht entmutigen. Man rückt wieder näher zusammen, besinnt sich auf alte Tugenden und traditionelle heimische Produkte, deren Absatz kräftig steigt. Und der sich abzeichnende Babyboom spricht nicht gerade für Zukunftsangst.

* Aus: Neues Deutschland, 15. September 2009


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