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Russland beargwöhnt "Hilfe" für Georgien

EU-Spitze verhandelt in Moskau wegen Kaukasuskrise *

Russland hat vor dem Krisengipfel mit der Europäischen Union an diesem Montag in Moskau erneut vor Druck aus dem Westen in der Kaukasuskrise gewarnt. Die russische Seite wolle keine Konfrontation, sondern eine gleichberechtigte Partnerschaft, sagte Präsident Dmitri Medwedjew der Agentur Interfax zufolge.

In Moskau wollen EU-Ratspräsident Nicolas Sarkozy, Kommissionspräsident José Manuel Barroso und Brüssels Chefdiplomat Javier Solana am Montag (8. Sept.) auf einen Rückzug russischer Soldaten aus Georgien dringen. Dieser Teil eines von Sarkozy mit Russland und Georgien vereinbarten Sechs-Punkte-Plans zum Waffenstillstand ist aus EU-Sicht bislang nicht erfüllt.

Im französischen Avignon forderten die EU-Außenminister Russland am Sonnabend (6. Sept.) zum Truppenabzug aus »Kern-Georgien« auf. Die Minister gaben auch eine internationale Untersuchung in Auftrag, um zu klären, wer schuld am Ausbruch des militärischen Konflikts zwischen Georgien und Russland war. Die Außenminister stimmten grundsätzlich der Entsendung einer »autonomen EUBeobachtermission « nach Georgien zu.

Moskau hatte mehrfach die Bereitschaft betont, die russischen Soldaten aus den »Pufferzonen« um Abchasien und Südossetien abzuziehen. Bedingung sei ein Ersatz durch internationale Militärbeobachter. Laut Angaben aus Moskau sind in Georgien noch etwa 500 russische Soldaten im Einsatz. Diplomaten zufolge will die EU 100 bis 200 Beobachter entsenden.

Russlands Regierungschef Wladimir Putin warnte am Sonnabend (6. Sept.) vor Sanktionen gegen sein Land. Europa könne ohne die Ressourcen aus Russland nicht mehr oder nur schwer auskommen, sagte Putin in einem Interview des Fernsehsenders »Rossija«. Auch die Internationale Raumstation ISS könne ohne russische Trägerraketen nicht funktionieren.

Präsident Medwedjew betonte erneut, dass Georgien den Krieg im Südkaukasus angefangen habe. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier hatte gesagt, es sei »schon wichtig, wer mit welchen Ursachenanteilen an der Eskalation bis hin zur bewaffneten Auseinandersetzung beteiligt war«. Die von Steinmeier angeregte Untersuchung der Verantwortung für den Ausbruch des Konflikts soll bei der OSZE in Auftrag gegeben werden, weil diese wegen ihrer Beobachter im Lande bereits über umfangreiche Informationen verfüge.

Medwedjew warf den USA vor, Waffen an Georgien unter dem Deckmantel humanitärer Hilfe zu liefern. Nach der Ankunft eines US-amerikanischen Kriegsschiffs in der georgischen Hafenstadt Poti haben die russischen Streitkräfte ihre Militärpräsenz dort deutlich ausgeweitet. Die zwei russischen Kontrollpunkte in der Stadt seien mit weiteren Soldaten verstärkt worden, teilte die Regierung in Tbilissi mit. Die »Mount Whitney«, das Flaggschiff der US-Marine im Mittelmeer, war am Freitag in Poti vor Anker gegangenen, um nach offiziellen Angaben Hilfsgüter zu liefern.

»Wir verstehen hier auch nicht, warum ein so riesiges Kriegsschiff nur 17 Tonnen Hilfsgüter an Bord haben sollte«, sagte ein Augenzeuge – Mitglied einer regierungsunabhängigen Organisation – in Poti. Nach georgischen Angaben hat das Schiff 4000 Decken, Saft und Trockenmilch sowie Hygieneartikel geladen. Die »Mount Whitney« ist das dritte US-Kriegsschiff mit Hilfstransporten für Georgien. Um eine mögliche Konfrontation mit der russischen Armee zu vermeiden, hatten die USSchiffe zuvor die weiter südlich gelegene georgische Hafenstadt Batumi angesteuert.

Russland vermutet, dass sich Georgiens Präsident Michail Saakaschwili die von Moskau als unabhängig anerkannten Regionen Abchasien und Südossetien mit Gewalt zurückholen will. Das in die NATO strebende Georgien erhielt in den vergangenen Jahren in großem Umfang Militärhilfe aus dem Westen. Am heutigen Montag wird in Tbilissi eine Delegation der NATO erwartet, die Schäden an der militärischen Infrastruktur im Gefolge des fünftägigen Krieges bewerten will.

Die EU erwägt derweil eine Aufhebung ihrer Sanktionen gegen Belarus. Auf Initiative Polens diskutierten die EU-Außenminister in Avignon über einen solchen Schritt, berichtete ein Berater des polnischen Außenministers Radoslaw Sikorski. Zuvor hatten auch die USA dem bisher verteufelten belarussischen Staatschef Alexander Lukaschenko bessere Beziehungen in Aussicht gestellt. Der Zusammenhang der westlichen Lockungen mit der Kaukasuskrise ist offensichtlich: Während Moskau die Regierung in Minsk drängt, Abchasien und Südossetien anzuerkennen, wollen EU und USA Lukaschenko durch die Aufhebung von Sanktionen bewegen, eben darauf zu verzichten. Die EU-Sanktionen umfassen unter anderem Einreiseverbote gegen führende belarussische Politiker. Eine Grundsatzeinigung über deren Aufhebung ist frühestens beim nächsten EU-Außenministertreffen am 15. September in Brüssel zu erwarten.

* Aus: Neues Deutschland, 8. September 2008


"Die NATO betreibt eine Kamikaze-Politik"

Lage im Kaukaus bleibt hochgefährlich. Georgien-Konflikt war Stellvertreterkrieg. Ein Gespräch mit Wolfgang Gehrcke **

Sie waren gerade mit einer Delegation des Auswärtigen Ausschusses in Kiew und Moskau, Hauptthema war der Kaukasus-Konflikt. Am Montag wird Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy in Moskau erwartet. Haben Sie Signale bekommen, wie die russische Führung auf seinen Vermittlungsversuch reagiert?

Wir haben in Moskau Gespräche mit dem Außenministerium, mit Parlaments­ausschüssen und mit Experten russischer »Denkfabriken« geführt. Immer wieder wurde uns gesagt, daß der georgische Angriff auf Südossetien für Rußland vergleichbar ist mit der Auswirkung der Attentate vom 11. September 2001 auf die USA. Es gibt einen tiefen Schock, ich habe in all meinen Gesprächen den Eindruck gewonnen, daß Rußland sich nicht weiter demütigen lassen will. Es wird auch die diplomatische Anerkennung von Abchasien und Südossetien nicht rückgängig machen.

Die meisten politischen Beobachter sind sich einig, daß Georgien den Überfall auf Südossetien nicht ohne Rückendeckung der USA gewagt hätte. Will die Rechte in den USA die Lage bewußt anheizen, vielleicht mit Blick auf den Wahlkampf?

Das ist sicherlich ein Motiv. Es ist völlig unglaubwürdig, wenn behauptet wird, daß die 167 Militärberater der USA in Georgien nichts von den Kriegsvorbereitungen bemerkt hätten. Wenn man so will, war der Georgien-Konflikt bereits ein Stellvertreterkrieg – ein Krieg zwischen der NATO und Rußland.

Für die Nato ist das Georgien-Abenteuer angesichts der energischen Reaktion der Russen erst einmal gelaufen. Konzentriert sie sich jetzt auf die Ukraine?

Ich bin selten von einer Auslandsreise so bedrückt und sorgenvoll zurückgekommen wie von dieser. Es konzentriert sich in der Tat jetzt alles auf die Ukraine. Das hat strategische Hintergründe: Durch dieses Land laufen die Öl- und Gaspipelines Richtung Westen. Und auf der zur Ukraine gehörenden Krim ist die russische Schwarzmeerflotte stationiert – vertraglich abgesichert bis 2017. Das alles ist brisant, denn die Russen werden nicht hinnehmen, daß die Ukraine Mitglied der NATO wird – ebenso wenig, wie sie es für Georgien akzeptieren.

Das sieht nach Krieg aus.

Das ist meine tiefe Sorge, deswegen muß man alles tun, um den Konflikt zu entschärfen. Die NATO betreibt zur Zeit eine Kamikazepolitik. Über 60 Prozent der ukrainischen Bevölkerung sind gegen eine NATO-Mitgliedschaft. Deswegen geht das Bündnis jetzt scheibchenweise vor. Man wird versuchen, im Dezember im NATO-Rat für Georgien und die Ukraine einen »Heranführungsplan« zu vereinbaren, die Vorstufe für die Vollmitgliedschaft. In der Ukraine muß es zwar laut Gesetz dazu ein Referendum geben– aber bis dahin will man offenbar vollendete Tatsachen schaffen.

Der Vizepräsident der USA, Dick Cheney, war kurz vor Ihrem Besuch in osteuropäischen Hauptstädten. Kann man absehen, was seine Gespräche bewirkt haben?

Cheney war es, der Georgiens Präsidenten Michail Saakaschwili zu diesem Krieg animiert hat, er will jetzt auch in der Ukraine die Lunte legen. Um zu verstehen, warum sich die USA so massiv im Kaukasus einmischen, braucht man nur einen Blick auf die Landkarte zu werfen, auf Zentralasien und die großen Öl- und Gasvorkommen. Der Ölmagnat Cheney war in eigener geschäftlicher und in militärischer Mission unterwegs.

Welche Antwort aus Rußland ist angesichts solcher Provokationen denkbar?

Es war für jeden klar, daß nach der Herauslösung des Kosovo aus Serbien eine Gegenreaktion kommen wird. Und die wird es von russischer Seite aus in verschiedenen Teilen der Welt geben.

Vielleicht schon mit den gerade gemeinsam mit Venezuela vereinbarten Seemanövern in der Karibik – immerhin haben US-Kriegsschiffe unter den Augen der russischen Streitkräfte georgische Häfen angelaufen. Wie haben das Ihre Gesprächsspartner in Moskau bewertet?

Als Provokation und Demütigung, die USA wollen die Lage zuspitzen. Bis vor drei Wochen bin ich noch davon ausgegangen, daß Deutschland eine kluge und ausbalancierende Politik betreibt. Davon aber rückt die Bundesregierung immer mehr ab – sie gehört zwar nicht unbedingt zu den Scharfmachern, sie hält aber auch nicht dagegen.

Interview: Peter Wolter

** Wolfgang Gehrcke ist Obmann der Linksfraktion im Auswärtigen Ausschuß des Bundestages und Mitglied des Parteivorstandes der Partei Die Linke

Aus: junge Welt, 8. September 2008



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