Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Der Weg in die Knechtschaft

Hintergrund: Lettland, einst neoliberaler Musterstaat, befindet sich in einer tiefen ökonomischen Krise. Das schuldenbasierte Entwicklungsmodell hat die baltische Republik ruiniert

Von Andreas Wehr *

Freunde deutscher Nobelkarossen konnten sich freuen. In Lettland, Estland und Litauen fanden sie das, was ihr Herz höher schlagen läßt. In den Straßen Tallinns, Rigas oder Vilnius’ reihten sich Stoßstange an Stoßstange Mercedes’, Audis, Porsches und BMW, und all das von der teuersten und edelsten Sorte. Und wie gut paßten doch diese Prunkstücke zu den sorgfältig restaurierten Fassaden der alten Bürgerhäuser, deren hanseatischer Flair alten und neuen Wohlstand demonstrierte. Auch die Preise der Immobilien paßten zu denen der Nobelkarossen. Bis zu 6500 Euro wurden in den Innenstädten pro Quadratmeter verlangt. Hoch waren die Preise auch in den edlen Boutiquen, feinen Cafés und vornehmen Restaurants, in denen man junge Leute, gekleidet in der allerneuesten Mode, traf, denen es offensichtlich blendend ging. Und da waren die riesigen Supermärkte, so groß wie sonst nur in den USA. Sie boten all das, was man aus Paris, Wien oder Frankfurt gewohnt war. Wer konnte angesichts dieser Tatsachen noch daran zweifeln, daß es den sagenhaften Aufstieg der baltischen Tigerstaaten wirklich gab, daß hier eine Erfolgsgeschichte der Europäischen Union geschrieben wurde.

Doch dies war nur die eine, blendende Seite des Baltikums, und nur die bekam der Wochenendtourist in der Regel zu sehen. Ließ man aber einmal die herausgeputzten Innenstädte hinter sich, bot sich ein ganz anderes Bild. Man durchquerte riesige Plattenbausiedlungen, die seit dem Ende der Sowjetunion nicht einen neuen Anstrich gesehen haben, passierte stillgelegte Fabriken, deren zerfallene Fassaden mit gigantischen Reklameschildern verdeckt sind. Ging es weiter in das flache Land hinein, so wurde das Bild noch trostloser: Aufgelassene Kolchosen, Nebenstraßen, auf denen Gras wächst, und überall verlassenes Land, das sich die Natur langsam zurückerobert. Man hätte es längst wissen können, hätte man sich dafür nur interessiert: Um die baltischen Staaten stand und steht es überhaupt nicht gut. In Litauen liegen seit Jahren ganze Landstriche brach, in denen keine Agrarwirtschaft mehr betrieben wird. In Lettland und in Estland leiden die diskriminierten russischsprachigen Minderheiten unter Arbeits- und Perspektivlosigkeit, sind in ihren öden Neubausiedlungen Alkohol- und Rauschgiftsucht sowie Prostitution verbreitet. Wer weiß schon, daß aus diesem Grund ausgerechnet der neoliberale Musterstaat Estland das Land mit der höchsten AIDS-Rate nördlich der Sahara ist? Und wer hat zur Kenntnis nehmen wollen, daß seit dem Beitritt der baltischen Länder zur EU 2004 immer mehr, meist gut ausgebildete junge Menschen ihre Heimatländer verlassen haben und ihr Glück in Westeuropa, vor allem in Großbritannien und Irland, suchen?

Wachstum auf Pump

Das alles konnte nicht gut gehen. Und es ging nicht gut. Bereits die ersten Schockwellen der weltweiten Finanzkrise, ausgelöst vom Zusammenbruch des Bankhauses Lehman Brothers im September 2008, ließen die baltischen Wirtschaften einem Kartenhaus gleich zusammenfallen. Die kleinen Tiger an der Ostsee erwiesen sich als Papiertiger, genauer als Papiergeldtiger. Nirgendwo sonst in der EU ging es so schnell und so steil nach unten. Dabei hatte es doch lange so gut ausgesehen: Litauen verzeichnete 2006 ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 7,8, Estland von 10,0 und Lettland gar von 12,2 Prozent. Auch 2007 sah die Welt noch freundlich aus. Der litauische Zuwachs betrug 8,9, der Lettlands 10,0 und Estlands 7,2 Prozent. Aber 2008 drehte sich der Wind: Nur in Litauen gab es noch ein kleines Plus von drei Prozent, in Estland schrumpfte hingegen das BIP um 3,6 Prozent, und Lettland verzeichnete einen Rückgang um 4,6 Prozent. Ganz arg wurde es 2009: Estland meldete einen Verlust von 14, Lettland von 18 und Litauen von 18,5 Prozent. Auch für 2010 wird der Rückgang anhalten. Während andere Länder der Region wie Tschechien, Polen und Rumänien bereits wieder moderate Wachstumsraten erwarten, rechnet der Internationale Währungsfonds (IWF) in diesem Jahr für Estland mit einem weiteren Verlust von 2,6 und für Litauen und Lettland sogar von jeweils vier Prozent.[1]

Weshalb dieser tiefe Einbruch? Welches Entwicklungsmodell ist hier in die Krise geraten? Nehmen wir Lettland als Beispiel, dessen ökonomischer Zusammenbruch umfassender ist als derjenige der Vereinigten Staaten während der Großen Depression. Den Weg des baltischen Landes bezeichnen die beiden US-amerikanischen Ökonomen Michael Hudson und Jeff Sommers als »Weg in die Knechtschaft«: »Sein Schicksal ist so typisch für die postsowjetischen Ökonomien, nur etwas extremer. (…) Es waren die westlichen Neoliberalen, die diese Ökonomien zugrunde finanzierten (financialized, Hudson/Sommers), unter dem lauten Applaus der Weltbank, Wa­shingtons und Brüssels.«[2] Und Zsolt Darvas vom belgischen Bruegel-Institut schrieb: »Die drei baltischen Länder sind mit der tiefsten Rezes­sion unter allen Ländern dieser Welt konfrontiert, und es ist nicht das Versagen der Politiker und der Völker dieser Länder, daß sie in dieser Lage sind.«[3]

Was waren die Stationen auf dem Weg in diese Knechtschaft? Das bei der Unabhängigkeit Lettlands 1991 vorgefundene Vermögen wurde nahezu restlos privatisiert, unter westlichen Investoren und neuen einheimischen Oligarchen aufgeteilt und anschließend hoch beliehen. Die Kredite wurden meist bei Auslandsbanken in Fremdwährungen aufgenommen. Für Lettland beträgt der Anteil dieser Fremdwährungskredite in Euro, Schweizer Franken, Britischen Pfund oder Schwedischen Kronen nicht weniger als 86,3 Prozent aller Kredite.[4] Im Jahr 2007 betrugen die Schulden Lettlands gegenüber Auslandsbanken rund 130 Prozent des Bruttoinlandsprodukts! Kreditgeber waren vor allem skandinavische Banken. »Allein die skandinavischen Großbanken SEB, Nordea und Swedbank verliehen nach Berechnungen der schwedischen Finanzaufsicht rund 490 Milliarden Kronen ins Baltikum.« (FAZ vom 9.9.2009) Aber wie überall in den jetzt hoch verschuldeten Ländern der europäischen Peripherie sind auch die Geldhäuser aus Deutschland unter den Gläubigern. Die Forderungen der deutschen Banken betragen 4,7 Milliarden Euro.

Kommunizierende Röhren

Lettland war das klassische Modell eines schuldenbasierten Entwicklungswegs, das diesen Ländern vom Internationalen Währungsfonds, der EU-Kommission und der Europäischen Zentralbank (EZB) zugedacht worden war. Dieser Entwicklungsweg besteht tatsächlich aus einem ganz simplen System kommunizierender Röhren. Es funktioniert wie folgt: Die hochentwickelten kerneuropäischen Länder, mit dem Exportweltmeister Deutschland an der Spitze, nehmen für ihre Exporterlöse viel Geld ein. Dieses Geld verleihen sie zu günstigen Zinsen vornehmlich an Kreditnehmer in den wirtschaftlich schwächeren europäischen Ländern der EU-Peripherie. Dieses Geld wurde aber nicht in die Modernisierung von Industrie und Landwirtschaft oder in die Erneuerung der maroden Infrastruktur gesteckt. Zu 80 Prozent flossen die privaten Kredite in den Hausbau und heizten damit den Immobilienboom an (FAZ vom 9.9.2009). Viel Geld wurde auch für all die schönen Güter und Dienstleistungen aus Deutschland und anderswo ausgegeben. Den Leistungsbilanzüberschüssen Kerneuropas standen natürlich hohe Leistungsbilanzdefizite der europäischen Peripherie gegenüber. In den baltischen Staaten erreichten diese Defizite seit ihrem Beitritt zur EU im Jahr 2004 immer neue Rekordmarken. An der Spitze stand auch hier Lettland. Sein Leistungsbilanzdefizit kletterte von 11,8 im Jahr 2004, über 11,2 in 2005 auf 21,1 in 2006 und erreichte schließlich 2007 den in Europa höchsten Wert von 24,3 Prozent. Für die Europäische Kommission und die Europäische Zentralbank (EZB) war dies allerdings kaum der Rede wert. So befand etwa die EZB in ihrem Jahresbericht 2007: »In vielen Staaten, die der EU am 1. Mai 2004 bzw. am 1. Januar 2007 beigetreten waren, sind Defizite – soweit sie günstige Anlagemöglichkeiten und eine intertemporale Konsumglättung widerspiegeln – bis zu einem gewissen Grad kennzeichnend für den Aufholprozeß.«[5] Für die EZB-Banker in Frankfurt war 2007 also noch alles in bester Ordnung.

Die im Ausland aufgenommenen Kredite wurden aber nicht nur unproduktiv angelegt. Sie entzogen dem Land sogar wichtige Mittel. Für ihre Sicherung dienten Land, Immobilien und privatisierte Infrastruktur. Damit nun die Zinsen auf die Kredite gezahlt werden konnten, verzichtete man fast ganz auf die Besteuerung dieser Werte. Die Erträge aus Land, Immobilien und privatisierter Infrastruktur gingen nicht in den inländischen Wirtschaftskreislauf, sondern an ausländische Kreditgeber. Da man von einer progressiven Besteuerung größerer Vermögen nichts wissen wollte, sich statt dessen eine niedrige Flattax von nur 25 Prozent bei der Einkommenssteuer und einen einheitlichen Unternehmenssteuersatz von lediglich 15 Prozent leistete, legte sich so die ganze Steuerlast auf Arbeit und Landwirtschaft. Das wenige, was von dort an den Staat noch abgeführt wurde, reichte aber weder für die Förderung der industriellen und landwirtschaftlichen Entwicklung noch für den Erhalt oder gar Ausbau staatlicher Infrastruktur.

Dieses »Entwicklungsmodell« ist spätestens mit Beginn der Krise im Herbst 2008 gescheitert. Die ausländischen Kreditquellen versiegten schlagartig. Die Immobilienblase platzte und riß Anleger wie Spekulanten in die Insolvenz. Die Preise für Häuser und Wohnungen fielen um 50 Prozent. Das zweitgrößte lettische Kreditinstitut, die Parex Bank, mußte verstaatlicht werden, um sie vor dem Untergang zu retten. Viele der schönen Mercedes’, BMW, Porsches und Audis wurden von Gerichtsvollziehern eingesammelt und warten nun, meist vergeblich, auf neue Besitzer. Die Einzelhandelsumsätze gingen um 30 Prozent zurück. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) meldete: »Als klinisch tot hat die Wirtschaft seines Landes gar der Präsident der lettischen Notenbank, Ilmers Rimsevics, bezeichnet.« (FAZ vom 9.9.2009)

Nirgendwo sonst in der EU stieg die Rate der Arbeitslosigkeit so rasch und so stark wie in Lettland. Zwischen dem zweiten Quartal 2008 und 2009 verdoppelte sie sich von 9,1 auf 20,9 Prozent. Die Jugendarbeitslosigkeit betrug im dritten Quartal 2009 33,6 Prozent und wurde nur noch von der Spaniens übertroffen.[6] Angesichts dieser desaströsen Lage auf dem Arbeitsmarkt haben inzwischen Zehntausende weitere Letten ihr Land verlassen. Und viele weitere bereiten sich darauf vor: Die Sprachkurse für Englisch, aber auch für Russisch sind überfüllt. Man vermutet, daß bereits gut 200000 der 2,3 Millionen Einwohner des Landes im Ausland leben und arbeiten. Wie in einem Entwicklungsland stellen die Überweisungen dieser Arbeitsimmigranten inzwischen eine der wichtigen Finanzquellen des Landes dar. Zum Bild des Niedergangs gehört auch der drastische Geburtenrückgang.

Mit dem Zusammenbruch seiner Wirtschaft verlor Lettland auf einen Schlag jeden Zugang zu den internationalen Finanzmärkten. Im Unterschied zu Griechenland, das noch im Januar 2010 ohne Probleme eine Staatsanleihe von acht Milliarden Euro plazieren konnte, gelang dies Lettland 2009 nicht mehr. Für 2010 hofft man nun, zumindest 2,7 Milliarden Euro aufnehmen zu können, geplant waren allerdings mal vier Milliarden. Die Zahlungsfähigkeit Lettlands wird heute durch Hilfen des IWF und der EU aufrechterhalten. Als Bittsteller des IWF findet sich das EU-Land dabei in einer Reihe mit der Republik Kongo, Afghanistan, Costa Rica, Ghana, Georgien und Haiti. Die IWF-Hilfe für Lettland beläuft sich auf insgesamt 1,7 Milliarden Euro. Mehr als zwei Milliarden Euro brachte eine Ländergruppe, bestehend aus skandinavischen Staaten, Polen und der Tschechischen Republik, auf. Hinzu kommen 3,1 Milliarden Euro von der Europäischen Kommission. So kam ein Hilfspaket von insgesamt 7,5 Milliarden Euro zusammen. Anders als für die Länder der Euro-Zone gibt es bei Hilfen für die Nicht-Euro-Länder der EU kein Verbot eines Bail-outs, eines Heraushauens.[7] Für solche Hilfen bei Zahlungsbilanzschwierigkeiten eines Mitgliedslandes steht der EU-Kommission ein Fonds von insgesamt 50 Milliarden Euro zur Verfügung. Neben Lettland erhielten 2009 auch Rumänien (fünf Milliarden Euro) und Ungarn (6,5 Milliarden Euro) Kredite aus diesem Brüsseler Topf.

Verarmungspolitik

Die Lettland für diese Hilfen gestellten Bedingungen können nur drakonisch genannt werden. Bereits zu Beginn des Jahres 2009 wurden drastische Haushaltskürzungen verlangt. So wurden die Gehälter im öffentlichen Dienst um 15 Prozent abgesenkt. Am 13. Januar 2009 kam es aus Protest dagegen zur größten Demonstration seit der 1991 wieder errungenen Unabhängigkeit Lettlands. 10000 wütende Menschen gingen auf die Straße. Einige von ihnen drangen sogar in das Parlament ein. Die Regierung hatte daraufhin zu gehen. Mit Valdis Dombrovskis kam ein neuer Ministerpräsident. Der setzte die Kahlschlagpolitik seines Vorgängers fort. Jetzt wurde deutlich, daß die finanz-, wirtschafts- und sozialpolitische Souveränität des Landes auf die Gläubiger in Brüssel und in Washington übergegangen war. Und von dort wird diktiert, was in Riga zu geschehen hat. Und pariert man einmal nicht wie gewünscht, so wird kurzerhand die Auszahlung einer Tranche der Notkredite gestoppt. So geschehen im Juni 2009 als 200 Millionen Euro zurückgehalten wurden, da der Kürzungseifer der Parlamentarier nachzulassen drohte. Erst als die bereits im Januar reduzierten Gehälter im öffentlichen Dienst um weitere 20 Prozent abgesenkt, die Mehrwertsteuer von 18 auf 21 angehoben, die ohnehin ärmlichen Renten um zehn Prozent gekürzt und weitere drastische Streichungen im Bildungs- und Gesundheitsbereich verkündet worden waren, zeigten sich Europäische Kommission und IWF gnädig und zahlten den Betrag aus. Was diese Maßnahmen etwa für den Gesundheitsbereich konkret bedeuten, wird aus folgender Meldung deutlich: »Aus Protest gegen die geplanten Sparmaßnahmen im Haushalt des Gesundheitsministeriums, die möglicherweise zur Schließung der Hälfte der Krankenhäuser des Landes führen, trat der Gesundheitsminister Ivars Eglitis wenige Stunden nach der Parlaments­entscheidung zurück.« (FAZ vom 18.6.2009) Auch in der Privatwirtschaft wurden die Löhne zusammengestrichen. Lohnkürzungen von bis zu 50 Prozent waren dabei keine Seltenheit. All dies geschah und geschieht angesichts eines Lohnniveaus von durchschnittlich umgerechnet 961 Dollar im Monat, wobei das Preisniveau nur wenig niedriger als in Westeuropa liegt. Die Regierung beförderte diese Verarmungspolitik indem sie die Mindestlohngrenze von 180 auf 140 Lat absenkte.[8]

Man kann am Fall Lettland sehr gut studieren, was passiert, wenn sich ein in Zahlungsschwierigkeiten geratenes Land an den IWF und an die Europäische Kommission wenden muß. Ganz ähnlich würde es zugehen, würde man dem jetzt vorgeschlagenen Europäischen Währungsfonds die Sanierung in die Hand geben. Diejenigen, die heute mal so eben die Forderung nach einem Bail-out Griechenlands durch die EU oder einzelne Mitgliedsstaaten fordern, sollten bedenken, daß der dafür zu zahlende Preis sehr hoch ist.

In der Euro-Falle

Der Preis, den Lettland für die Hilfen aus Brüssel zu zahlen hat, besteht auch aus politischen Bedingungen. Die Währung des Landes ist seit 2005 fest mit dem Euro verbunden. Neben Lettland verfahren auch Dänemark, Bulgarien, Estland und Litauen so. Für Bulgarien und die baltischen Staaten ist mit dieser Anbindung die Hoffnung verbunden, möglichst bald Mitglied der Euro-Zone werden zu können. So bereitet sich Estland auf seinen Beitritt zum 1. Januar 2011 vor. Tatsächlich aber bräuchten die jetzt so tief gestürzten baltischen Tiger nichts dringlicher als eine drastische Abwertung ihrer Währungen. Nur auf diese Weise könnten ihre Produkte konkurrenzfähiger werden. Polen, Tschechien und Ungarn haben aus diesem Grund 2009 ihre Währungen drastisch abgewertet und fahren gut damit. Der IWF hatte eine solche Maßnahme auch für Lettland empfohlen. Dem widersetzte sich aber die Europäische Kommission vehement aus politischen Gründen, da man in Brüssel fürchtet, daß dann auch in anderen Ländern die Bereitschaft, der Euro-Zone beitreten zu wollen, schnell nachlassen könnte.[9] Daneben gab es aber noch einen ganz triftigen Grund, weshalb die EU so entschieden gegen eine Abwertung ist. Ein abgewerteter Lat bedeutet, daß sich die in Fremdwährungen aufgenommenen Kredite drastisch verteuern. Ihre Rückzahlung wäre für viele lettische Unternehmen und Privatpersonen dann nicht mehr möglich. Die ausländischen Gläubiger würden viel Geld verlieren. So stemmten sich denn vor allem die skandinavischen Banken und mit ihnen ihre Regierungen gegen eine Aufgabe der Bindung des Lat an den Euro. Da paßte es gut, daß in der zweiten Hälfte 2009 gerade Schweden die Ratspräsidentschaft in der Union innehatte. So konnte der smarte schwedische Finanzminister Anders Borg die Bankinteressen seines Landes auch im Namen der EU vertreten. Und deren Interessen waren ihm gut vertraut, war Borg doch selbst zwischen 1998 bis 2001 erst für die ABN Amro Bank und dann für die schwedische ESB Bank tätig.

An Stelle der Aufgabe der Bindung des Lat an den Euro und seiner dann möglichen Abwertung empfiehlt die Europäische Kommission eine interne Abwertung. Die internationale Konkurrenzfähigkeit des Landes soll über ein Absenken der Löhne und der Preise wiederhergestellt werden. Auch Griechenland wird dieser Weg empfohlen. Diese Methode gleicht aber dem berühmten Herausziehen aus dem Sumpf am eigenen Schopfe. Im Ergebnis wird die sich ausbreitende Depression nur weiter vertieft, denn ein weiteres Absenken der Nachfrage führt unweigerlich zu weiteren Insolvenzen und beschleunigt damit den Abwärtstrend der lettischen Wirtschaft. Der Weg Lettlands gleicht heute dem Argentiniens zwischen 1999 und 2002. Auch damals war es die feste Bindung der Landeswährung an eine Fremdwährung, an den Dollar, die ein Land in den Staatsbankrott trieb.

Um einem solchen Bankrott zu entgehen, muß Lettland eine Wende vollziehen. Die feste Anbindung des Lat an den Euro ist aufzugeben und die Währung abzuwerten. Die ausländischen Gläubiger der lettischen Unternehmen und Privatpersonen müssen sich zu großzügigen Umschuldungen und zu Zinsverzicht bereit erklären. Verweigern sie sich dem, so werden sie zahlreiche Totalverluste erleiden. Das völlig irreale Ziel der Europäischen Kommission, das Haushaltsdefizit des Landes auf den Maastricht-Schwellenwert von drei Prozent bis 2011 drücken zu wollen, muß aufgegeben werden. Daß damit auch die Einführung des Euro in weite Ferne rückt, ist kein Schaden. Wichtiger ist es, daß das Land sehr viel mehr Zeit für einen Schuldenabbau bekommt. Diese jetzt dringend notwendigen Schritte können die ersten auf dem Weg aus der Knechtschaft des Landes sein.

Fußnoten
  1. Vgl. Klaus Dräger/Andreas Wehr, »Die EU und die Krise: Die ewige Wiederkehr des Gleichen«, in: Jürgen Klute (Hrsg.) Jeder gegen Jeden? Die EU und die Krise, Supplement der Zeitschrift Sozialismus 1/2010, S. 34 ff.
  2. Michael Hudson and Jeff Sommers, »Latvia’s Road to Serfdom«, in: Counterpunch www.counterpunshorg/hudson02152010.html Der Titel des Aufsatzes ist natürlich eine ironische Reminiszenz an das berühmte Werk Friedrich August Hayeks »Der Weg in die Knechtschaft«
  3. Zitiert nach der Nachrichtenagentur Reuters, »Estonia test case for post-crisis euro zone expansion«, 14.12.2009
  4. Zsolt Darvas und Jean Pisani-Ferry: Avoiding a new European divide; Bruegel Policy Brief 2008/10, December 2008
  5. Europäische Zentralbank, Jahresbericht 2007, S. 93
  6. Vgl. die Meldung der Nachrichtenagentur eis: »EU jobless rate continues to rise«, 1.12.2009
  7. Die Rechtsgrundlage ist Artikel 143 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEU)
  8. Der Kurs zwischen Euro und Lat ist seit dem 1.1.2005 im Verhältnis 1 Euro gleich 0,702804 Lat festgelegt
  9. »The IMF thinks Latvia should devalue its currency. EU officials are determined that it should not, for fear of the wider effect on ex-communist countries that are trying to join the euro zone«, in: Ailing fast, Economist, 7.10.2009
* Andreas Wehr ist Mitarbeiter der Linksfraktion (GUE/NGL) im Europäischen Parlament und dort Koordinator im Ausschuß für Wirtschaft und Währung (ECON). Mehr Analysen unter: www.andreas-wehr.eu

Aus: junge Welt, 24. März 2010



Zurück zur Lettland-Seite

Zur EU-Europa-Seite

Zurück zur Homepage