Kasachstan sitzt 2010 der OSZE vor
In Astana hofft man auf ein Gipfeltreffen
Von Irina Wolkowa, Moskau *
Kasachstan, das am 1. Januar den Vorsitz in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in
Europa (OSZE) übernahm, wird sich dadurch wandeln. Ebenso die OSZE selbst. So jedenfalls sieht
es die Mehrheit der Beobachter in Kasachstan, im Westen und in Russland.
Es ist ein Experiment, mit dem die Organisation und ihre 56 Mitgliedstaaten Neuland betreten.
Abgesehen von der Schweiz hatten bisher nur EU- und NATO-Mitglieder den OSZE-Vorsitz inne.
Und mit Ausnahme der Türkei ausschließlich Staaten des »christlichen Abendlandes«. Kasachstan
ist außerdem der erste UdSSR-Nachfolgestaat an der Spitze der OSZE. Für die Mehrheit der
Europäer dennoch Terra incognita. Sogar westliche Politiker sind auf die Hilfe von Experten
angewiesen, wenn es um Bewertungen und Prognosen geht. Das betrifft auch die Prioritäten, die
Kasachstan während seiner Präsidentschaft setzen wird.
Details werden Mitte Januar erwartet, wenn in der Wiener Hofburg der Ständige Rat der OSZE
erstmals unter Vorsitz Kasach-stans tagt. Westliche Diplomaten rechnen nicht nur mit einer anderen
Kultur von Leitung und Entscheidungsfindung, sondern auch mit einer Verschiebung der Gewichtung
der drei »Körbe« Sicherheit, Zusammenarbeit und Menschenrechte.
Präsident Nursultan Nasarbajew und dessen Außenamt ließen bereits durchblicken, dass sie
Schwerpunkte bei politisch-militärischer und wirtschaftlicher Kooperation setzen werden. Neben
Konfliktmanagement – darunter auch in Afghanistan – und vertrauensbildenden Maßnahmen geht es
dabei auch um Abrüstung, vor allem auf konventionellem Gebiet und in Europa. Kasachstan, das
trotz Bemühungen um gleiche Nähe – oder Distanz – zu den Großmächten als einer der
verlässlichsten Verbündeten Russlands gilt, dürfte dabei auch für Dmitri Medwedjews Entwurf eines
Vertrags über Europäische Sicherheit werben. NATO und EU stehen dem Projekt sehr skeptisch
gegenüber: Ein gemeinsamer euroasiatischer Sicherheitsraum vom Atlantik bis zum Pazifik würde
aus ihrer Sicht das westliche Verteidigungsbündnis schwächen. Die Rolle der OSZE dagegen würde
gestärkt, und das entspricht den Interessen Kasachstans wie Russlands.
Moskau und Astana – das ehemalige Zelinograd ist seit 1997 die Hauptstadt Kasachstans – kommt
dabei entgegen, dass ein informelles Außenministertreffen in Korfu im Juni 2009 den OSZEVorsitzenden
verpflichtete, die auf der griechischen Insel begonnene Diskussion zum Thema
»Zukunft und Sicherheit in Europa« fortzusetzen. Sogar ein Gipfel in Astana, der aus
Prestigegründen ganz oben auf Kasachstans Wunschliste steht, würde damit möglich. Der letzte,
von einem Vorsitzland ausgerichtete, fand 1999 in Istanbul statt. Seit der Krise in der Öffentlichkeit
um Sparsamkeit bemüht, wollen die Staatschefs einem neuen Gipfel außerhalb Wiens nur bei
»entsprechender Substanz« zustimmen, wie sich ein deutscher Diplomat ausdrückte.
Ob genug Substanz zusammenkommt, hängt auch davon ab, ob Kasachstan zu substanziellen
Verbesserungen bei Menschenrechten bereit ist. OSZE-Beobachter kritisierten immer wieder, dass
demokratische Mindeststandards nach wie vor um Längen verfehlt werden. Zwar ist Kasachstan –
sogar für Russland – Vorbild, wenn es um ethnische und religiöse Toleranz geht. Russen stellen vor
allem im Norden bis zu sechzig Prozent der Bevölkerung. Zum Islam bekennen sich ganze 47 Prozent der Kasachstaner, fast genau so viele zum orthodoxen Christentum. Wahlen sind jedoch nur
halbwegs frei und alles andere als fair, die politische Opposition und unabhängige Medien werden
massiv behindert. Dennoch: Seit die sogenannte Tulpenrevolution im benachbarten Kirgistan im
März 2005 Präsident Askar Akajew stürzte, ist Kasachstan der freieste UdSSR-Nachfolgestaat in
Zentralasien.
Die Demokratiedefizite hatten, als Kasachstan sich um den OSZE-Vorsitz bewarb, zu heftigen
Kontroversen geführt. Vor allem die USA und Großbritannien meinten, das Land sei dafür nicht reif,
selbst ein Vertrauensvorschuss, auf dem auch Deutschland bestand, sei daher verfrüht. Bleibt zu
hoffen, dass Kasachstan seine Chance für konstruktive Schlussfolgerungen nutzt.
* Aus: Neues Deutschland, 4. Januar 2010
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