Guido Westerwelle: "Wir wollen und dürfen nicht Kriegspartei in einem Bürgerkrieg in Nordafrika werden" - Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): "Da hat er recht!"
Regierungserklärung des Außenminister und anschließende Bundestags-Debatte über den "Umbruch in der Arabischen Welt" (Wortlaut)
Am 16. März 2011 debattierte der Bundestag über die deutsche Politik gegenüber dem arabischen Raum. Einen großen Stellenwert nahm dabei die Frage eines militärischen Eingreifens in Libyen ein. Die Debatte wurde eröffnet mit einer Regierungserklärung des Außenministers. Die Rednerinnen und Redner sptrachen in dieser Reihenfolge:
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister des Auswärtigen
Umbruch in der Arabischen Welt
Hierzu liegt ein
Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung
eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundesminister des Auswärtigen, Herr Dr. Guido
Westerwelle.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Auswärtigen:
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nordafrika und die arabische Welt erleben eine historische Zäsur. Die Freiheitsbewegung, die als Jasmin-Revolution auf den Straßen Tunesiens begann, hat viele andere Staaten erreicht. Als Demokraten stehen wir an der Seite von Demokraten. Wir Deutschen haben das Glück, eine friedliche Revolution im eigenen Land erlebt zu haben, die zur Einheit unseres Landes und zur Vereinigung Europas geführt hat. Unser Land ist auf den Werten der Freiheit gebaut. Es sind diese freiheitlichen Werte, nach denen jetzt Millionen Menschen im nördlichen Afrika und in der arabischen Welt verlangen. Wir werden diese Völker dabei als Bundesrepublik Deutschland unterstützen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Die Sehnsucht nach Freiheit ist nicht begrenzt auf eine Kultur, auf eine Region oder gar auf eine Religion. Es ist ein Irrglaube, es gebe Kulturen, in denen der Mensch auf Dauer unfrei sein müsse. Es gibt keine Kultur der Unfreiheit. Unfreiheit ist Ausdruck von Unkultur. Eine weitere Erkenntnis können wir aus dieser Entwicklung gewinnen: Nicht eine autokratische Regierung macht ein Land stabil, sondern eine stabile Gesellschaft ist die Voraussetzung für die Stabilität eines Landes. Wir wollen stabile Demokratien und demokratische Stabilität.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, in Marokko hat König Mohammed VI. vor wenigen Tagen eine Verfassungsreform eingeleitet, die viele Forderungen aus der Gesellschaft aufgreift. Das macht Mut, aber es werden die Taten zählen. Das Beispiel Marokko zeigt, wie eine Regierung den Weg zur Öffnung und zur Demokratisierung der Gesellschaft einschlagen kann.
Mit großer Sorge blicken wir nach Jemen, wo ein von breiten Schichten der Gesellschaft getragener Protest immer gewaltsamer niedergeschlagen wird. Bereits vor einem Jahr, bei meinem Besuch im Jemen, habe ich Präsident Salih eindringlich darauf hingewiesen, wie notwendig der friedliche gesellschaftliche Ausgleich für die Stabilität des Jemen ist. Heute müssen wir feststellen: Die Zeit wurde nicht genutzt, und die Lage im Jemen hat sich dramatisch verschlechtert.
Mit Sorge verfolgen wir auch die alarmierenden Nachrichten aus Bahrain. Wir rufen alle Beteiligten im Land selbst zum Dialog auf, und wir rufen die Länder in der Region zur Zurückhaltung auf. Die Eskalation der Gewalt muss ein Ende haben und einem ernsthaften Dialog, einem nationalen Dialog zwischen Regierung und Opposition Platz machen. Eine Lösung muss im Land selbst gefunden werden.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Im Iran geht die Führung in diesen Tagen erneut mit äußerster Härte gegen die Opposition vor. Die iranische Regierung will mit diesem Vorgehen Stärke demonstrieren, sie offenbart aber nur Schwäche.
(Beifall des Abg. Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP))
Wir fordern die iranische Führung auf, die Unterdrückung der Opposition unverzüglich zu beenden und dem iranischen Volk die ihm zustehenden Freiheitsrechte zu gewähren.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Die Sehnsucht nach Freiheit und Teilhabe, nach Würde und Gerechtigkeit wächst auch in vielen anderen Ländern des Mittleren Ostens von Tag zu Tag und bricht sich Bahn. Die Lage in der Region ist von Land zu Land verschieden. Deshalb brauchen wir maßgeschneiderte politische Antworten. Eines aber haben alle diese Aufbrüche gemeinsam: den unbedingten Willen zu Freiheit, zu Teilhabe und zu neuen Chancen.
Ich danke den Frauen und Männern der Bundeswehr, den Angehörigen des auswärtigen Dienstes und den vielen Hilfsorganisationen für ihre Leistung bei der Evakuierung deutscher Staatsangehöriger aus Libyen und für ihren Beitrag, zahlreiche ägyptische Flüchtlinge wieder in ihre Heimat zu ihren Familien zu bringen. Wenn alles gut gegangen ist, denkt man, dass es einfach war. Aber ich weiß, dass es alles andere als einfach war. Deswegen möchte ich vor diesem Hohen Hause - ich hoffe, in Ihrer aller Namen - diesen Dank ausdrücklich aussprechen.
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
In Libyen führt ein Diktator Krieg gegen das eigene Volk. Im Angesicht dieses Verbrechens ist sich die internationale Staatengemeinschaft einig: Der Diktator muss gehen. Mit seinen Taten stellt sich Oberst Gaddafi außerhalb der Völkergemeinschaft. Er hat jede Legitimation verwirkt. An dieser frühzeitig eingenommenen eindeutigen und entschiedenen Haltung der Bundesregierung ändern auch vergiftete Freundlichkeiten des Diktators nichts.
Wir haben mit unserer Forderung nach raschen Sanktionen breite Unterstützung im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und in der Europäischen Union erhalten. Die Auslandsvermögen der Herrscherfamilie wurden eingefroren. Reiseverbote sind in Kraft. Wir sind uns im Sicherheitsrat, in der Europäischen Union und auch unter den G-8-Staaten - das hat gestern das Treffen der Außenminister gezeigt - einig, dass der Diktator für diesen Feldzug gegen sein eigenes Volk zur Verantwortung gezogen werden muss. Das wird Aufgabe des Internationalen Strafgerichtshofs sein. Wir setzen uns in New York dafür ein, den politischen Druck weiter zu erhöhen, bis dieses Ziel erreicht ist. Wir werden im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen heute und in den kommenden Tagen das weitere Vorgehen abstimmen. Die Bundesregierung wirbt in New York nachdrücklich für noch umfassendere Wirtschafts- und Finanzsanktionen. Wir wollen die Geldflüsse in das System Gaddafi, soweit irgend möglich, stoppen. Wir wollen dem Regime die Grundlage seines Handelns und seines Krieges gegen das eigene Volk entziehen.
Die Bilder und die Nachrichten von vorrückenden Truppen Gaddafis, von blutiger Gewalt und von gefallenen Städten in Ostlibyen bedrücken uns. Aber die vermeintlich einfache Lösung einer Flugverbotszone wirft mehr Fragen und Probleme auf, als sie zu lösen verspricht. Die Flugverbotszone - darüber kann auch das Wort nicht hinwegtäuschen - ist eine militärische Intervention, bei der nicht einmal klar ist, dass sie in einem Land wie Libyen wirkungsvoll sein kann. Ich darf darauf aufmerksam machen, dass Libyen ein Land ist, das etwa viermal so groß ist wie die Bundesrepublik Deutschland.
Am Ende darf nicht genau das Gegenteil dessen stehen, was wir politisch erreichen wollen. Am Ende darf unser Handeln nicht zu mehr Gewalt - statt zu mehr Freiheit und zu Frieden - führen. Ein solches Ergebnis würde die demokratischen Bewegungen in ganz Nordafrika schwächen und nicht stärken. Jeder Schritt muss auch vor dem Hintergrund bewertet werden, welche Folgen er für die Staaten in Nordafrika hätte, die sich seit der Jasmin-Revolution in Richtung Demokratie, in Richtung von mehr Freiheit auf den Weg gemacht haben.
Die Folgen eines Militäreinsatzes würden nicht nur Libyen betreffen, sondern in die gesamte nordafrikanische Region und in die gesamte arabische Welt ausstrahlen. Wir verstehen, dass alle Möglichkeiten geprüft werden. Das Durchsetzen einer Flugverbotszone aber ist eine militärische Intervention. Niemand soll sich der Illusion hingeben, es gehe lediglich um das Aufstellen eines Verkehrsschildes. Um ein Flugverbot durchzusetzen, müsste zunächst die libysche Flugabwehr militärisch ausgeschaltet werden. Die Bundesregierung betrachtet deshalb ein militärisches Eingreifen in Form einer Flugverbotszone mit großer Skepsis. Wir wollen und dürfen nicht Kriegspartei in einem Bürgerkrieg in Nordafrika werden. Wir wollen nicht auf eine schiefe Ebene geraten, an deren Ende dann deutsche Soldaten Teil eines Krieges in Libyen sind.
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der LINKEN - Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Da hat er recht! Das muss Ihnen nicht peinlich sein!)
- Ich wünschte, meine Damen und Herren von der Linksfraktion, Sie wären auch bei anderen Fragen so entschieden, wenn es um Demokratie und Freiheit geht.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Aber was geschieht, wenn die Angriffe am Boden weitergehen? Müssen wir Gaddafis Panzer dann aus der Luft bekämpfen? Und wenn das nicht reicht, müssen wir dann Bodentruppen schicken? Die Alternative ist nicht Tatenlosigkeit, sondern sind gezielte Sanktionen, die den Druck auf Gaddafi erhöhen. In den vergangenen Tagen haben wir zudem erste Kontakte mit dem Nationalen Übergangsrat geknüpft. Wir sehen in ihm einen wichtigen politischen Ansprechpartner.
Die Entscheidung über den richtigen Weg im Angesicht menschenverachtender Gewalt ist alles andere als einfach. Als Mitglied des Sicherheitsrates trägt Deutschland in dieser schwierigen Lage besondere Verantwortung für die internationale Sicherheit. Wir respektieren und begrüßen den Beschluss der Arabischen Liga vom vergangenen Wochenende. Aber wir sehen die Verantwortung für das weitere Handeln der internationalen Staatengemeinschaft zuerst bei den Staaten der Region. Dies wird auch unsere Haltung bei den Beratungen in New York bestimmen.
Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren, eine stabile Demokratie entsteht nicht über Nacht. Ein solcher Prozess kann Jahre, manchmal Jahrzehnte dauern. Wir wollen die Länder Nordafrikas dabei unterstützen, eine feste, tragfähige Demokratie in einer starken Zivilgesellschaft zu verankern. Wir stehen in der arabischen Welt vor einem Neubeginn voller Chancen. Aber nicht nur die Völker der Region, sondern auch wir brauchen einen langen Atem. Dieser arabische Frühling ist eine historische Chance für Frieden und Wohlstand in der gesamten Region mit positiven Folgen weltweit. Deutschland und Europa stehen als Partner bereit, damit der demokratische Aufbruch in Nordafrika und anderen Teilen der arabischen Welt tatsächlich gelingen kann.
Der Umbruch in Tunesien und Ägypten ging von der Mitte der Gesellschaft aus, und er wurde von ihr getragen. Wir haben größten Respekt vor dem Mut all jener, die friedlich und ohne Waffen auf die Straße gegangen sind, um sich den Herrschenden in ihren Ländern entgegenzustellen. In den Straßen von Tunis können die jungen Frauen und Männer vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben völlig frei reden. Sie haben vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben das Gefühl, ihre eigene Zukunft in den Händen zu halten. Sie spüren, dass sie selber entscheiden können, wie sie leben wollen.
Was sich die Menschen in Tunesien wünschen, was sie sich erträumen, ist unseren Wünschen und unseren Träumen sehr nah. Die Hoffnung auf ein Leben in Freiheit, in Würde und Gerechtigkeit verbindet uns über das Mittelmeer und über alle Grenzen hinweg. Gleichzeitig erreichen uns die Bilder von Flüchtlingsbooten vor Lampedusa. Klar ist: Wir können nicht alle Menschen aus Nordafrika in Europa aufnehmen. Wir wollen vielmehr dabei helfen, dass die Menschen im eigenen Land eine gute Zukunft für sich sehen. Jetzt zu handeln, jetzt vor Ort zu helfen, ist die beste Politik, um Flüchtlingsströme einzudämmen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Der Aufbruch, dessen Zeuge wir sind, ist eine große Chance für beide Seiten. Es ist die Chance auf ein neues, produktives Miteinander der Länder nördlich und südlich des Mittelmeers. Er ist auch eine Chance für Deutschland. Wenn diese Gesellschaften in neuer Freiheit ihre ganze Kreativität und ihre Talente entfalten, können neue Mittelschichten in Nordafrika unsere kommenden Partner - auch Wirtschaftspartner - werden. Umgekehrt können wir durch Investitionen und Handelsaustausch die wirtschaftlichen Chancen für die Menschen und gerade auch für die jungen Menschen dort verbessern.
Es bleibt ein unvergessliches Erlebnis, das ich auf dem Tahrir-Platz gewissermaßen stellvertretend für Sie und für viele andere Staatsbürgerinnen und Staatsbürger hatte, als auf dem Tahrir-Platz in Kairo Hunderte spontan zusammenkamen, weil sie erfuhren, dass eine deutsche Delegation dort ist, und sie riefen: Es lebe Ägypten, es lebe Deutschland! - Das war Ausdruck des hohen Ansehens, das wir uns in Ägypten erworben haben. Es zeigt, dass unsere Politik der Parteinahme für den demokratischen Aufbrauch, ohne dabei die ägyptische Souveränität dieses stolzen Volkes infrage zu stellen, richtig war. Es war aber auch Ausdruck der enormen Erwartungen gerade der ägyptischen Jugend an unser Land.
Wir haben Tunesien und Ägypten sehr früh eine Transformationspartnerschaft angeboten, weil wir den Aufbruch zu Demokratie von Beginn an nach besten Kräften unterstützen wollten. Das jetzt beschlossene Konzept der Europäischen Union für eine Partnerschaft für Demokratie und gemeinsamen Wohlstand trägt in weiten Teilen die Handschrift der Bundesregierung.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Vier Punkte stehen dabei im Vordergrund.
Erstens. Die europäische Nachbarschaftspolitik muss neu ausgerichtet werden. Ihre strategischen Ziele und Grundsätze bleiben gültig. Aber mehr als bisher werden wir die Unterstützung der Europäischen Union an klare Erwartungen knüpfen. Am vergangenen Freitag hat der Europäische Rat beschlossen, dass wir Leistungen an unsere Mittelmeerpartner an sichtbare Fortschritte bei Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit, in Richtung unabhängiger Justiz und bei der Korruptionsbekämpfung knüpfen werden. Gerade die Zeichnung internationaler Menschenrechtsverpflichtungen, wie sie die tunesische Regierung nach dem Sturz Ben Alis auf die Tagesordnung der ersten Kabinettsitzung setzte, dokumentiert diesen Willen zum Neuanfang.
Zweitens stärken wir den Aufbau und Ausbau der Zivilgesellschaft. Träger des Aufbruchs sind neue politische und gesellschaftliche Kräfte, die noch am Anfang stehen. Sie sind kaum organisiert, und sie brauchen unsere Unterstützung; ich denke etwa an die eindrucksvolle Begegnung mit dem Vorsitzenden der tunesischen Menschenrechtsliga. Dafür wollen wir die etablierten Kontakte unserer Botschaften nutzen, aber auch die Netzwerke von Gewerkschaften, Wirtschaftsverbänden und Parlamentariergruppen.
Eine besondere Rolle kommt den politischen Stiftungen zu, mit denen wir uns in Tunis wie in Kairo getroffen haben und von denen es in Europa kaum ihresgleichen gibt. Sie verfügen über ein enges Netzwerk an Ansprechpartnern, von denen viele aktiv an den Freiheitsbewegungen beteiligt waren. Ihre langjährige Erfahrung wollen wir verstärkt nutzen und unseren neuen Partnern anbieten.
Drittens fördern wir eine umfassende Demokratisierung. Die Regierungen in Tunis und Kairo sind Übergangsregierungen, die in Zeiten des Umbruchs entstanden sind. Heute stehen teilweise schon andere Personen an ihrer Spitze als bei meinem Besuch vor wenigen Wochen. Ihnen fehlt noch die demokratische Legitimation. Für den Umbau der Gesellschaft brauchen die Regierungen aber den Rückhalt der Mehrheit im Volk. Die Zeit für die Organisation der freien politischen Willensbildung ist knapp, Erfahrungen darin noch knapper. Wir haben deshalb angeboten, bei allen Fragen der Vorbereitung und Durchführung freier und fairer Wahlen zu helfen.
Viertens wird es für das Gelingen des Aufbruchs in der arabischen Welt entscheidend sein, dass die Menschen die Früchte ihres Aufbegehrens auch im täglichen Leben spüren. Arme und ausgegrenzte junge Frauen und Männer haben ebenso wie die gut Ausgebildeten aus der Mitte der Gesellschaft nicht allein für Freiheit, sondern auch für ihre Lebenschancen demonstriert. Damit der politische Aufbruch Erfolg hat, müssen politische Entwicklungen und wirtschaftlicher und sozialer Fortschritt Hand in Hand gehen. Wenn uns an ihrem Erfolg liegt, dann müssen wir rasch und gezielt auch wirtschaftlich helfen. Damit meine ich vor allem Hilfe zur Selbsthilfe.
Die Tourismuswirtschaft spielt eine große Rolle, aber wir müssen auch mehr Handel zulassen und unsere Märkte in Europa öffnen. Auch über Agrarexporte, die für diese Länder eine wichtige Rolle spielen, werden wir in Brüssel sprechen müssen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Zugleich wollen wir die Voraussetzungen dafür schaffen, dass noch mehr als die beispielsweise 270 deutschen Unternehmen allein in Tunesien, die dort investieren, in der Region tätig werden. Die Rechtssicherheit in diesen Ländern muss gestärkt werden, sonst können private Investitionen kaum in großem Umfang fließen. Unser Angebot ist ein Nord-Süd-Pakt, der umfassend und auf Dauer angelegt ist.
Mittel- und langfristig entscheidet aber vor allem ein Thema über die Zukunft dieser Länder und Gesellschaften: die Bildung. Sie ist das Kapital der Zukunft bei uns - das wissen wir - genauso wie in Nordafrika. Die Bundesregierung wird den Deutschen Bundestag bitten, in den kommenden zwei Jahren insgesamt 100 Millionen Euro für Partnerschaften mit Nordafrika und dem Nahen Osten bereitzustellen. Das Kabinett hat heute Morgen einen entsprechenden Beschluss gefasst. 40 Millionen Euro davon wollen wir für ein Stipendienprogramm und für Bildungspartnerschaften mit den Schulen und Hochschulen dieser Länder nutzen.
Die Vernetzung junger Menschen, der Transfer unseres Know-hows und unserer gesellschaftlichen Werte und Maßstäbe sollen unseren Gesellschaften wechselseitig zugutekommen. Gemeinsam mit den Bundesministern Annette Schavan, Dirk Niebel und Rainer Brüderle werden wir zusätzliche Angebote für die Bildung, insbesondere die berufliche Bildung, entwickeln - eine der großen Stärken unseres deutschen Bildungssystems.
Wir müssen uns auch mit einer weiteren bedeutenden Frage befassen: Welche Folgen hat der Umbruch in der arabischen Welt für unseren Partner Israel? Die historischen Veränderungen in der Region dürfen nicht zu einem Weniger an Sicherheit für Israel führen. Darauf wird Deutschland besonders achten. Wir setzen uns dafür ein, dass die Zukunft Israels in einer stabileren und demokratischeren Nachbarschaft abgesichert werden kann. Auch deshalb machen die Umbrüche in der gesamten Region eine Lösung des Nahostkonfliktes durch eine gerechte Zwei-Staaten-Lösung umso dringlicher. Mut und Weitblick, nicht Zaudern und Zögern, sind jetzt gefragt,
(Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE))
damit der Stillstand bei den Friedensgesprächen endlich überwunden werden kann.
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen, die Unterstützung des Umbruchs in der arabischen Welt entspricht unseren Werten wie unseren Interessen gleichermaßen. Dabei dürfen wir nie vergessen, dass jedes Land selbst über sein Schicksal zu entscheiden hat. Jeder Mensch schuldet jedem Menschen Respekt, und jedes Land schuldet jedem Land Respekt. Jede Bevormundung verbietet sich. Nur wenn die Reformen von den Gesellschaften Nordafrikas selbst getragen werden, werden sie von Dauer sein.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Wir haben unsere Angebote gemacht: bei der Reform politischer Institutionen, beim Umbau der Verwaltung, bei der Verankerung und Stärkung von Meinungs-, Presse- und Religionsfreiheit und beim Ausbau der Bildung. Es geht uns dabei um rasche, aber nicht allein um kurzfristige Hilfe. Wir arbeiten für eine langfristig angelegte Partnerschaft, eine Partnerschaft auf Augenhöhe. Niemand kann heute mit Sicherheit vorhersagen, wie es in Nordafrika und der arabischen Welt weitergehen wird. Es wäre vorschnell, anzunehmen, der Wandel wäre einfach oder die Freiheit hätte bereits gesiegt.
Die Demokratiebewegung muss sich vielerorts stabilisieren, muss teils auch erst richtig beginnen, sich zu organisieren. Noch sind die alten Kräfte vielerorts fest im Sattel, noch verfügen sie über Geld und Einfluss. Die nächsten sechs Monate werden für die politische Entwicklung entscheidend sein, aber das Rad der Geschichte lässt sich nicht zurückdrehen.
Ich bin zuversichtlich, dass der Aufbruch am Ende erfolgreich sein wird. Der Impuls der Demokratiebewegungen kommt nicht von außen. Er kommt in jedem Land aus der Mitte der Gesellschaft. Die Umbrüche sind nicht vom Westen gestartet worden. Sie werden auch nicht vom Westen gesteuert. Das ist allein die Propaganda derer, die vieles im Sinn haben, nur nicht die Freiheit ihrer Völker.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Jedes Land muss seinen eigenen Weg finden, jede Gesellschaft ihren eigenen Weg gehen. Mit Rat und Tat wollen wir helfen, aber auch mit Respekt und Anerkennung für den großen Mut der Menschen.
Die Völker der arabischen Welt nehmen in diesen Monaten ihre Zukunft selbst in die Hand. Den Fahrplan zur Freiheit bestimmen sie selbst, aber wir Deutsche, wir Europäer stehen ihnen zur Seite.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit, und ich danke dafür, dass trotz der schrecklichen Bilder aus Japan, die wir sehen, und trotz der vielen Fragen, die uns beschäftigen, sich so viele von Ihnen die Zeit genommen haben, an dieser Debatte im Deutschen Bundestag über die Entwicklung in Nordafrika teilzunehmen. Ich glaube, allein schon das ist ein wichtiges Zeichen der Unterstützung an die gesamte Zivilgesellschaft in der arabischen Welt und in Nordafrika.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
(Lebhafter Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Nach dieser Regierungserklärung eröffne ich jetzt die
Aussprache. Als erster Redner hat der Kollege Dr. Rolf
Mützenich von der SPD-Fraktion das Wort.
(Beifall bei der SPD)
Dr. Rolf Mützenich (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
der Tat ist es angesichts der schrecklichen Bilder aus Japan
schwer, sich heute im Parlament auf andere Themen
zu konzentrieren. Wir müssen es tun, aber ich will an
dieser Stelle sagen, dass wir gestern als Deutsch-Japanische
Parlamentariergruppe auf Einladung des japanischen
Botschafters in der japanischen Botschaft waren,
um zu kondolieren und um noch einmal über die
deutsch-japanischen Beziehungen in der Zukunft zu
sprechen. Dabei ging es um Hilfsangebote und um die
Frage, was der Deutsche Bundestag tun kann, aber auch
um das, was wir vor einigen Wochen mit einem Antrag
zu 150 Jahren deutsch-japanischen Beziehungen im
Deutschen Bundestag beschlossen haben. Wir haben uns
auf die Aktivitäten und die Arbeit in den nächsten Wochen
und Monaten gefreut.
Ich wäre froh, wenn angesichts der Bilder aus Japan
in der deutschen Debatte manchmal innegehalten würde,
wenn wir leichtfertig den Begriff der Katastrophe für das
eine oder andere bemühen, das uns in Deutschland möglicherweise
belastet.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des
Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE])
In der Tat ist das, was in der arabischen Welt, in Nordafrika
und in unserer unmittelbaren Nachbarschaft passiert,
ein wichtiges Thema. Ich glaube, wir müssen eines
deutlich machen: Libyen ist nicht das Gesicht der Veränderung
in Nordafrika oder in der arabischen Welt. Das
sind vielmehr die jungen Menschen, die mutigen Frauen;
es sind diejenigen, die auf dem Tahrir-Platz oder in Tunis
demonstriert haben – einige haben ihr Leben gelassen
oder sind verletzt worden – und Regime gestürzt haben.
Das ist das Bild, und das muss auch unser Bild der
arabischen Welt insgesamt bleiben, weil das nach meinem
Dafürhalten auch die Chancen deutlich macht.
Diese Menschen wollen in ihren Gesellschaften leben.
Sie wollen nicht fliehen. Sie wollen etwas aufbauen,
das es ihnen möglich macht, mit Europa in einer
wichtigen Region, in der Mittelmeerwelt, zusammenzuleben,
die in der Zukunft Prosperität und Kultur zeigen
kann. Ich glaube, wir müssen den deutschen Bundesbürgern
auch vermitteln, dass selbst angesichts der Bilder
aus Libyen in dieser Entwicklung mehr Chancen als Risiken
liegen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Auch wenn an dieser Stelle nicht oft darüber gesprochen
wird, sind natürlich Fehler gemacht worden, auch
immer dann, wenn es um totalitäre Regime in unserer
Nachbarschaft ging. Dennoch möchte ich Sie fragen, ob
die scheinbar einfachen Antworten auf eine solche Frage
wirklich zutreffen. Denn was wäre passiert, wenn wir in
den 90er-Jahren nicht mit Gaddafi über den Verzicht auf
Atomwaffen verhandelt und wenn wir nicht versucht
hätten, das Gespräch über einen Verzicht zu suchen? Wir
wären heute in einer Situation, die die Bearbeitung dieser
internationalen Krise noch erschweren würde! Deswegen
darf man nicht einfach diese Alternativen so aufbauen.
Ich bekenne mich dazu, dass Fehler bei einzelnen
Dingen gemacht worden sind. Aber man darf das nicht
nur schwarz-weiß darstellen. Deswegen gibt es zum jetzigen
Zeitpunkt keine einfachen Lösungen, um mit der
libyschen Krise umzugehen, was nach meinem Dafürhalten
in erster Priorität zivil und friedlich geschehen
sollte.
Für mich zählt dazu, dass insbesondere die internationale
Gemeinschaft geeint bleibt. Denn das ist eines der
wichtigsten Instrumente, um überhaupt Einfluss zu nehmen.
Deswegen war es gut, dass es die Sicherheitsratsresolution
1970 gegeben hat.
Das ist oft schnell zur Seite geschoben worden. Plötzlich
haben auch einige Länder gesagt: „Wir sind für
Sanktionen und sogar für das Instrument des Internationalen
Strafgerichtshofes“, die das für sich selbst nicht
wollen. Sie begreifen diesen Internationalen Strafgerichtshof
als Fortschritt des Völkerrechts. Deshalb wollen
sie ihn als Instrument einsetzen. Das sind wichtige
Dinge, die nach meinem Dafürhalten in den letzten
Wochen und Monaten vorangekommen sind. Herr
Westerwelle, Sie haben auf die Sanktionen und auf andere
Dinge hingewiesen.
Dennoch, Herr Bundesaußenminister: Die UN-Charta
beinhaltet auch das Instrument der Flugverbotszone.
Deswegen wäre es eine kluge Politik, wenn wir in der internationalen
Gemeinschaft zusammenbleiben wollen,
deutlich zu machen, dass wir alle Instrumente der UN-Charta
wollen. Dann sollte man nicht schon im Vorgriff
sagen, dass all diese Instrumente möglicherweise nicht
wirken. Ich glaube, auch die Bundesregierung sollte
etwas offener vorgehen; denn das gehört genauso wie
damals zum Sanktionskatalog dazu, als die Resolution
1970 beschlossen worden ist.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Aber, Herr Außenminister, da gebe ich Ihnen recht:
Man muss auch abwägen. Wir haben Erfahrungen im
Irak, im Kosovo und an anderer Stelle gemacht. Wir machen
auch die Erfahrung, dass es offensichtlich nicht nur
die libysche Luftwaffe ist, sondern im Gegenteil: Wahrscheinlich
macht es das, was auf dem Boden passiert,
den Aufständischen so schwer, auch militärisch dem
Druck von Gaddafi zu widerstehen. Auch diese Fragen
müssen gestellt werden.
Aber dennoch: Innerhalb des Militärbündnisses müssen
diese Optionen weiter auf dem Tisch bleiben, weiter
geprüft werden, und unter Umständen, wenn es noch einen
Beschluss im Sicherheitsrat geben sollte, muss auch
hier erwogen werden, ob es notwendig ist, sie zu nutzen.
Herr Bundesaußenminister, ich habe einen großen
Teil Ihrer Versuche unterstützt, innerhalb der internationalen
Gemeinschaft für Weltsicherheitsratsresolutionen
und für anderes mehr zu werben. Aber was ich von Ihnen
in Bezug auf die innenpolitische Diskussion gehört
habe, hat, finde ich, dem Fass den Boden ausgeschlagen.
Sie haben in einem Interview im Morgenmagazin am
11. März 2011 gesagt:
Meine Aufgabe als Außenminister ist, dafür zu sorgen,
dass wir als Deutsche nicht leichtfertig in einen
Krieg hineingezogen werden, aus dem wir dann
viele Jahre nicht hinauskommen können.
(Dr. Rainer Stinner [FDP]: Ja!)
Das ist in der Tat richtig; das unterstütze ich auch. Aber
unmittelbar danach sagten Sie folgenden Satz:
Insoweit habe ich auch eine andere Vorstellung von
Außenpolitik, als das vielleicht frühere Regierungen
gehabt haben.
Diesen Vorwurf finde ich schändlich.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Es sind wir von Rot-Grün gewesen, die verhindert haben,
dass wir als Deutsche im Irakkrieg mit interveniert
haben. Neben Ihnen sitzt eine Bundeskanzlerin, die nach
Washington geflogen ist und den damaligen Präsidenten
ermutigt hat, dort zu intervenieren.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Das ist die Wahrheit! – Zuruf von
CDU/CSU: Unsinn!)
Als Vertreter der SPD-Fraktion lasse ich es mir nicht bieten,
dass Sie diese Verknüpfung herstellen. Das ist schäbig.
Ich finde, das gehört zu einem Versuch, eine gemeinsame
außenpolitische Position des Deutschen
Bundestages zu halten, nicht dazu.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns deswegen
versuchen, diese innenpolitischen Debatten sein zu lassen.
Ich habe das in den vergangenen Tagen versucht.
Aber wichtig ist, Sie daran zu erinnern, dass auch Sie als
Mitglied der Bundesregierung hierbei in der Pflicht sind.
(Beifall bei der SPD)
Oft ist hier über die Arabische Liga gesprochen worden
und darüber, dass sie uns auffordert, einer Flugverbotszone
zuzustimmen. Heute Morgen haben wir darüber
auch im Auswärtigen Ausschuss gesprochen. Es
bietet sich ein sehr spannendes Bild. Auf der einen Seite
fordert die Arabische Liga eine Flugverbotszone, auf der
anderen Seite sagt sie, die Einmischung in die inneren
Angelegenheiten anderer Länder sei nicht erlaubt.
24 Stunden später schickt ein wichtiges Land dieser Arabischen
Liga, nämlich Saudi-Arabien, Truppen nach
Bahrain und schafft damit möglicherweise eine zusätzliche
Krisensituation. Dann erfahren wir, dass elf Außenminister
bei der Sitzung der Arabischen Liga anwesend
waren und zwei oder drei gegen diese Flugverbotszone
gestimmt haben. Ich finde, zur Redlichkeit gegenüber
diesem Instrument gehört – auch in der Berichterstattung –,
über diese Entscheidungen hier zu informieren.
Herr Bundesaußenminister, Sie haben zum Schluss
insbesondere über die Rolle der Europäischen Union gesprochen.
Das haben auch wir in den vergangenen Wochen
hier im Deutschen Bundestag getan. Ich unterstütze
Ihre Aufforderung, zum Beispiel an Deutschland und andere
europäische Staaten, im Bereich der Bildung etc.
mehr zu tun. Das gilt aber genauso für die Agrarpolitik.
Bei dieser Aussage ist eben hier geklatscht worden. Darüber
wird es nicht nur zum Schwur innerhalb der Europäischen
Union kommen; es kommt auch zum Schwur
innerhalb des Kabinetts. Mich würde interessieren, wie
Sie möglicherweise die anderen Kabinettsmitglieder von
der Freizügigkeit überzeugen, die Sie an dieser Stelle
eingefordert haben.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich glaube, es kommt darauf an, dass wir auch in dieser
schwierigen Situation eine Außenpolitik betreiben,
bei der die Parteien des Deutschen Bundestages zusammenbleiben.
Ich biete Ihnen, Herr Bundesaußenminister,
und dem gesamten Kabinett das an. Ich bitte Sie deshalb,
von dem einen oder anderen Reflex, den Sie möglicherweise
noch aus alten Zeiten übernommen haben, in Ihrer
Regierungstätigkeit abzusehen.
(Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister: Und umgekehrt!)
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat der Kollege Dr. Andreas Schockenhoff
von der CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten
der FDP)
Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gaddafi führt Krieg gegen das libysche Volk. Ich sage
bewusst nicht „gegen das eigene Volk“ oder „gegen sein
Volk“; denn die Menschen in Libyen kämpfen für ihre
Freiheit gegen einen Diktator, der schlimme Verbrechen
gegen die Menschlichkeit begeht. Die libysche Führung
muss abtreten und für ihr Handeln zur Rechenschaft gezogen
werden.
Die Staatengemeinschaft hat entschlossen gehandelt,
Gaddafi ist isoliert, die EU hat ebenso wie die USA
schnell Sanktionen gegen das libysche Regime verhängt.
Über weitere wird diskutiert. Der VN-Sicherheitsrat hat
im Februar mit der Zustimmung Russlands und Chinas
Strafmaßnahmen gegen die libysche Führung verhängt
und den Internationalen Strafgerichtshof mit Ermittlungen
beauftragt. Deutschland hat zu dieser Entscheidung
im Sicherheitsrat maßgeblich ermutigt. Die CDU/CSUFraktion
dankt der Bundesregierung für ihr Engagement
und ihre klare Haltung.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Aber ich sage auch: Das reicht nicht. Gestern hat
Gaddafi in einem Gespräch mit RTL gesagt, Deutschland
habe im Unterschied zu vielen anderen westlichen
Ländern eine sehr gute Position eingenommen, weshalb
er sich vorstellen könne, dass Deutschland weiterhin Ölaufträge
bekomme. Das zeigt nur, wie paranoid dieser
Mann ist und wie sicher er sich im Sattel fühlt. Es zeigt
vor allem, wie wichtig es ist, dass wir im Sicherheitsrat
weiter darauf drängen, alle verantwortbaren Maßnahmen
zu prüfen, damit der Gewalt in Libyen so schnell wie
möglich ein Ende gesetzt wird. Das sage ich nicht nur
angesichts der Bilder von reihenweise abgeschlachteten
Freiheitskämpfern. Der UNO-Sicherheitsrat muss weiter
beraten, wie die libysche Bevölkerung vor den Verbrechen
des Gaddafi-Regimes geschützt werden kann. Dabei
dürfen auch Waffenlieferungen an die Freiheitskämpfer
nicht ausgeschlossen werden.
Wir brauchen eine weitere Verschärfung der Sanktionen
gegen Gaddafi und seinen Clan. Ich sage mit aller
Klarheit für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion: Es muss
alles getan werden, damit Gaddafi und auch seine Söhne,
die jetzt das Abschlachten der Freiheitskämpfer organisieren,
so schnell wie möglich vor den Internationalen
Strafgerichtshof kommen.
Herr Mützenich hat es gerade schon angesprochen:
Die Arabische Liga hat die Vereinten Nationen am Wochenende
aufgefordert, eine Flugverbotszone zu verhängen.
Zugleich lehnte sie aber jede Form einer ausländischen
Intervention in Libyen ab und betonte die
territoriale Integrität und Souveränität Libyens. Das ist
– der Herr Außenminister hat darauf hingewiesen – ein
Widerspruch in sich. Wenn man eine Flugverbotszone
zum Schutz der libyschen Bevölkerung wirklich durchsetzen
will, muss man zunächst auf dem Boden die libysche
Flugabwehr und andere Bodenstationen und Einrichtungen
im Land ausschalten. Damit interveniert man
militärisch in Libyen.
Wenn die Arabische Liga eine Flugverbotszone also
wirklich will, dann muss sie dies auch ohne Einschränkung
sagen; vor allem aber muss sie selbst zur Durchsetzung
einer solchen Flugverbotszone bereit sein.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
der Abg. Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Das von der Arabischen Liga geforderte Mandat der Vereinten
Nationen ist sicherlich zwingend die erste Voraussetzung;
entscheidend ist jedoch, dass auch beim Schutz
der Zivilbevölkerung in Libyen die arabische Eigenverantwortung
im Vordergrund steht. Jeder muss sich im
Klaren darüber sein, dass allein durch die Einrichtung einer
Flugverbotszone das Morden des Gaddafi-Regimes
nicht beendet wird. Wer stoppt die Panzer, die Artillerie,
die gut ausgebildeten Söldnertruppen Gaddafis? Spätestens
dann stellt sich die Frage nach einem Einsatz am
Boden. Saudi-Arabien entsendet Soldaten nach Bahrain,
um das bedrängte Königshaus zu verteidigen. Zum
Schutz einer Befreiungsbewegung in Libyen unternimmt
Riad bislang nichts. Wenn dies aber ausschließlich von
der NATO und der EU als Konsequenz aus der Erklärung
der Arabischen Liga erwartet wird, muss ich sagen:
Eine solche Arbeitsteilung ist mit uns nicht zu machen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
Die Arabische Liga muss, wenn sie eine Flugverbotszone
fordert, nicht nur politisch, sondern auch militärisch
Verantwortung bei der Durchsetzung und den
möglichen weiteren Konsequenzen übernehmen. Insbesondere
Ägypten, Saudi-Arabien und die Vereinigten
Arabischen Emirate sind hier gefordert; denn sie verfügen
über die notwendigen militärischen Fähigkeiten,
einschließlich einer modernen Luftwaffe. Die Arabische
Liga spricht sich in ihrem Gründungsakt für die Einheit
der arabischen Nation aus. Warum sind die arabischen
Staaten, die das koloniale Erbe überwunden haben, bisher
nicht bereit, dem bedrohten libyschen Brudervolk zu
Hilfe zu kommen? Das wäre eine arabische und nicht erneut
eine von außen geführte Intervention.
Wir lassen die Freiheitsbewegung nicht im Stich.
Aber wie sollen, solange die Staaten der Arabischen
Liga nicht bereit sind, militärisch zu handeln, die NATO
oder die EU militärisch unterstützend tätig werden können?
Es geht um politische und militärische Unterstützung;
aber der Transformationsprozess – Herr Außenminister,
darauf haben Sie zu Recht hingewiesen – muss
von der libyschen Freiheitsbewegung gestaltet werden.
In Ägypten und Tunesien geht es jetzt darum, in kurzer
Zeit die institutionellen und verfassungsrechtlichen
Voraussetzungen zu schaffen, um freie und faire Wahlen
durchführen zu können. Der Zeitpunkt dieser Wahlen
sollte so gewählt werden, dass wirkliche Chancengleichheit
gewährleistet ist. Bei dem notwendigen Aufbau von
Parteistrukturen und Jugendorganisationen können die
deutschen politischen Stiftungen eine maßgebliche Rolle
spielen.
Extreme Islamisten spielen bei den Umbrüchen in
Nordafrika bisher keine Rolle. Viele Träger des Wandels
in Ägypten und Tunesien sind neue politische und gesellschaftliche
Kräfte. In Ägypten haben die Muslimbrüder
ihr Oppositionsmonopol verloren. Frauen haben bei
den Protesten – auch das wurde schon gesagt – eine
maßgebliche Rolle gespielt. Mit diesen Kräften muss der
Dialog verstärkt werden mit dem Ziel, eine gleichberechtigte
Bürgergesellschaft aufzubauen. Dieser Prozess
muss inklusiv sein und auch die moderaten islamischen
Kräfte einbeziehen. Gerade die Muslimbrüder müssen in
die politische Mitverantwortung für den demokratischen
Wandel genommen werden. Von zentraler Bedeutung ist
für unsere Fraktion, dass der politische und gesellschaftliche
Wandel nicht zulasten religiöser Minderheiten
geht. Das gilt gerade für die christliche Glaubensgemeinschaft
der Kopten in Ägypten.
Meine Fraktion begrüßt ausdrücklich die führende
Rolle, die die Bundesregierung in den vergangenen Wochen
bei der Unterstützung dieses historischen Wandels
in der arabischen Welt gespielt hat. Die von Deutschland
mit Erfolg angestoßene Transformationspartnerschaft
mit Tunesien und Ägypten sollte als Vorbild für die Zusammenarbeit
mit weiteren Staaten dienen, auch mit
denen, die noch nicht in erheblichem Ausmaß von der
Protestwelle und dem demokratischen Transformationsprozess
erfasst worden sind.
Es ist konsequent, dass die Europäische Nachbarschaftspolitik
auf den Prüfstand gestellt wird. Auch hier
hat die Bundesregierung eine führende Rolle übernommen.
Unsere Unterstützungsmaßnahmen müssen viel
deutlicher als bisher an gute Regierungsführung sowie
an politische und rechtsstaatliche Reformen gebunden
werden.
Zuallererst müssen wir jetzt kurzfristige Angebote
machen, die in der kritischen Phase des Übergangs spürbare
Wirkung für die Menschen zeigen und die deren
wirtschaftliche Lage unmittelbar verbessern. Dazu gehört
aber auch – das wurde hier ebenfalls bereits gesagt –,
dass wir unsere Märkte für Produkte aus der Region öffnen
– darin besteht Einigkeit, Herr Mützenich – und berufliche
Bildung und Ausbildung in Deutschland ermöglichen.
Gerade die Bildungszusammenarbeit, die
Öffnung für die Bildungszusammenarbeit ist eine ganz
entscheidende Voraussetzung für Zukunftschancen und
für Lebenschancen der jungen Bevölkerung in Nordafrika.
Wir brauchen mutige Entscheidungen; denn wir haben
die historische Chance, unser Verhältnis zur arabischen
Welt neu zu gestalten und auf eine gemeinsame
Wertegrundlage zu stellen.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Gehrcke von
der Fraktion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE):
Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Meine SPD-Kollegen haben mir zugerufen,
ich solle den Außenminister nicht allzu sehr
loben. Ich glaube, das hofft er auch. Ich werde mir Mühe
geben, ihn nicht allzu sehr zu loben. Es steht genügend
zwischen uns.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich finde, wir sollten
uns einen Moment darauf besinnen, die Bilder, die
wir alle erleben, vielleicht auch im Inneren ein Stück
weit zu verarbeiten und darüber nachzudenken, unsere
Gefühle und möglichst auch unseren Verstand zu sortieren.
Für mich ist das ein furchtbares Wechselbad von Gefühlen:
die Riesenbegeisterung, die ich gehabt habe
angesichts der Bilder vom Tahrir-Platz – ich war kurz
vorher in Ägypten –, von dem Freiheitswillen, dem Ruf
nach Freiheit, der von dort ausgegangen ist, dem Engagement
für Freiheit, und dann die entsetzlichen Bilder
aus Libyen, die ich wahrnehme, wo man versucht, den
Freiheitswillen mit Militär zusammenzuschießen. Es ist
außerdem ein Wechselbad der Gefühle, wenn ich die Bilder
aus Japan auch nur ein Stück weit wirklich an mich
herankommen lasse. Ich glaube, wir müssen uns zugestehen,
dass wir in einer Zeitenwende, in einer wirklichen
Zeitenwende leben. Wir erleben einen tiefen Bruch
von Zivilisation und müssen neue Antworten darauf geben.
Die alten Reden, die Phrasen der Vergangenheit
tragen nicht mehr in die Zukunft. Ich finde, das ist ein
Signal, das vom Bundestag ausgehen müsste.
(Beifall bei der LINKEN)
Ich teile die Auffassung, dass der Umbruch in Ägypten
nicht ein Werk des Westens war. Die Leute haben gesagt: Vom Westen wollen wir überhaupt nichts wissen. – Da habe ich eine ganz andere Wahrnehmung. Ich glaube auch nicht, dass Deutschland in erheblichem Maße an diesem Umbruch im positiven Sinne beteiligt war, sondern
eigentlich eher im negativen Sinne. Wir haben all
die Regime mit zu verantworten gehabt. Wir haben sie
gestützt, gestärkt, ihnen die Hand gehalten, und wir haben
mit ihnen paktiert. Auch das gehört zur Wahrheit
dazu.
Deswegen sollte die erste Botschaft des Bundestages
sein, dass wir uns mit großem Respekt an die Menschen
wenden, die ihr Leben und ihre Gesundheit eingesetzt
haben, um Freiheit, Demokratie und soziale Gerechtigkeit
zu erreichen: in Ägypten, in Tunesien und auch in
Libyen. Diesen Respekt sollten wir in diesem Hause aussprechen
und sagen: Es war nicht unser Umbruch. Es
war nicht unsere Revolution. Es war euer Umbruch. Es
war eure Revolution. Dafür sind wir euch dankbar. Davon
erwarten wir uns auch etwas für uns und für die Gestaltung
hier in unserem Lande.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg.
Dr. Rolf Mützenich [SPD])
Meine zweite Bitte ist, dass wir viel dafür tun, dass
der Freiheitsimpuls aus den nordafrikanischen und arabischen
Ländern durch die Unterdrückung der Freiheit
durch Gaddafi oder Bahrain nicht verloren geht. Er muss
im Vordergrund bleiben.
Da manche noch mit dem Bild herumrennen, Gaddafi
habe angeblich einmal etwas mit einer antiimperialistischen
Bewegung zu tun gehabt, möchte ich Folgendes
sagen: Gaddafi ist nicht links, Gaddafi ist nicht Freiheit,
sondern Gaddafi ist das Gegenteil von links und von
Freiheit. Eine solche Politik darf man – und das gilt auch
für eine ganze Reihe anderer Länder – nicht unterstützen,
egal wo in der Welt man Verantwortung trägt.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Da machen
Sie es sich zu einfach!)
– Ach komm, hör auf!
Ich möchte aber gerade in diesem Zusammenhang die
Frage stellen: Wie kann man überhaupt helfen? Welche
Möglichkeiten haben wir außer Krieg und dem Einsatz
von Militär, wenn man diese nicht als Hilfsmittel ansieht,
sondern eher als das Gegenteil davon? Ich denke,
dass man, auch in Libyen, nach wie vor auf die Vermittlung
zwischen den Bürgerkriegsparteien setzen muss.
Das klingt nicht leicht; aber es wäre eine Aufgabe für
Deutschland, das auch im Weltsicherheitsrat der Vereinten
Nationen durchzusetzen. Vermitteln ist in einer solchen
Situation besser, als die Menschen weiter aufeinander
schießen zu lassen. Wer die Menschen wirklich
retten will, muss sich für eine Vermittlung einsetzen.
(Beifall bei der LINKEN)
Ich bin strikt dafür, dass handelspolitische Maßnahmen
ergriffen werden. Wenn wir für Öl kein Geld mehr
bezahlen und die Öllieferungen ausgesetzt werden, wird
uns das zwar in Probleme bringen. Es wäre aber ein
wirksames Mittel in der Auseinandersetzung mit dem
Gaddafi-Regime. Es ist interessant, dass über diese
Frage kaum nachgedacht wird.
Ich bin ganz entschieden dafür, dass das Verbot von
Waffenexporten nicht nur vorübergehend, sondern dauerhaft
für die gesamte Region, also den Nahen Osten und
Nordafrika, durchgesetzt wird. Es darf keine Waffenlieferungen
mehr geben. Denn – diese Frage ist doch berechtigt
– was passiert später mit den Waffen?
Ich sage ehrlich: Ich möchte, dass Deutschland als
Nation und als Mitglied der Europäischen Union vorangeht,
was die Aufnahme von Flüchtlingen angeht.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir können den Menschen doch nicht auf die Schulter
klopfen und sagen: Ihr habt gut für Demokratie gekämpft,
aber bleibt, wo ihr seid. – Wenn wir den Menschen,
die für Demokratie gekämpft haben und kämpfen,
Respekt entgegenbringen, muss unser Land sich für die
Flüchtlinge öffnen und in dieser Hinsicht ein Vorbild
sein. Dazu gehört, dass man FRONTEX aufkündigt.
Dazu hat der Außenminister hier nichts gesagt – wohl
aus guten Gründen.
(Beifall bei der LINKEN)
Wenn man das tut, ist das schon eine ganze Menge.
Ich füge hinzu, dass ich militärische Maßnahmen für
völlig ungeeignet halte. Ich habe die Bilder vom Irakkrieg
noch gut in Erinnerung, ebenso die Rede von
Condoleezza Rice, die nach dem Irakkrieg glaubte, im
Irak einen neuen Nahen Osten erkennen zu können. Das
Ergebnis des Irakkrieges kennen wir alle. Deswegen
warne ich davor, allzu leicht über Krieg und Militär zu
reden und möglicherweise irgendwo hineinzurutschen,
wo man vielleicht nicht wieder herauskommt. Ich sage
kategorisch: Kein Krieg für Öl! Keine militärische Unterstützung,
weder der einen noch der anderen Seite!
Ich gestehe der Bundesregierung zu, Herr Außenminister,
dass sie sich in dieser Frage mit Bedacht bewegt
hat. Das heißt nicht, dass jeder Schritt in Ordnung
war. Wie wollen Sie denn mit dem französischen Präsidenten
umgehen, der mit seiner Luftwaffe Ziele in
Libyen bombardieren will? Frankreich ist doch, zusammen
mit Großbritannien, einer unserer engsten Partner in
der Europäischen Union. Was heißt es, sich in der NATO
an Planungen zu beteiligen bis hin zu einem operativen
Plan, wie heute noch einmal bestätigt worden ist? Wer
plant, befindet sich schon mit einem halben Fuß in der
Ausführung. Es darf weder Planung noch Teilhabe an
den Planungen geben!
Bitte lassen Sie uns unserer Bevölkerung sehr deutlich
sagen: Wer Flugverbotszonen einrichtet, Kollege
Mützenich, oder sich diesbezüglich offen zeigt, muss bereit
sein, sie auch durchzusetzen, das heißt, Flugzeuge
abzuschießen und die Luftabwehr auszuschalten. Dann
befindet man sich im Krieg und kommt so leicht nicht
wieder heraus. Auch das ist eine Erfahrung aus internationalen
Auseinandersetzungen. Das wollen wir nicht.
Für uns ist völlig klar: Kein Krieg für Öl! Keine militärische Unterstützung, weder für Gaddafi noch gegen ihn!
Das ist kein Mittel.
(Beifall bei der LINKEN)
Ich schlage vor, dass wir auch über ein paar andere
Dinge nachdenken, bei denen wir uns unserer eigenen
Rolle vielleicht nicht ganz sicher sind. Ich fand den Einwand,
dass man auch mit Schurken in Staatsämtern verhandeln
muss, richtig; das war immer auch meine Position.
(Jörg van Essen [FDP]: Deswegen fahren Sie
auch nach Kuba und Venezuela!)
Aber Verhandeln ist etwas anderes als Paktieren. Unser
Land hat mit solchen Schurken in Staatsämtern paktiert,
zum Beispiel mit Mubarak, den wir finanziert und im
Amt gehalten haben. Unser Land hat mit Gaddafi paktiert,
und zwar einzig und allein aus dem Grunde, dass er
die Flüchtlinge in Libyen hält und diese nicht nach
Europa lässt. Das Paktieren mit Schurken gilt auch in
Bezug auf Ben Ali. Das darf sich nicht wiederholen. Das
ist aber doch das Bild, das sich ergibt. Die Schlussfolgerung
müsste sein: Verhandeln ja, aber nicht paktieren.
Ich möchte gern, dass hier klar wird: Wir stellen die
Waffenexporte ein. Deutschland hat an Saudi-Arabien,
an Libyen, an die Vereinigten Arabischen Emirate Waffen
in großem Umfang geliefert und dafür Geld kassiert.
Auch das muss hier einmal ausgesprochen werden: Ein
Teil der Waffen, mit denen jetzt in Bahrain gegen die
Demonstranten vorgegangen wird, stammt aus Deutschland
bzw. ist von Deutschland geliefert worden. Wollen
wir das etwa fortsetzen? Ich finde, darauf gibt es nur
eine einzige Antwort: Sofort beenden!
(Beifall bei der LINKEN)
Es kann doch nicht dabei bleiben, dass wir mit unserer
Politik dazu beitragen, dass sich die Preise von Nahrungsmitteln
so erhöhen, dass sich Menschen in vielen
Teilen der Welt sie nicht mehr leisten können. Die Politik
muss sich nicht nur im Nahen Osten, in den arabischen
Ländern ändern. Auch wir müssen die Grundlagen
unserer Politik ändern. Damit zeigen wir, dass wir etwas
von dem begriffen haben, was uns die Menschen auf
dem Tahrir-Platz vorgemacht haben.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Dr. Rainer
Stinner das Wort.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Dr. Rainer Stinner (FDP):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Tunesien, Ägypten, Libyen, Bahrain, Jemen: Es zeigt
sich, dass das, was in Tunesien anfing – vor einigen Wochen
haben wir uns ja noch gefragt, ob das weitergeht –,
mittlerweile Realität geworden ist. Allerdings bitte ich
Sie alle sehr, zu beachten, dass die Situation in jedem
Land völlig anders ist.
Es mag Sie angesichts der dramatischen Ereignisse in
Libyen verwundern, dass ich mir die größten Sorgen um
die Ereignisse in Bahrain mache; denn die Weiterungen,
die sich aus der neuen Situation in Bahrain ergeben, sind
völlig unübersehbar und können sehr viel dramatischer
sein als das, was in Libyen noch herauskommen kann.
In Bahrain erleben wir erstens, dass erstmals Staaten
des Golf Cooperation Council in einen befreundeten
Nachbarstaat einmarschieren. Es handelt sich um Truppen
und Polizeikräfte aus Saudi-Arabien und Katar. Wir
erleben zweitens, dass es um den Nukleus eines Konfliktes
zwischen Sunniten und Schiiten geht, der zwar latent
immer vorhanden war, aber nun aufzubrechen droht. Wir
erleben drittens, dass Saudi-Arabien auch innenpolitisch
einbezogen wird, weil eine schiitische Enklave in Saudi-
Arabien nicht weit von der Grenze zu Bahrain entfernt
ist. Wir erleben viertens – das wäre eine ganz große Gefahr
–, dass sich der Iran in irgendeiner Weise als Vertreter
der schiitischen Interessen einmischt. Daher mache
ich mir größte Sorgen darüber, wie sich die Situation
weiterentwickelt. Das müssen wir genau beobachten.
(Beifall bei der FDP)
Wir erleben also wirklich einen Umbruch in der arabischen
Welt von dramatischem Ausmaß.
Was Ägypten und Tunesien angeht, so kann ich das
wiederholen, was ich vorletzte Woche gesagt habe: Wir
sehen einen Weg, wir sehen Perspektiven. In Ägypten
sind mittlerweile 23 Parteien zugelassen und in Tunesien,
so glaube ich, sogar 37 Parteien. Der beschrittene
Weg gibt Anlass zur Hoffnung. Mehr will ich dazu nicht
sagen.
Kommen wir nun zu Libyen. Es ist ohne jeden Zweifel
richtig, dass der Herrscher Gaddafi sein brutales militärisches
Regime nutzt, um seine Bevölkerung in einem
veritablen Bürgerkrieg zu massakrieren. Die Frage ist:
Wie gehen wir damit um? Es ist wohlfeil, zu sagen: Da
könnt ihr doch nicht zuschauen. – Diese Reaktion ist
zwar ein erster menschlicher Impuls und daher völlig
verständlich. Aber ich unterstütze voll und ganz Außenminister
Westerwelle, wenn er davor warnt, dass Wort
„Flugverbotszone“ als verharmlosendes Instrument in
den Mund zu nehmen. Das Durchsetzen einer Flugverbotszone
bedeutet militärische Operationen und den ersten
Schritt in Richtung eines wohl auszuweitenden militärischen
Engagements. In diesem Fall kann die
Verwicklung in einen Bürgerkrieg in Libyen mit einer
gewissen Wahrscheinlichkeit die Folge sein. Ich kann
nur sagen: Ich bin froh darüber, dass sich die Bundesregierung
hier sehr zurückhaltend verhält.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Jetzt ist natürlich völlig klar: Wenn es dazu kommen
sollte, dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die
Einrichtung einer Flugverbotszone beschließt, dann
muss sich Deutschland Gedanken darüber machen, wer
denn dort eventuell eingreifen könnte. Ich stehe da unter
dem Eindruck des Besuchs einer Konferenz in Oman am
letzten Wochenende, wo wir öfter folgenden Dreiklang
gehört haben: Erstens. Der Westen versteht uns nicht, hat
keine Ahnung und hat in der ganzen Großregion – in
Afghanistan, aber auch im Nahen Osten – vieles falsch
gemacht. Zweitens. Jetzt muss dringend etwas gemacht
werden in Libyen. Drittens. Das können nicht wir; das
müsst ihr machen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das kommt bei mir
nicht gut an. Deshalb sage ich unseren Freunden in der
Arabischen Liga sehr deutlich: Jetzt ist die arabische
Welt zunächst einmal selbst gefordert.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Ich weiß nicht, wie die Entscheidung der internationalen
Gemeinschaft ausfallen wird. Wenn aber die UN Entsprechendes
beschließen, müssen auch wir neu nachdenken.
Es wird allerdings unter keinen Umständen die
Zustimmung von mir und meiner Fraktion finden, dass
der Westen wieder einmal allein als Problemlöser auftritt
und sich andere einen schlanken Fuß machen, um uns
später dafür zu verdammen, dass wir etwas falsch gemacht
haben. Das geht nicht mehr.
(Beifall bei der FDP sowie des Abg.
Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU])
Lassen Sie mich zum Abschluss noch ganz kurz auf
den Vorwurf der Opposition eingehen, die Regierung
hätte den rettenden Einsatz in Libyen rechtlich nicht
richtig gehandhabt. Wir von der FDP-Fraktion haben
diesbezüglich die weißeste Weste, die es auf Erden geben
kann.
(Dr. Rolf Mützenich [SPD]: Oh Gott!)
Erstens hat unsere Fraktion das AWACS-Urteil erstritten.
Zweitens haben wir zu Zeiten der rot-grünen Koalition
ein Bundestagsbeteiligungsgesetz vorgelegt, das Sie
leider abgelehnt haben. Hätten wir heute das Gesetz, das
wir damals vorgeschlagen haben, wäre das Beteiligungsrecht
des Parlaments deutlicher definiert und wir wären
besser dran. Es war Ihr Fehler, unter dem Sie heute leiden.
(Beifall bei der FDP)
Wir haben uns die Entscheidung nicht einfach gemacht.
Wir haben sorgfältig geprüft, und nach Abwägung
aller Aspekte kommen wir zu dem eindeutigen
Schluss – mich beeindruckt insbesondere eine Seite des
AWACS-Urteils –, dass das Vorgehen der Bundesregierung
in diesem Fall völlig richtig war und eine Mandatierung
nicht notwendig ist.
Dennoch, lieber Herr Mützenich, ist es natürlich im
Interesse der Bundesregierung und der sie tragenden
Parteien, die Opposition möglichst umfassend in Entscheidungsprozesse
mit einzubeziehen. Das ist im Vorhinein
durch die Information der Fraktionsvorsitzenden
und im Nachhinein durch die Information der Obleute
geschehen. Herr Mützenich, die Bundesregierung hat ein
großes Interesse daran, bei kritischen Einsätzen, die dem
deutschen Interesse dienen – in diesem Fall wurde der
Einsatz zum Glück gut ausgeführt –, weiter kooperativ
zusammenzuarbeiten. Es ist in unserem Interesse, –
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Kollege.
Dr. Rainer Stinner (FDP):
– dass wir mit den Oppositionsparteien eng zusammenarbeiten,
auch wenn die rechtliche Situation uns
nicht dazu zwingt.
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Antrag
vorlegen!)
Das dient unserem Interesse, und das dient vor allem
dem Interesse der betroffenen Menschen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der FDP)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Kollege, ich wollte Sie gar nicht stoppen, sondern
Sie fragen, ob Sie eine Zwischenfrage zulassen
wollen. Das ist aber jetzt nicht mehr möglich, denn die
Redezeit ist leider überschritten.
Ich gebe dem Kollegen Frithjof Schmidt für Bündnis
90/Die Grünen das Wort.
Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir sind Zeugen eines historischen Umbruchs. Millionen
Menschen in der arabischen Welt stehen auf gegen
Unterdrückung und stehen auf gegen ihre korrupten
Herrscher. Diese Menschen kämpfen unter Einsatz ihres
Lebens für Freiheit und Demokratie. Ihnen gehört unsere
Hochachtung und Solidarität.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)
Diese demokratische Revolution kam, glaube ich, für
uns alle überraschend. Deutschland und die Europäische
Union haben in dieser Region Politik nach den Prinzipien
„Für Stabilität sorgen“ und „Kampf gegen den islamistischen
Terrorismus“ gemacht. Deshalb hat der Westen
einseitig auf enge Bündnisse mit autoritären
Regimen gesetzt. Demokratische Bewegungen wurden
nicht ausreichend unterstützt.
Ehrlicherweise müssen wir deshalb Selbstkritik üben.
Das betrifft alle Regierungen der letzten zehn Jahre.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Herr Außenminister, diese Selbstkritik hätte ich heute
auch von Ihnen erwartet.
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)
Ich finde es schade, dass Sie nicht die Kraft aufgebracht
haben, sich das für Ihr Regierungshandeln einzugestehen.
Auch ein selbstkritisches Wort von der Frau Bundeskanzlerin
wäre durchaus angebracht. Die Fehlkonstruktion
der Union für das Mittelmeer geht maßgeblich auf
das Konto von Präsident Sarkozy und das von Frau
Merkel. Sie haben sich damals dafür feiern lassen. Das
hat alle bisherigen Fehler der europäischen Politik in
Nordafrika verschärft. Das fand damals bereits Kritik;
diese aber haben Sie ignoriert.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)
Auch die Reaktionen der Europäischen Union, aber
auch der Bundesregierung auf den Umbruch waren zu
Beginn von Zaudern und Zögern geprägt. Herr Außenminister,
auch Sie haben lange gebraucht, um sich eindeutig
auf die Seite der Demokratiebewegung in Tunesien
und Ägypten zu stellen. Ich meine, zu lange.
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Münchener Sicherheitskonferenz!)
In diesen Ländern ist es gelungen, Machthaber zum
Rücktritt zu zwingen, die bis vor kurzem noch als unantastbar
galten. Dieser Erfolg hat in diesen Ländern zwar
auch vielen Menschen das Leben gekostet, aber Armee
und Teile der Sicherheitskräfte haben sich dort auf die
Seite der Demonstranten gestellt und so ein schlimmeres
Blutbad verhindert.
In anderen Ländern sieht das gerade leider nicht so
aus. In Libyen, wo Gaddafi mit großer Brutalität gegen
die eigene Bevölkerung vorgeht, spitzt sich die Lage zu,
aber auch in Bahrain. Mit dem Einmarsch von etwa
1 000 saudi-arabischen Soldaten hat der Golfkooperationsrat
dort eine neue, sehr gefährliche Stufe der Eskalation
eingeleitet.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Auch im Jemen sucht die Regierung die Konfrontation.
Das schreckliche Beispiel von Oberst Gaddafi strahlt bereits
aus. Wenn wir die Bilder aus Libyen sehen, fühlen
wir wohl alle Wut und Entsetzen.
Ja, es ist klar: Gaddafi muss weg. Und es ist gut, dass
sich die internationale Gemeinschaft darin einig ist. Es
war ein wichtiger Schritt, den Internationalen Strafgerichtshof
einzuschalten. Ebenso wichtig war es, Sanktionen
zu verabschieden. All diese Schritte waren gut, aber
nicht ausreichend. Mir ist es völlig unverständlich, dass
es noch immer nicht gelungen ist, Gaddafi den Geldhahn
zuzudrehen.
(Beifall der Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])
Noch immer gibt es keinen Bann gegen Ölfirmen, die libysches
Öl kaufen oder verkaufen. Es gibt nicht einmal
eine Liste.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)
Noch immer fließt Ölgeld nach Libyen und füllt
Gaddafis Kriegskasse. Das ist skandalös, und damit
muss Schluss sein.
Auch bei der Stärkung der libyschen Opposition ist
nicht genug getan worden. Sie, Herr Außenminister, haben
Vertreter der Opposition hier in Berlin noch nicht
einmal empfangen. Das verstehe ich nicht. Oder haben
Sie sonst etwas getan, um die Opposition in Libyen zu
stärken? Ich sehe da nichts.
Es zerreißt einen innerlich, wenn man Gaddafis Vormarsch
sieht. Er hat gut ausgebildete Truppen mit neuen
Waffen, die in den letzten Jahren geliefert wurden: aus
Frankreich, aus Italien, aus Großbritannien. Auch
Deutschland hat seit der Aufhebung des Waffenembargos
2004 Rüstungsgüter im Wert von über 112 Millionen
Euro an Libyen geliefert, darunter auch Hubschrauber.
Das war unverantwortlich.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Wir alle haben schlimme Befürchtungen, was in
Libyen passiert, sollte Gaddafi weitere Städte der Opposition
einnehmen. Über Sanktionen hinaus wird ja auch
die Einrichtung einer Flugverbotszone diskutiert, um
Gaddafi zu stoppen. Ich halte eine solche Prüfung für
richtig, wenn die Arabische Liga dies fordert. Es ist richtig,
alle Optionen der UN-Charta zu prüfen, die helfen
könnten, die Menschen im Osten Libyens vor Gaddafis
möglicher Rache zu schützen.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Der Einsatz von Militär ist aber die Ultima Ratio und
setzt für uns zwingend ein UN-Mandat voraus. Darüber
hinaus teile ich in diesem Punkt die Skepsis der Bundesregierung
hinsichtlich der militärischen Durchsetzbarkeit
und der Wirkung eines Flugverbotes am Boden. Wir
dürfen aus dem verständlichen Wunsch nach schneller
Hilfe nicht Dinge tun, die militärisch nicht funktionieren
und kontraproduktiv sind. Auch das muss gesagt werden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen die
demokratischen Kräfte in der Region stärken. Selbst in
Tunesien und Ägypten ist die weitere Entwicklung noch
offen. Es gibt immer noch starke Kräfte, die weitreichende
Veränderungen verhindern wollen. Die Uhren
dürfen hier nicht zurückgedreht werden. Diese Völker
brauchen Unterstützung, und sie wollen Unterstützung.
Dass aus diesen Ländern erfolgreiche Demokratien werden,
liegt nicht zuletzt auch im strategischen Interesse
der Europäischen Union. Da geht es um Hilfe beim Aufbau
von Parteien und Gewerkschaften und um Unterstützung
zivilgesellschaftlicher Akteure; zentral ist die Stärkung
der Rolle der Frauen in der Gesellschaft; da geht es
um eine Ausweitung der Entwicklungszusammenarbeit,
erweiterten Handelszugang, Hochschulkooperationen
und vieles mehr.
Es ist schon gesagt worden: Es geht um nicht weniger
als eine Neugestaltung der europäischen Nachbarschaftspolitik.
Europa muss aber auch grundsätzliche
Lehren aus der arabischen Revolution ziehen: Nie wieder
und nirgendwo dürfen Demokratie und Stabilität so
gegeneinander ausgespielt werden, wie wir es in Nordafrika
gemacht haben.
i>
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)
Die Absage an autoritäre Herrschaft und der Glaube an
die Kraft der demokratischen Bewegung müssen zum
Leitmotiv europäischer Außenpolitik werden, und zwar
nicht nur im arabischen Raum.
Danke für die Aufmerksamkeit.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Philipp Mißfelder hat das Wort für die CDU/CSUFraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten
der FDP)
Philipp Mißfelder (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Am 17. Dezember vergangenen Jahres hat sich
der tunesische Gemüsehändler Bouazizi vor lauter Verzweiflung
selbst verbrannt, nachdem er seinen Gemüsestand
verloren hat und von den Gerichten gedemütigt
worden ist. Der Funke des Protestes, der sich daran anschloss
und darin kulminierte, dass das Regime von Ben
Ali gestürzt wurde, sprang nach Ägypten und auf die
ganze Region über. Erst seitdem beschäftigen wir uns
– das gehört zur Ehrlichkeit in dieser Debatte dazu – im
notwendigen Maße und in angemessener Weise mit diesem
Thema.
Ich begrüße zunächst einmal, dass unser Außenminister
in den vergangenen Monaten nachhaltige Akzente
gesetzt und deutlich gemacht hat, dass sich die Bundesregierung
dieses Themas mehr annimmt, als es vorher
der Fall war, und vor allem eine neue Aufgabenteilung in
der Europäischen Union gefordert hat. Man muss selbstkritisch
sagen: Themen, die die arabische Welt und den
Mittelmeerraum insgesamt angingen, sind in der Europäischen
Union viel zu lang früheren Kolonialmächten
überlassen worden, die zum Teil aus nicht nachvollziehbaren
Gründen politische Forderungen erheben, welche
nach unseren Maßstäben nicht umsetzbar sind und deren
Umsetzung aus unserer Sicht auch nicht erstrebenswert
ist.
Vor diesem Hintergrund ist es dringend notwendig,
dass sich die nördlicheren Länder in der Europäischen
Union mehr einbringen; das hat der Außenminister gemacht.
Ich möchte deshalb, Herr Minister, Ihre beiden
erfolgreichen Reisen ansprechen: zum einen die Reise
nach Tunis am 12. Februar und zum anderen die Reise
nach Kairo am 23./24. Februar, von der Sie selbst berichtet
haben. Beide Reisen waren ein Beitrag dazu, den Demonstranten
und den neu aufkommenden politischen
Kräften eine politische Perspektive zu bieten. Diesen
Weg sollten wir weitergehen. Deshalb haben Sie, Herr
Minister, unsere volle Unterstützung auf dem Weg des
Dialogs.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vielfach habe ich allerdings den Eindruck, dass es zu
Begriffsverschiebungen gekommen ist. Wenn für Freiheit
demonstriert wird, dann müssen wir immer auch kritisch
fragen: Für welche Freiheit wird dort demonstriert?
Wer steckt dahinter? Welche Interessen verbinden sich
unter Umständen damit? Ich habe gerade gehört – Rainer
Stinner hat es gesagt –, dass in Ägypten 23 Parteien politisch
aktiv werden wollen. Sicherlich sind einige darunter,
die unter Freiheit nicht universelle Freiheit verstehen
und auch nicht für universelle Menschenrechte eintreten,
sondern zum Beispiel die Rolle der Frau einschränken
wollen. Wir lesen in den Berichten von „Freiheit“ und
der „Befreiung des Volkes“. Dazu sage ich deutlich: Einer
der wichtigsten Punkte unserer wertegebundenen
Politik im Hinblick auf diese Region ist die universelle
Durchsetzung aller Menschenrechte und auch aller Freiheitsrechte;
dazu gehört auch die Freiheit der Frau.
Wir müssen Radikalismus entgegentreten. Deshalb
müssen wir die politische Dimension des Wandels viel
stärker auf unsere Tagesordnung heben, als es in der Vergangenheit
der Fall war, und in der Europäischen Union
viel geschlossener agieren, als dies in den vergangenen
zwei Wochen geschah.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Ich glaube nicht, dass Gaddafi und seine Schergen von
dem Vorgehen der Europäischen Union in den letzten
Wochen beeindruckt sind.
Ich glaube auch nicht, dass wir uns auf Dauer eine öffentliche
Diskussion über das Für und Wider von Optionen
leisten können. Ich glaube vielmehr, dass wir eigene
Akzente setzen müssen. Ich denke, dass wir auf die Forderung
der Arabischen Liga nach Einrichtung einer
Flugverbotszone – Andreas Schockenhoff hat das zu
Recht gesagt; ich stimme dem zu – reagieren müssen.
Wir müssen dafür werben, dass sich die Mitglieder der
Arabischen Liga in die Pflicht nehmen lassen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Dann wird sich auch Deutschland seiner Verantwortung
nicht entziehen können und auch nicht entziehen wollen.
In der Debatte ist schon mehrfach zu Recht gesagt worden,
dass ein solches Flugverbot von der Afrikanischen
Union, von der UNO und der Arabischen Liga mitgetragen
und letztendlich auch gemeinsam durchgesetzt werden
muss.
All dies sind allerdings im weitesten Sinne Nachhutgefechte;
denn leider ist es so – das ist unser Kenntnisstand
am heutigen Tag –, dass sich die Situation der Freiheitskämpfer
in Libyen verschlechtert hat. Über
Maßnahmen, über die wir noch vor einer Woche diskutiert
haben, müssen wir heute eventuell gar nicht mehr
streiten, weil sie unter Umständen wirkungslos geworden
sind. Ich bedauere es sehr, dass eine Chance verpasst
worden ist, durch ein entschlosseneres, einheitlicheres
Auftreten der Europäischen Union mehr zu erreichen.
Angesichts dessen, was sich zurzeit in Libyen vollzieht,
müssen wir uns sehr große Sorgen machen. Die
Mittelmeerregion gehört zu unserer Nachbarschaft. Wir
müssen dafür werben, dass es dort jetzt nicht zu einer
Abrechnung mit der Opposition kommt, dass jetzt kein
weiteres Blutvergießen stattfindet. Im Einvernehmen mit
den Vereinten Nationen sollten wir alle politischen und
weiteren Möglichkeiten dahin gehend prüfen, wie weiteres
Blutvergießen verhindert werden kann.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
Diese ganze Region ist für uns wichtig. Deutschland
und Europa haben nicht nur, aber auch wirtschaftliche
Interessen. Wir müssen das auch selbstkritisch sagen;
dieses Thema ist vorhin schon angesprochen worden.
Firmen, die sich in der Vergangenheit in dieser Region
betätigt haben, fordere ich ausdrücklich auf, bei einem
zukünftigen Engagement darauf zu achten, dass dadurch
nicht nur die Herrscherfamilie an wirtschaftlichem
Wohlstand gewinnt, sondern auch in die Ausbildung der
jungen Menschen investiert wird, sodass diese eine Zukunftsperspektive
erhalten.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten
der FDP)
In den vergangenen Wochen haben wir von eindrücklichen
Beispielen gehört. Man kann zwar sagen, dass die
Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und
Ägypten gut sind und die Wirtschaftsbeziehungen zwischen
Deutschland und Tunesien ausgebaut wurden,
man kann sogar sagen, dass die Wirtschaftsbeziehungen
zwischen Deutschland und Libyen im vergangenen Jahrzehnt
massiv ausgebaut wurden, aber das gilt nur auf
dem Papier. Ich habe nämlich zunehmend den Eindruck,
dass den normalen Bürgern in diesen Ländern, auch weil
wir Fehler gemacht haben, dadurch kaum eine Perspektive
eröffnet und auch keine Teilhabe am Wohlstand ermöglicht
wurde. Ich fordere die deutsche Wirtschaft deshalb
dazu auf, bei ihrem weiteren Engagement darauf zu
achten, dass sie mehr ausbildet und damit auch den jungen
Menschen – das ist gerade vor dem Hintergrund der
demografischen Entwicklung in diesen Ländern wichtig –
eine bessere Perspektive bietet und damit auch Zuversicht
für die Zukunft mit auf den Weg gibt.
Die Situation in Bahrain, Saudi-Arabien und im
Jemen ist je unterschiedlich. Jeder Fall birgt aber große
Risiken für uns und tangiert unsere Interessen, auch unsere
vitalen wirtschaftlichen Interessen, und darf uns
deshalb politisch nicht ruhen lassen. Es hat sich herausgestellt,
dass im Jemen in der Vergangenheit viele Aktivitäten
geplant worden sind, die im Zusammenhang mit
dem internationalen Terrorismus zu sehen sind. Sollte es
dort zu einer weiteren Verschlechterung der politischen
Situation kommen, wird das nicht spurlos an uns vorbeigehen.
Wir stehen vor einem wirklichen Neubeginn, vor
einer Neuausrichtung unserer Nordafrikapolitik, aber
auch unserer Politik bezüglich des gesamten arabischen
Raums. Wir bewegen uns dabei in dem klassischen
Spannungsfeld von wertegebundener Außenpolitik und
interessengeleiteter Außenpolitik. Selbstkritisch müssen
wir sagen, dass wir in der Vergangenheit bei den Kooperationen,
die wir mit einzelnen Regimeführern eingegangen
sind, vielleicht ein Stück weit zu viel Realpolitik betrieben
haben und den Bedürfnissen der Menschen in
den einzelnen Ländern vielleicht nicht immer gerecht
geworden sind.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Da fängt einer an, nachzudenken!)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Günter Gloser hat das Wort für die SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD)
Günter Gloser (SPD):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mit dem arabischen Frühling beweisen die
Völker des Nahen Ostens eindrucksvoll ihr Streben nach
Freiheit, Gerechtigkeit, aber auch nach sozialem Fortschritt.
Ja, was vielleicht ungewöhnlich ist, was wir nie
so recht geglaubt haben, sie kämpfen auch für die universellen
Menschenrechte.
Nicht überall haben Revolutionen stattgefunden. Ich
möchte die Diskussion wieder ein wenig darauf fokussieren,
wie es in Tunesien und Ägypten weitergeht. Was
geschieht in Libyen? Aber daneben gibt es noch andere
Länder des Nahen und Mittleren Ostens. Saudi Arabien,
Bahrain und Jemen wurden hier bereits angesprochen.
Ich möchte auch den Maghreb nicht vergessen. In den
letzten Tagen hat sich gezeigt, dass möglicherweise auch
durch andere Art und Weise ein Umbruch geschehen
kann. So hat der marokkanische König Mohammed VI.
massive Reformen angekündigt. Einen Umbruch stellen
wir uns eigentlich nicht so vor, dass der König diese Reformen
einleitet. Aber wenn es dazu kommt, dass er in
der Tat – das wäre auch eine Revolution – endlich mehr
Macht an die Regierung, aber auch an das Parlament abgibt,
dass man in Marokko darüber diskutiert, Politik zu
regionalisieren, also eine Balance zwischen der zentralen
Ebene und der föderalen Ebene ähnlich wie bei uns
herzustellen, dann finde ich das einen guten Weg.
Aber die erst vor kurzem zu Ende gegangene Reise
der deutsch-maghrebinischen Parlamentariergruppe
nach Algerien, Marokko und Mauretanien zeigte ja, dass
es in anderen Ländern eben nicht so funktioniert. Die
Verknüpfung zwischen Politik und Militär ist so eng,
dass das politische Denken oft durch militärische Kategorien
bestimmt wird, wie es zum Beispiel in Algerien,
aber auch in Mauretanien der Fall ist.
Nachdem all diese Entwicklungen von uns gemeinsam
so festgestellt worden sind, kommt es jetzt auf die
Entschlossenheit der Europäischen Union an und darauf,
ob es gelingt, diese Chancen des Aufbruchs zu nutzen,
oder ob es am Schluss wieder enttäuschte Hoffnungen
vieler Menschen gibt, die ja – beginnend mit dem
17. Dezember in Tunesien und noch weit darüber
hinaus – doch sehr mutig waren. Der Kollege Mißfelder
hat es bereits gesagt. Ich finde, zu dieser Enttäuschung
sollte es nicht kommen.
Wir haben vorhin völlig zu Recht die Rolle der Arabischen
Liga angeführt – damit komme ich jetzt auf das
Thema Libyen und die Europäische Union zu sprechen –
und darauf hingewiesen, dass die Position der Arabischen
Liga teilweise unklar und unbestimmt geblieben
ist, dass sie sehr lange gebraucht hat, um zu einer Entscheidung
zu kommen, und es natürlich auch widersprüchliche
Aussagen gegeben hat. Aber, liebe Kolleginnen
und Kollegen, wie sah es denn mit der Europäischen
Union aus? An dieser Stelle korrigiere ich mich immer
und sage: Ich meine nicht die Europäische Union, sondern
ausdrücklich die Mitgliedstaaten. – Hier gab es
Fehleinschätzungen, Zögerlichkeiten, Spaltung, Handlungsunfähigkeit!
Herr Außenminister, die Sozialdemokratie hat an dieser
Stelle schon bei den ersten Debatten vor einigen Wochen
gesagt: Was passiert da eigentlich vor unserer
Haustür, eine, zwei, drei Flugstunden von uns entfernt?
Und die Europäische Union macht Business as usual.
Wir haben damals schon gefordert, dass sich der Europäische
Rat in einer Sondersitzung damit befassen muss.
Dies ist erst jetzt am 11. März geschehen.
Ich sage ganz bewusst – ich kenne ja das Verhältnis
von Exekutive zu Legislative –: Es gab kein nationales
Parlament, es gab kein Europaparlament, es gab keinen
Parlamentsvorbehalt, es gab auch kein Gerichtsurteil,
das die Mitgliedstaaten der Europäischen Union daran
gehindert hätte, schleunigst zu handeln. Ich weiß von
den Diskussionen auf der letzten Sitzung des Außenministerrats
– Kollege Staatsminister Hoyer hatte damals
auch über die Initiativen der deutschen Bundesregierung
berichtet; das haben wir damals auch ausdrücklich gewürdigt
und unterstützt – und frage: Welches Bild geben
diese Mitgliedstaaten ab?
Die Leute können nicht mehr verstehen, dass man
sich mit der Krümmung der Gurken und anderen Dingen
relativ schnell und zeitnah beschäftigt, die Mitgliedstaaten
aber hinsichtlich dieser vor unserer Haustür stattfindenden
Revolution uneinig sind.
Ich sage an dieser Stelle Folgendes ganz klar, obwohl
ich jemand bin, der sowohl aufgrund früherer Funktionen
als auch jetzt weiterhin zu den deutsch-französischen
Beziehungen steht: Es ist ein Armutszeugnis. Ich
sage dies nicht, um jemanden aus der Regierung gegen
andere Partner auszuspielen. Es kann doch einfach nicht
angehen, dass die französische Seite, ohne sich abzustimmen,
Dinge fordert, von denen man weiß, dass sie
nicht realisiert werden können, beispielsweise was Libyen
angeht. Ich hätte mehr erwartet als immer nur die
feierlichen Gipfel zwischen diesen beiden Ländern. Wir
müssen diese Chance nutzen. Ich sage an dieser Stelle
ganz offen – auch an meine französischen Freunde –:
Die Franzosen haben in den letzten Wochen in dieser
Region sehr viel Renommee verloren, obwohl sie eigentlich
immer mehr oder weniger ein – in Anführungszeichen
– Hausrecht hatten. Das ist vorbei.
Das wäre doch jetzt für uns eine Chance. Wir könnten
zeigen, wie wir das jetzt wieder zusammenbringen. Wir
müssen Deutschland und Frankreich als einen Motor sehen.
Diese beiden Länder verfolgen gemeinsame Projekte;
schließlich heißt es immer, man solle gemeinsam
vorgehen und nicht außerhalb der Europäischen Union.
Ich befürchte aber, dass Frankreich durch sein Vorpreschen
in den letzten Wochen zu viel Kredit verspielt hat.
Das tut auch der Europäischen Union nicht gut, weil die
Europäische Union – das zeigen auch die Besuche und
Gespräche dort – letztendlich ein sehr eigenartiges Bild
abgibt.
Andererseits muss ich sagen, dass dies eine Chance
für uns ist, die Sie, Herr Außenminister, mit Ihrem Brief
an Lady Ashton deutlich gemacht haben. Deutschland
kann in der Tat in dieser Region eine wichtige Aufgabe
übernehmen. Aber – vielleicht werden wir hier in der
nächsten Woche wieder über Libyen diskutieren – das
Fenster ist nur noch einen Spalt breit geöffnet. Herr Außenminister,
ich verstehe – wir alle haben das heute in
der Diskussion freimütig geäußert –, wie schwer das
Einrichten einer Flugverbotszone ist. Sie werden aber in
den Zeitungen zitiert, man wisse nicht, mit wem man es
in diesem libyschen Nationalen Übergangsrat zu tun
habe. Dann stellt sich die Frage: Warum spricht man
nicht miteinander? Das müssen ja nicht Sie machen, das
können ja auch andere aus dem Auswärtigen Amt machen.
(Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister: Das ist
doch geschehen!)
Aber es muss doch nicht erst gewartet werden, bis ein
Beauftragter der Vereinten Nationen oder andere Kolleginnen
und Kollegen mit ihnen sprechen. Sie sagen:
Wenn man die Bilder sieht, ist man schockiert, dann
muss man handeln. – Trotzdem muss man klug handeln,
wobei sich die Frage stellt, was kluges Handeln in dieser
Situation ist. Ich denke, es wäre notwendig gewesen,
mehr Antworten auf die von Ihnen selbst gestellten Fragen
zu geben.
Letztendlich kommen wir in der Europäischen Union
nicht umhin, über unseren Schatten zu springen. Es geht
nicht mehr an – das sagte der marokkanische Außenminister
–, dass wir in der Europäischen Union schon
Gefahren sehen, wenn mehr Produkte in die Europäische
Union eingeführt werden, zum Beispiel schon bei weniger
als 1 Prozent Tomaten aus Marokko, Frühkartoffeln
aus Ägypten oder mehr Bekleidung. Wir können doch
nicht ständig Sonntagsreden halten und sagen, dass wir
mehr kooperieren müssen, und dann am Anfang der
kommenden Woche, wenn wir zu entscheiden haben,
uns dagegen wehren. Bei dieser Frage müssen wir über
unseren Schatten springen genauso wie bei der Frage der
Migration.
Ich stimme Ihnen zu, Herr Außenminister – das haben
Sie mehrfach gesagt –, dass Hilfe zur Selbsthilfe notwendig
ist, aber lesen Sie beispielsweise einmal die
neuen Ausführungen der Deutschen Gesellschaft für
Auswärtige Politik. Die haben wunderbare Statistiken
veröffentlicht, die zeigen, welches Wachstum in den
Ländern notwendig ist, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen.
Wir alle wissen, wie schwer das ist. Zwischen
der Zahl der Abgänger aus Schulen und Universitäten
und der Zahl der Arbeitsplätze klaffen Lücken; dazu
muss man auch das Wachstum betrachten. Hier geht es
um zwei, drei verschiedene Punkte. Ich glaube, dass
auch hier ein entsprechendes Handeln der Europäischen
Union notwendig ist. Einige Mitgliedstaaten, auch unser
französischer Partner, müssen bei der Agrarpolitik endlich
über ihren Schatten springen.
Noch ein Punkt. Jemen wurde bereits angesprochen.
„Friends of Yemen“ tagt seit einigen Monaten, auch mit
Saudi-Arabien. Es war für mich schon immer etwas
schwierig, nachzuvollziehen, dass man den Jeminiten
Vorschläge macht, wie sie sich organisieren sollen, und
dass man ihnen sagt, dass sie Wahlrechtsreformen durchführen
müssen, während der saudi-arabische Partner dabeisitzt.
Dazu kommen jetzt die Vorgänge in Bahrain.
Mich würde interessieren, wie die Bundesregierung
demnächst mit einer solchen Situation umgeht. Ich
glaube, Saudi-Arabien hat da viel verspielt.
Mein letzter Punkt; dies muss auch deutlich in Richtung
unserer Freundinnen und Freunde in Nordafrika gesagt
werden. Der marokkanische Außenminister sagt:
Dem Land gehen 2 Prozent Wachstum allein aufgrund
des ungeklärten Konflikts und der fehlenden Zusammenarbeit
zwischen Algerien und Marokko und des ungelösten
Problems der Westsahara verloren. Wir erwarten aufgrund
all der Anstrengungen, die wir unternehmen, dass
endlich auch in dieser Region eine Süd-Süd-Kooperation
eingegangen wird. Wenn wir über unseren Schatten
springen, können wir dasselbe auch von den Ländern im
Süden erwarten. Sonst sind unsere Anstrengungen für
unsere Bürgerinnen und Bürger nicht verständlich.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Marina Schuster hat das Wort für die FDP-Fraktion.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Marina Schuster (FDP):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir alle stehen unter dem Eindruck der Fernsehbilder,
die uns aus Nordafrika, aus der arabischen
Welt erreicht haben und erreichen. Ich bin froh, dass unsere
Bundesregierung von Anfang an klargemacht hat,
auf wessen Seite sie steht. Wir stehen auf der Seite der
Demokraten, und wir haben dies in unseren Positionierungen
auch klar und deutlich so gesagt.
Ich erinnere daran, dass Alliot-Marie noch kurz vor
dem Sturz von Ben Ali Truppen angeboten hat. Deutschland
war das Land, das Motor war, das versucht hat, eine
einhellige Meinung herbeizuführen, das früh Sanktionen
ins Spiel gebracht hat, gerade im Fall von Libyen.
(Dr. Rainer Stinner [FDP]: Wohl wahr!)
Wir haben das Heft des Handelns in die Hand genommen
und uns nicht von Mitgliedstaaten, die ihre eigene
Politik verfolgen, beeinflussen lassen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Natürlich können wir mit dem Erscheinungsbild der
EU nicht zufrieden sein. Umso wichtiger war es, dass
wir einen klaren Kurs fahren. Dass die EU einheitlich
und geschlossen auftreten muss, haben wir in vielen
Plenardebatten, auch zu anderen Themen, immer wieder
gefordert. Umso schlimmer ist natürlich, wenn wir gerade
im Fall von Tunesien und Ägypten, aber auch im
Fall von Libyen erleben, dass die Positionen der Mitgliedstaaten
auseinandergehen.
Es ist mehrmals angesprochen worden, dass wir gerade
in Libyen Kontakte zur Opposition pflegen sollten.
Auf Arbeitsebene geschieht dies auch. Nur, eines müssen
wir zur Kenntnis nehmen: Die Lage ist sehr unübersichtlich.
Wir kennen die Figuren, die dem nationalen
Interimsrat angehören. Ich glaube, es ist ein Gebot der
Stunde, dass wir unsere Gesprächspartner und das Vorgehen
auch hier mit Bedacht wählen.
(Beifall bei der FDP – Dr. Frithjof Schmidt
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frau Clinton
hat es getan!)
Die Mitglieder des Menschenrechtsausschusses des
Deutschen Bundestages haben in Genf an der Sitzung, in
der über den Ausschluss Libyens aus dem Menschenrechtsrat
diskutiert worden ist, teilgenommen. Die Entscheidung,
die getroffen wurde, begrüße ich sehr. Ich bin
froh, dass sich auch die Generalversammlung ganz klar
positioniert hat. Angesichts der Schwere der Menschenrechtsverletzungen
kann es hier keine andere Antwort
geben. Libyen hätte nie einen Sitz im Menschenrechtsrat
erhalten sollen.
Meine Damen und Herren, ich möchte kurz auf die
Situation der Flüchtlinge eingehen. Markus Löning, der
Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, hat
Flüchtlingslager an der tunesisch-libyschen Grenze besucht.
Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass
sich allein dort 250 000 Flüchtlinge befinden. Die Bundesregierung
hat Hilfe in Höhe von insgesamt 5 Millionen Euro zugesagt. Dabei werden Mittel für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz bereitgestellt.
Jetzt geht es auch darum, gerade in Libyen die medizinische
Notversorgung sicherzustellen und die Entwicklung
in den Flüchtlingslagern genau zu beobachten. Ich begrüße
sehr, dass wir hier humanitäre Hilfe leisten, um
die Situation der Flüchtlinge zu verbessern.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Ich möchte nun ganz kurz auf die politische Situation
eingehen. Wir dürfen nicht vergessen: Die Länder Ägypten
und Tunesien befinden sich in einer sehr wichtigen,
aber auch fragilen Transformationsphase. Unseren politischen
Stiftungen bietet sich jetzt die Möglichkeit, die
Kontakte, die sie in den vergangenen Jahren aufgebaut
haben, zu nutzen. In der Vergangenheit war die Situation
allerdings eine andere. Die Angehörigen von Oppositionsparteien,
zu denen wir Kontakte hatten, wurden inhaftiert,
und die Parteien waren nicht zu Wahlen zugelassen.
Jetzt ist die Möglichkeit da, sich auf die Wahlen
vorzubereiten. Deswegen begrüße ich sehr, dass uns mit
unseren politischen Stiftungen vor Ort Organisationen
zur Verfügung stehen, die mit der Zivilgesellschaft zusammenarbeiten
und die demokratischen Strukturen
stärken können.
Eines dürfen wir nicht vergessen – das ist von meinen
Vorrednern bereits angesprochen worden –: Jetzt geht es
natürlich auch darum, eine ökonomische Perspektive zu
schaffen. Die Forderung, unsere eigenen Handelshemmnisse
für Agrarprodukte zu senken, betrifft natürlich
auch den Textilsektor. Dazu gehört auch, dass wir den
Tourismussektor wieder beleben, sofern die Sicherheitslage
in den entsprechenden Gebieten dies zulässt.
Eines ist allerdings auch klar: Wenn die sozialen
Missstände nicht behoben werden, wenn die ökonomische
Verbesserung nicht eintritt, kann dies dazu führen,
dass der gesamte Transformationsprozess ins Schlingern
gerät. Deswegen ist es wichtig, eine ökonomische Perspektive
zu bieten.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Einen letzten Punkt möchte ich noch ansprechen. Wir
haben uns in den Debatten, die wir im Menschenrechtsausschuss
geführt haben, auch um das Thema Religionsfreiheit
gekümmert. Ich möchte am Beispiel Ägypten
klarmachen, was es für ein Land, in dem die Staatsreligion
der Islam ist, in dem die Bevölkerung tief religiös
ist, heißt, jetzt eine politische Ordnung zu schaffen, die
Religionsfreiheit, Toleranz und Pluralismus beinhaltet.
Ich denke, dass auch solche Fragen diskutiert werden
müssen und dass man sich auch damit befassen muss,
wie der Schutz der Religionsfreiheit zugunsten der Menschen
besser ausgestaltet werden kann.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Frau Kollegin!
Marina Schuster (FDP):
– Ich komme zum Schluss.
Unser Weg ist klar: Wir bieten Hilfe und Unterstützung
an, allerdings nicht mit dem erhobenen Zeigefinger
oder durch Bevormundung, sondern mit ehrlichen und
brauchbaren Angeboten. Das ist unser Weg, und den
werden wir auch weiterhin gehen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Das Wort hat der Kollege Dr. Wolfgang Götzer für die
CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Seit Wochen sind wir Zeugen des dramatischen
Umbruchs, der gewaltigen Umwälzungen in der arabischen
Welt. Dabei hat vor allem die verbrecherische
Gewalt, mit der Gaddafi in Libyen seine Macht sichern
will, weltweit für Empörung gesorgt. Aber auch in anderen
Ländern bleibt die Lage nach gewaltsamen Auseinandersetzungen
zwischen Protestierenden und Sicherheitskräften
angespannt. In Algerien, Bahrain,
Jordanien, Irak, Iran, Marokko und dem Jemen beispielsweise
ist es in den vergangenen Wochen immer
wieder zu Protesten gekommen. Dabei gab es zahlreiche
Verletzte und auch Tote.
Am 11. März dieses Jahres ist daher der Europäische
Rat zu einer außerordentlichen Sitzung zusammengekommen,
und allein dies ist ein starkes Signal dafür, wie
wichtig der Europäischen Union eine gemeinsame Reaktion
auf die Geschehnisse ist. So etwas hat es in den
vergangenen zehn Jahren nur dreimal gegeben: beim
Georgienkrieg, beim Irakkrieg und nach den Terroranschlägen
vom 11. September.
In vielen arabischen Ländern fürchten die Herrscher
den Verlust ihrer Macht. In Tunesien und Ägypten ist der
Sturz der Despoten bereits erfolgt. Bahrain ruft saudische
Truppen ins Land. In Libyen droht die Revolte in
einen langen und blutigen Bürgerkrieg zu münden, wofür
die libysche Führung die alleinige Verantwortung
trägt.
Die internationale Gemeinschaft sieht dem mörderischen
Wüten Gaddafis nicht tatenlos zu. Zahlreiche
Sanktionen und andere Konsequenzen wurden inzwischen
von den Vereinten Nationen, der Europäischen
Union und den USA beschlossen. Damit wurden klare
Signale gesetzt, dass das menschenverachtende Vorgehen
gegen das eigene Volk von der Weltgemeinschaft
nicht hingenommen wird.
Was allerdings die Forderung nach der Errichtung einer
Flugverbotszone angeht, so müssen wir uns – und
das ist heute schon mehrmals angesprochen worden –
darüber im Klaren sein, dass dies eine militärische Intervention
bedeutet. Deshalb ist es auch ein klarer Widerspruch,
wenn uns die Arabische Liga einerseits zur Errichtung
einer solchen Zone auffordert, uns andererseits
aber gleichzeitig vor jeglicher Form einer militärischen
Intervention warnt.
Ein Flugverbot lässt viele Fragen offen und birgt viele
Risiken. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich die Arabische
Liga – derzeit hat es diesen Anschein – daran
nicht beteiligen will. Ich nenne zum Beispiel das Risiko
vieler ziviler Todesopfer. Zivile Todesopfer in einem
arabischen Land durch eine westliche militärische Intervention
könnten schnell zu einer Verschärfung der im
arabischen Raum ohnehin weit verbreiteten antiwestlichen
Stimmung führen.
Damit der Wandel hin zur Demokratie Erfolg und Bestand
hat, muss – davon bin ich überzeugt – die Befreiung
von den alten Machthabern durch die einheimische
Bevölkerung selbst erfolgen. So etwas kann nicht in
Brüssel oder in Berlin geschehen.
Was wir aber tun können und müssen, ist Folgendes:
Wir müssen in enger Abstimmung mit den internationalen
Partnern weiterhin darauf hinwirken, dass die Gewalt
in Libyen sofort beendet wird.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
Nach wie vor hat es auch höchste Priorität, alle humanitären
Anstrengungen zu unternehmen, um die aus Libyen
in die Nachbarländer geflohenen Menschen zu unterstützen.
Gemeinsam mit den Partnern der EU sollte
den Ländern Nordafrikas sowie des Nahen und des Mittleren
Ostens ein breites Angebot für eine zielorientierte,
bedarfsgerechte und partnerschaftliche Unterstützung
des Wandels unterbreitet werden. Hierfür sollten auch im
EU-Haushalt Ressourcen zur Verfügung gestellt werden.
Bei diesem Angebot müssen die Gründe der Proteste
zum Ausgangspunkt genommen werden, und es muss an
den Bedürfnissen der Menschen ausgerichtet sein. Gerade
in der Zeit des Übergangs sind schnelle, spürbare
Verbesserungen der Lebensumstände und Erfolge vonnöten,
damit der politische Wandel von einer breiten
Mehrheit der Bevölkerung getragen und akzeptiert wird.
Von besonderer Bedeutung ist, dass die Reformen institutionell
und verfassungsrechtlich abgesichert werden.
Deshalb müssen wir unbedingt unsere Hilfe beim Aufbau
eines Mehrparteiensystems, bei der Vorbereitung
und Durchführung freier Wahlen, bei der Stärkung der
Zivilgesellschaft, bei der Bekämpfung der Korruption
und beim Aufbau einer unabhängigen Justiz anbieten.
Die politischen Stiftungen spielen hier eine wichtige
Rolle – auch das ist schon erwähnt worden; ich möchte
das noch einmal unterstreichen – und können eine wertvolle
Hilfe leisten.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Klar muss auch sein: Finanzielle Unterstützungsleistungen
der EU müssen zukünftig viel stärker als bislang
von politischen und rechtsstaatlichen Reformen abhängig
gemacht werden.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, bislang gab es
keinen islamischen Staat mit einer funktionierenden Demokratie
nach unseren Maßstäben. Der stattfindende
Umbruch in der arabischen Welt ist eine Chance, dass
sich daran etwas ändert.
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Da können
Sie aber lange warten!)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Das Wort hat der Kollege Ruprecht Polenz für die
CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten
der FDP)
Ruprecht Polenz (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Umbruch in der arabischen Welt: Was hat sich im Vergleich
zum vorigen Jahr eigentlich geändert? Ich glaube,
der entscheidende Punkt ist: Die Menschen haben keine
Angst mehr. Deshalb ist es so wichtig, dass wir ihnen
moralische, materielle und politische Unterstützung geben,
und ich finde, die Bundesregierung hat dies mit ihrer
Antwort auf diese Umbrüche in der arabischen Welt
auch entschlossen und klug getan.
Wir als Bundesrepublik Deutschland haben Hilfe in
Form einer Transformationspartnerschaft in der ganzen
Breite der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen
Entwicklung angeboten. Wir haben sie in den
Blick genommen. Gleichzeitig haben wir aber deutlich
gemacht: Es ist Sache der Araber, der Menschen in diesen
Ländern selbst, darüber zu entscheiden, welchen
Weg sie einschlagen wollen und wie sie sich ihre Zukunft
vorstellen.
Die Region hat eine globale Bedeutung. Das haben
wir in dieser Debatte vielleicht noch etwas wenig beleuchtet.
In dem Gebiet von Marokko bis zum Persischen
Golf liegen die Energiereserven an Öl und Gas für
die ganze Welt, und die Bedeutung dieser Region wird
durch die atomare Katastrophe in Japan eher zu- als abnehmen.
Auch für Deutschland und die Europäische Union hat
der Nahe und Mittlere Osten eine strategische Bedeutung,
und wir haben dort eigene Interessen; das müssen
wir in dieser Debatte auch sagen.
Was sind unsere Interessen?
Wir haben erstens ein Interesse an wirtschaftlicher
Zusammenarbeit im Bereich der Energie: beim Öl, beim
Gas und in Zukunft aber auch bei der Solarenergie. Wir
haben ein Interesse an den Märkten, die sich in dieser
Region auch für unsere Wirtschaft ergeben.
Wir haben zweitens ein strategisches Interesse an der
Sicherheit Israels.
Wir haben drittens das Interesse, dass wir Migrationsund
Flüchtlingsströme aus dieser Region oder durch
diese Region nach Europa vermeiden, vor allen Dingen
dadurch, dass wir die Ursachen für diese Flüchtlingsströme
in diesen Ländern und gemeinsam mit diesen
Ländern dann auch weiter südlich bekämpfen.
Deshalb haben wir viertens ein Interesse an Modernisierung,
Reformen und guter Regierungsführung.
Last, but not least möchte ich fünftens das Interesse
daran nennen, den Terrorismus, der in dieser Region
seine Wurzeln hat, wie sich immer wieder zeigt, gemeinsam
mit den Ländern dieser Region zu bekämpfen.
Was in Tunesien, Ägypten, Libyen und Bahrain geschieht,
ist zuallererst Sache der Tunesier, Ägypter, Libyer
und Bahrainer. Aber wir müssen ihnen dabei helfen,
das selbst zu gestalten. In Tunesien und Ägypten geht es
um Partizipation, Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte.
Die Hilfen sind in der Debatte beschrieben
worden. Es geht aber auch um Ökonomie, um die Marktöffnung
auch im Bereich der Agrarpolitik, um Marktwirtschaft
und Korruptionsbekämpfung.
Ich will an dieser Stelle ein Stichwort aufgreifen, das
immer wieder genannt wird, wenn es heißt, die Region
brauche jetzt einen Marshallplan. Das ist richtig. Sie
braucht auch ein Konzept zur interregionalen Zusammenarbeit.
Das ist sehr wichtig. Denn es gibt in der Region
genug Geld. Es geht aber auch darum, dass wir
dazu beitragen, dass das Milliardenvermögen der Ben
Alis und Mubaraks, das eigentlich das Geld der Bevölkerung
dieser Länder ist, wieder seinen Weg dorthin zurückfindet.
Wir sollten dazu beitragen, dass die hohen
zweistelligen Milliardenbeträge – es wird einem
schwindlig vor Augen, wenn man hört, welche Summen
diese Herrscher zur Seite geschafft haben – zugunsten
des Aufbaus der Länder, um die es geht und denen das
Geld eigentlich gehört, zurückgeführt werden.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten
der FDP)
Ich will an das anknüpfen, was der Kollege Stinner im
Hinblick auf Bahrain gesagt hat. Denn ich glaube, dass
wegen der Diskussion um Libyen die Brisanz der Entwicklung
in Bahrain etwas aus dem Blick gerät. Es gibt
drei Besonderheiten, die den Konflikt und die Situation
in Bahrain von allen anderen Ländern unterscheiden.
Das sind erstens die interreligiöse Dimension des Konflikts
mit Blick auf die Sunniten und Schiiten und zweitens
die grenzüberschreitende Dimension wegen einer
Involvierung Saudi-Arabiens einerseits und möglicherweise
des Iran andererseits, die es in anderen Ländern
nicht gibt. Drittens gibt es eine internationale Dimension.
Denn in Bahrain hat die fünfte amerikanische
Flotte ihre Basis. Das alles macht die Lage dort so brisant.
Leider hat die Regierung, das Königshaus in Bahrain,
auf die ursprünglichen Forderungen nach Partizipation
und Reformen nicht konstruktiv reagiert. Sie hat den
Zeitpunkt verpasst. Aber ich bin mit Ihnen, Herr Stinner,
einer Meinung. Die Intervention durch den Golfkooperationsrat
mit etwa 500 Polizisten und Saudi-Arabien mit
etwa 1 000 Soldaten eskaliert. Auf diese Weise lassen
sich die Unruhen nicht dauerhaft befrieden. Das ist nur
durch Reformen und Partizipation möglich.
Man darf das nicht durch die enge religiöse Brille sehen,
aber es besteht die Gefahr, dass gerade durch die Intervention
Saudi-Arabiens diese Perspektive deutlich
verstärkt wird. Wenn wir in Zukunft an einer möglichst
widerspruchsfreien Politik für den Nahen Osten arbeiten
wollen, dann dürfen wir nicht zulassen, dass das Reformtempo
in Bahrain durch Saudi-Arabien bestimmt
wird. Denn dann dauert es mit Sicherheit zu lange.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN)
Noch eine letzte Bemerkung zu Libyen: Es ist viel zu
den Problemen im Zusammenhang mit der Flugverbotszone
gesagt worden. Ich habe mich dazu schon öffentlich
geäußert. Ich bin bei meinem Besuch in Oman und
Katar von meinen arabischen Gesprächspartnern darauf
aufmerksam gemacht worden, warum Gaddafi gefallene
Gegner exhumieren lässt. Das sind bestätigte Nachrichten.
Er macht es deshalb, um sie zu identifizieren und
sich an ihren Familien zu rächen. Das zeigt, was dort
möglicherweise auch noch auf die Bevölkerung zukommt.
Deshalb kann man, Herr Außenminister, wenn man
erstens richtigerweise fordert „Gaddafi muss weg!“ und
zweitens richtigerweise sagt, dass ihn der Internationale
Strafgerichtshof erwartet, nicht nur abwarten, dass mittelfristig
Sanktionen dazu führen, dass er irgendwann
dort landen wird.
Ich glaube, wir stehen noch vor der Aufgabe, zunächst
die Frage einer Resolution und der Beteiligung
der Arabischen Liga zu beantworten. Dann geht es um
die Umsetzung der Forderung „Gaddafi muss weg! Er
muss vor Gericht gestellt werden“. Ich glaube, vor dieser
Aufgabe stehen wir noch. Das wird uns auch im Sicherheitsrat
noch einiges abverlangen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten
der FDP und des Abg. Dr. Rolf
Mützenich [SPD])
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5040. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag?
– Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit
ist der Entschließungsantrag bei Zustimmung durch die
einbringende Fraktion abgelehnt. Die übrigen Fraktionen
haben dagegen gestimmt.
Quelle: Deutscher Bundestag: Stenografischer Bericht, 95. Sitzung, Berlin, Mittwoch, den 16. März 2011; Plenarprotokoll 17/95; www.bundestag.de
Dokumentiert: Der Antrag der Linksfraktion
Drucksache 17/5040
16.03.2011
Entschließungsantrag
der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Paul Schäfer, Jan van Aken, Christine
Buchholz, Sevim Dağdelen, Dr. Diether Dehm, Annette Groth, Nicole Gohlke, Heike Hänsel, Inge Höger, Andrej Hunko, Harald Koch, Stefan Liebich, Niema Movassat, Thomas Nord, Alexander Ulrich, Kathrin Vogler, Katrin Werner und der Fraktion DIE LINKE.
zu der Abgabe einer Regierungserklärung
durch den Bundesminister des Auswärtigen
Umbruch in der Arabischen Welt
Der Bundestag wolle beschließen:
I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
-
Die Menschen, die in Libyen unter Gefahr für ihr Leben und ihre Gesundheit für ein freies,
demokratisches, soziales Libyen demonstrieren, verdienen unsere Solidarität. Nichts kann die
Niederschlagung der Proteste mit Waffengewalt durch die Regierung rechtfertigen.
- Mittlerweile findet in Libyen ein Bürgerkrieg statt, in dem zivile Artikulationsformen keinen
Raum mehr haben.
- Eine Flugverbotszone aber könnte den Anfang einer militärischen Eskalation darstellen.
- Die Bundesregierung hat im Jahr 2009 die Lieferung von Rüstungsgütern imWert von
53,2 Mio. Euro an Libyen genehmigt. Sie erlaubte damit eine 13-mal so hohe Lieferung wie
noch 2008 und hat damit Diktator Gaddafi dabei geholfen, Waffen gegen die eigene
Bevölkerung zu richten.
- Der Bundestag protestiert gegen die Gewalttaten des Gaddafi-Regimes und fordert die
sofortige Einstellung des Einsatzes der libyschen Armee, der Söldner und die Einstellung aller
Kampfhandlungen.
- Bei der Lösung des Konfliktes ist die strikte Beachtung des Internationalen Rechts
unverzichtbar. Das Parlamentsbeteiligungsgesetz wurde unter anderem durch den Einsatz von
AWACS Flugzeugen, der durch das Mandat Operation Active Endeavour nicht gedeckt ist,
missachtet.
II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
-
dass Deutschland als Mitglied des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen dafür eintritt, dass
der Weg für eine friedliche, gewaltfreie Lösung des Libyen-Konfliktes geöffnet wird. In
geeigneter Art und Weise müssen die Vereinten Nationen internationale Vermittlungen zur
Beendigung des Bürgerkrieges befördern und dabei das Internationale Recht strikt einhalten;
- dass Deutschland in der NATO eindeutig alle Maßnahmen zurückweist, die zu einer
internationalen militärischen Auseinandersetzung führen könnten. Zu solchen Maßnahmen
gehören die Aufforderung des französischen Präsidenten Sarkozy, Ziele in Libyen mit der
Luftwaffe anzugreifen, die Einrichtung von Flugverbotszonen, das Zusammenziehen von
Truppen im Mittelmeerraum und die Vorbereitung von Spezialkräften auf ein mögliches
militärisches Eingreifen;
- das Parlamentsbeteiligungsgesetz zu beachten und dem Deutschen Bundestag unverzüglich
das Mandat für den Einsatz „Pegasus“ und der AWACS-Flugzeuge vorzulegen;
- notwendige nichtmilitärische Maßnahmen zur Unterstützung der libyschen Bevölkerung zu
ergreifen und humanitäre Hilfe für Flüchtlinge aller Nationalitäten bereit zu stellen.
Deutschland soll innerhalb der Europäischen Union dafür eintreten, dass Flüchtlinge rasch und
unbürokratisch von den Mitgliedsländern der Union einschließlich Deutschlands
aufgenommen und die Verträge über die Zusammenarbeit im FRONTEX-Vertragssystem
beendet werden;
- die Rüstungsexporte in die gesamte Region dauerhaft einzustellen und alle anderen Staaten
aufzufordern dies ebenfalls zu tun;
- den Kauf von libyschem Erdöl und die Zahlungen dafür an Libyen sofort einzustellen.
Berlin, den 16. März 2011
Dr. Gregor Gysi und Fraktion
Quelle: Deutscher Bundestag; http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/050/1705040.pdf
Zurück zur Libyen-Seite
Zur Seite mit den Bundestags-Debatten
Zur Nahost-Seite
Zur Seite "Deutsche Außenpolitik"
Zur Parteien-Seite
Zur Seite "Militärinterventionen"
Zurück zur Homepage