Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Staatsbildung durch Krieg?

Die widersprüchliche Haltung des Westens bei Abspaltungskonflikten

Im Folgenden dokumentieren wir einen Beitrag aus der NDR-Hörfunksendung "STREITKRÄFTE UND STRATEGIEN", die am 4. Oktober 2008 gesendet wurde (Wiederholung am 5. Oktober). Moderator war Andreas Flocken.



Flocken:
Für den 15. Oktober ist in Genf eine Kaukasus-Konferenz angesetzt. Ziel ist, die festgefahrenen Fronten aufzuweichen - nach dem Fünf-Tage-Krieg und der Anerkennung Südossetiens und Abchasiens durch Moskau. Anlass für Reinhard Mutz zu fragen, wie der Westen bisher mit Unabhängigkeitsbestrebungen umgegangen ist:


Manuskript Dr. Reinhard Mutz

Wo immer seit Ende des Ost-West-Konflikts in Europa oder an seinen Rändern Krieg geführt wurde, standen Nationalismus, Separatismus und territorialer Revisionismus unter den Ursachen an vorderster Stelle. Wirtschaftlicher Niedergang heizte die Feindseligkeiten an. Nicht zufällig lagen die Brandherde östlich der Blockgrenze, die bis 1989 den Kontinent spaltete. In diesem Teil Europas konnten aufgrund der geschichtlichen Entwicklung keine homogenen Nationalstaaten entstehen. Als das kommunistische System zusammenbrach, füllten in vielen Ländern historische Ressentiments das ideologische Vakuum. Nationale Minderheiten pochten auf ihre Eigenständigkeit. Im äußersten Fall forderten sie die Sezession, d.h. den Austritt aus dem Staat, dem sie angehörten, um ihre politische Unabhängigkeit in einem eigenen Staat zu erlangen oder sich einem Nachbarstaat mit gleicher Bevölkerung anzuschließen.

Bei der Lösung dieses Problems hat das westliche Europa keine gute Figur gemacht. Die Kette der jugoslawischen Auflösungskriege wusste es nicht zu verhindern. Kein europäischer Krisenschauplatz seit 1945 kostete mehr Opfer – rund 100.000 Tote und über zwei Millionen Flüchtlinge. Allein in Bosnien lebte nach Beendigung der Kampfhandlungen die Hälfte der Bewohner kriegsbedingt an einem anderen Ort als bei Ausbruch des Konflikts. Für die Mehrzahl von ihnen gilt das noch heute. Dasselbe Schicksal haben die Einwohner von Nagorny-Karabach erlitten. Während des Krieges zwischen Armenien und Aserbaidschan um dieses Gebiet wurden eine Million Menschen vertrieben. Dass neben dem Balkan der Kaukasus einen zweiten Schwerpunkt unerledigter Abspaltungskonflikte bildet, das rückte jedoch erst durch den jüngsten Waffengang zwischen georgischen und russischen Truppen wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit.

Welche Lösungsmöglichkeiten gibt es für diese Konflikte? Das Völkerrecht hält zwei einschlägige Bestimmungen bereit. Zum einen verbietet es Handlungen, die sich gegen die politische Unabhängigkeit und territoriale Unversehrtheit von Staaten richten. Zum anderen verlangt es, die Beziehungen zwischen den Nationen auf das Prinzip der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker zu gründen. Leicht zu erkennen ist, dass zwischen den beiden Grundsätzen ein Spannungsverhältnis besteht. Beruft sich eine Bevölkerungsgruppe auf das Selbstbestimmungsrecht und sagt sich von ihrem Staat los, dann verletzt sie notgedrungen dessen territoriale Integrität. Hier muss ein drittes Gebot eingreifen: das der friedlichen Streitbeilegung. Das Recht auf Selbstbestimmung gilt, aber es ist der Pflicht zum Gewaltverzicht nachgeordnet. Wer neue Grenzen ziehen und andere Staaten gründen will, hat den Weg politischer Verständigung zu gehen. Die Vereinigung Deutschlands ist so zustande gekommen, die Zerteilung Jugoslawiens nicht.

Dass die Streitparteien in einem Sezessionskonflikt die ihrem Anliegen jeweils dienliche Rechtsnorm betonen, liegt in der Natur der Sache. Eine friedliche Konfliktregelung wird jedoch erschwert, wenn auch dritte Mächte mal den einen, mal den anderen Maßstab anlegen – je nach dem, welcher gerade passt, um die eigenen Interessen zu verfolgen. Dafür bietet die westliche Balkanpolitik das anschaulichste Beispiel:
  • So hat der Westen bei Kriegsbeginn den Wunsch der Slowenen und Kroaten unterstützt, unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht nicht länger in einem jugoslawischen Staat leben zu wollen. Dem Bestreben anderer Minderheiten, z.B. der kroatischen Serben, unter Berufung auf dasselbe Selbstbestimmungsrecht nicht in einem kroatischen Staat leben zu wollen, hat der Westen allerdings eine Absage erteilt.
  • Nach dem Übergreifen des Krieges auf Bosnien-Herzegowina hat die westliche Balkanpolitik die Bildung eines multinationalen, multikonfessionellen bosnischen Staates ultimativ betrieben. Dabei hatte man doch gerade tatkräftig dabei geholfen, den multinationalen, multikonfessionellen jugoslawischen Staat aufzulösen.
  • Und dann ist da der Kosovo-Konflikt. Alle westlichen Staaten unterstützten zunächst die Autonomie der Krisenprovinz innerhalb Jugoslawiens und gerade nicht die Abtrennung von Belgrad. Das war 1999. Bekräftigt wurde damals der Grundsatz territorialer Integrität. Im Frühjahr 2008 schlug das Pendel wieder um. Die Unabhängigkeit des Kosovo wurde anerkannt. Der Westen betonte nun das Recht auf Selbstbestimmung.
  • Den nächsten Schwenk vollzogen dieselben Staaten sechs Monate später. Jetzt stehen sie erneut hinter dem Prinzip der territorialen Unversehrtheit – diesmal auf Seiten Georgiens und gegen die abgefallenen Provinzen Abchasien und Süd-Ossetien.
Die aus den Balkan-Wirren der neunziger Jahre zu ziehende Lehre lautet daher: Als Leitbild zur Bewältigung von Minoritätenproblemen taugt der homogene Nationalstaat westlicher Prägung kaum. Wo er historisch nicht entstanden ist, lässt er sich nachträglich auch nicht schaffen, ohne dass ganze Bevölkerungsgruppen aus ihren angestammten Lebensgebieten verwiesen werden müssten. Alle Bürger gleicher Nationalität unter dasselbe Staatsdach – der Kampfruf von Serben wie Kroaten am Anfang der jugoslawischen Vertreibungskriege – hat sich als blutige Chimäre erwiesen. Erzwungene Grenzänderungen bringen nur andere Konglomerate mit anders gemischten Ethnien hervor, nicht aber per se überzeugendere Lösungen. Deshalb stellt die gerechte und friedliche Integration nationaler Minderheiten in ihre Gesellschaften die große zivilisatorische Leistung dar. Sie verlangt den Osteuropäern erheblich mehr ab als den Westeuropäern. Gleichwohl ist eine solche Integrationsleistung unabdingbar für Frieden und Sicherheit in ganz Europa.

Das Land mit der jüngsten und reichsten Erfahrung eines sich auflösenden Vielvölkergebildes ist Russland. Als der Moskauer Staat 1991 von der Sowjetunion zur Russischen Föderation schrumpfte, blieb ein Sechstel der russischen Bevölkerung außerhalb der neuen Landesgrenzen: rund 25 Millionen Menschen. Eine annähernd gleich große Zahl russischer Staatsbürger waren Nichtrussen. Dennoch vollzog sich der Vorgang unter weit weniger brutalen Begleitumständen als in Jugoslawien – mit der Ausnahme Tschetscheniens. Aufs Ganze gesehen hat Moskau den Zerfallsprozess bemerkenswert umsichtig gemeistert. Aber er hinterließ die seit fast zwei Jahrzehnten „eingefrorenen“ Sezessionskonflikte südlich des Kaukasus. Keiner davon ist lösbar ohne, geschweige denn gegen Russland. Der ossetische Handstreich Georgiens war der übermütige Versuch, das Gegenteil zu beweisen.

Ebenso unbedacht wirkt die reflexhafte Anerkennung Abchasiens und Südossetiens durch Moskau. Für die Eigenstaatlichkeit sind die Gebiete viel zu klein. Sie erwartet eine Zukunft am Tropf Russlands und ein Maß an politischer Souveränität, das vergleichbar ist mit der Republik Nordzypern. Sollten die Auguren Recht behalten, die in der Kaukasus-Krise den Vorboten eines neuen Kalten Krieges sehen, fehlt es auch in Europa nicht an weiteren Schauplätzen. Außer Georgien hat die NATO der Ukraine die künftige Aufnahme zugesagt. Nicht weniger als 75 Prozent der Bevölkerung stehen Ministerpräsidentin Timoschenko zufolge einem NATO-Beitritt ausgesprochen feindselig gegenüber. Hier wäre ein aufbrechender Nationalitätenkonflikt von ganz anderem Kaliber. Auf der Krim-Halbinsel, mehrheitlich von Russen bewohnt, liegt der Heimathafen der russischen Schwarzmeerflotte. Unweit davon veranstalten ukrainische und amerikanische Marineverbände regelmäßig gemeinsame Flottenmanöver. Wer Anlässe zum erweiterten Kräftemessen sucht, wird sie finden.

Quelle: NDR, Streitkräfte und Strategien; 4. Oktober 2008; www.ndrinfo.de


Zurück zur Kaukasus-Seite

Zur Georgien-Seite

Zur Völkerrechts-Seite

Zurück zur Homepage