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Treueschwur - worauf eigentlich?

Kopfschütteln und Widerstand in Israel über Regierungsplan

Von Oliver Eberhardt *

Tausende Juden und Araber haben am Samstag (16. Okt.) in Tel Aviv gegen die vor einer Woche vom israelischen Kabinett beschlossene Einführung eines Treueschwurs demonstriert. Die Teilnehmer liefen durch das Stadtzentrum bis zum Verteidigungsministerium und trugen Plakate mit der Aufschrift »Juden und Araber weigern sich, Feinde zu sein« und »Nein zum Hass«.

Nirgendwo kann man die israelische Gesellschaft besser auf engstem Raum versammelt finden als in einem Linienbus von Tel Aviv, der säkularen Metropole, nach Jerusalem, dem Epizentrum dreier Weltreligionen. Da sitzt zum Beispiel Ja'el Rubin (27), weiblich, Militärdienst verweigert, Jurastudium, auf dem Weg zu einer pro-palästinensischen Demonstration, während ein paar Reihen vor ihr der 32-jährige David Misrachi, Kippah auf dem Kopf, ein Gebet murmelt und direkt daneben der 52-jährige Reisekaufmann Assaf Rabinowitsch auf dem Weg zu einer Konferenz in sein Handy brüllt. Sie könnten verschiedener nicht sein.

Und dennoch haben diese drei, willkürlich aus den rund 50 Menschen im Bus herausgepickt, eines gemeinsam: Sie lehnen das Vorhaben der Regierung ab, von nichtjüdischen Neubürgern einen Treueschwur auf den jüdisch-demokratischen Charakter des Staates Israel zu verlangen. »Wenn man das macht, dann muss man auch sagen, was man unter jüdisch versteht«, sagt Rabinowitsch: »Und damit würde man vorschreiben, wie man zu leben hat.« Und dann wäre da noch dieser Bindestrich: »Es gibt religiöse Gruppierungen in Israel, die durch die Verbindung von Religion und Politik ausgeschlossen werden«, erklärt Misrachi. »Dieses Gesetz ist dafür gemacht, Teile der Bevölkerung auszugrenzen.«

Mit ihrer Ablehnung sind die drei nicht allein: In Meinungsumfragen lehnen zwischen 88 und 92 Prozent der jüdischen Israelis das Gesetz ab - nie zuvor war die öffentliche Meinung zu einem politischen Thema in Israel so einig.

Der Hauptgrund dafür sei wohl, dass man befürchte, mit dem Gesetz würde eine bestimmte Gruppe zum Standard erhoben, sagt die Soziologin Ja'el Barak. Zudem werde das als Einschränkung persönlicher Freiheit gesehen: »Judentum ist eine Ansammlung religiöser Vorschriften. Wer ein Bekenntnis dazu fordert, nimmt den Bürgern damit die Freiheit zu entscheiden, ob man diese Vorschriften befolgt oder nicht.«

Dennoch wurde die Vorlage im Kabinett angenommen - ohne die Stimmen der Arbeitspartei. Dass die religiöse Schas-Partei derweil mit Freuden ihren Segen gab, hat einen besonderen Grund: Sie stellt den Innenminister. Und dessen Ministerium soll für die Umsetzung des Gesetzes sorgen - womit Schas die Deutungshoheit darüber besitzt, wer Jude und was jüdisch ist.

Dies ist ein Kompromiss, der manche Abgeordnete heute wünschen lässt, dieses Gesetz niemals auf den Weg gebracht zu haben. Denn nach der Euphorie über den politischen Erfolg im Kabinett reift nun rasend schnell die Erkenntnis, dass es nicht vor allem Araber sein werden, die betroffen wären, sondern hauptsächlich die eigene Klientel: Einwanderer aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Das liegt am sogenannten Rückkehrgesetz, in dem die Einwanderung nach Israel geregelt wird: Israeli kann werden, wer eine jüdische Großmutter oder einen jüdischen Großvater hat. Das eigene Religionsbekenntnis spielt keine Rolle. Nach dem Ende der Sowjetunion, wo religiöse Zugehörigkeit bei der Familienbildung kaum eine Rolle spielte, hat dies dazu geführt, dass sich im jüdischen Staat eine Gesellschaftsgruppe von russischen Einwanderern gebildet hat, die zwar jüdischer Herkunft, aber keine praktizierenden Juden sind, und sich oft kaum mit den jüdischen Symbolen des Staates identifizieren können.

Die Araber, auf die die Vorlage eigentlich zielte, werden nach Ansicht des Staatsrechtlers Gabriel Levy hingegen kaum betroffen sein: Die Palästinenser in Ost-Jerusalem, die zur Zeit zu Tausenden israelische Pässe beantragen, hätten nach israelischem Recht seit der Annexion des Ostteils der Stadt bereits einen »staatsbürgerähnlichen Status«, womit man nicht mehr von Einbürgerung sprechen könne: »Die einzigen Araber, die für den Treueschwur in Frage kämen, wären jene, die Israelis heiraten oder eine Familienzusammenführung beantragen.« Das aber waren im Laufe der vergangenen fünf Jahre genau 154.

* Aus: Neues Deutschland, 18. Oktober 2010


Gemeinsam gegen den »Treueschwur«

Tausende Juden und Araber demonstrieren in den Straßen Tel Avivs gegen das »rassistische Loyalitätsgesetz« **

In Tel Aviv haben Tausende Juden und Araber gegen die von der israelischen Regierung beschlossene Einführung eines »Treueschwurs« protestiert. »Nein zum Faschismus - Ja zur Demokratie«, riefen die Demonstranten am Samstag (16. Okt.) und zogen durch die Innenstadt zum Verteidigungsministerium. Sie trugen Plakate mit der Aufschrift »Juden und Araber weigern sich, Feinde zu sein» und «Nein zum Haß«, wie ein AFP-Reporter berichtete. In Sprechchören kritisierten sie den konservativen Regierungschef Benjamin Netanjahu und dessen ultrarechten Außenminister Avigdor Lieberman. Organisiert wurde die Demonstration von der linksgerichteten israelischen Opposition und von mehreren Menschenrechtsorganisationen.

Das israelische Kabinett hatte vor einer Woche mit einer Mehrheit von 22 zu acht Ministern für den Regelungsentwurf gestimmt. Das »Loyalitätsgesetz« sieht vor, daß Nicht-Juden künftig vor ihrer Einbürgerung dem »jüdischen und demokratischen Staate Israel« die Treue schwören müssen. Netanjahu hatte einer Initiative von Liebermans Partei »Unser Haus Israel« nachgegeben und den Schwur als »urdemokratisch« verteidigt. Kritik war allerdings auch aus dem Regierungslager gekommen. Der stellvertretende Ministerpräsident Dan Meridor bezeichnete das Gesetz als »überflüssig und schädlich«. Es bringe Israel in eine schwierige Lage hinsichtlich der arabischen Bürger und des internationalen Ansehens. Der Entwurf war insbesondere von der arabischen Minderheit in Israel als »rassistisch« kritisiert worden. Zwar muß er noch durch das Parlament, das Regierungslager hat in der Knesset aber eine breite Mehrheit. Auch Syrien und die Türkei kritisierten das Vorhaben.

Im Engagement für den vor vier Jahren von Palästinensern an der Grenze zum Gazastreifen gefangengenommenen israelischen Soldaten Gilad Schalit liefen laut Netanjahu unterdessen wieder Gespräche an. »Die Kontakte für die Freilassung von Gilad wurden wieder aufgenommen«, sagte er am Sonntag dem israelischen Armeerundfunk. Es gebe »viele diskrete Bemühungen«. Verhandlungen über einen Gefangenenaustausch - in Israel gibt es etwa tausend aus politischen Gründen inhaftierte Palästinenser - zwischen der Regierung in Tel Aviv und der im Gazastreifen regierenden Hamas unter ägyptischer und deutscher Vermittlung waren im März gescheitert. Die israelische Zeitung Jediot Ahronot berichtete am Sonntag, der deutsche Vermittler sei vor zwei Wochen zu Gesprächen in den Gazastreifen zurückgekehrt und habe dort Vertreter der Hamas getroffen.

Bei einem israelischen Luftangriff im Norden des Gazastreifens wurden am Sonntag zwei Palästinenser getötet und ein weiterer verletzt. Nach Angaben von palästinensischen Rettungskräften starb einer der Männer sofort, der andere erlag später seinen schweren Verletzungen. Die israelische Armee bestätigte den Luftangriff und erklärte, dieser habe sich gegen eine »Gruppe von Terroristen« gerichtet, die Raketen auf Israel hätten abfeuern wollen. (dapd/AFP/jW)

** Aus: junge Welt, 18. Oktober 2010

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