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Guido Westerwelle: "Wir wollen und dürfen nicht Kriegspartei in einem Bürgerkrieg in Nordafrika werden" - Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): "Da hat er recht!"

Regierungserklärung des Außenminister und anschließende Bundestags-Debatte über den "Umbruch in der Arabischen Welt" (Wortlaut)

Am 16. März 2011 debattierte der Bundestag über die deutsche Politik gegenüber dem arabischen Raum. Einen großen Stellenwert nahm dabei die Frage eines militärischen Eingreifens in Libyen ein. Die Debatte wurde eröffnet mit einer Regierungserklärung des Außenministers. Die Rednerinnen und Redner sptrachen in dieser Reihenfolge:

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 2 auf:

Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister des Auswärtigen
Umbruch in der Arabischen Welt

Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundesminister des Auswärtigen, Herr Dr. Guido Westerwelle.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Auswärtigen:

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nordafrika und die arabische Welt erleben eine historische Zäsur. Die Freiheitsbewegung, die als Jasmin-Revolution auf den Straßen Tunesiens begann, hat viele andere Staaten erreicht. Als Demokraten stehen wir an der Seite von Demokraten. Wir Deutschen haben das Glück, eine friedliche Revolution im eigenen Land erlebt zu haben, die zur Einheit unseres Landes und zur Vereinigung Europas geführt hat. Unser Land ist auf den Werten der Freiheit gebaut. Es sind diese freiheitlichen Werte, nach denen jetzt Millionen Menschen im nördlichen Afrika und in der arabischen Welt verlangen. Wir werden diese Völker dabei als Bundesrepublik Deutschland unterstützen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Die Sehnsucht nach Freiheit ist nicht begrenzt auf eine Kultur, auf eine Region oder gar auf eine Religion. Es ist ein Irrglaube, es gebe Kulturen, in denen der Mensch auf Dauer unfrei sein müsse. Es gibt keine Kultur der Unfreiheit. Unfreiheit ist Ausdruck von Unkultur. Eine weitere Erkenntnis können wir aus dieser Entwicklung gewinnen: Nicht eine autokratische Regierung macht ein Land stabil, sondern eine stabile Gesellschaft ist die Voraussetzung für die Stabilität eines Landes. Wir wollen stabile Demokratien und demokratische Stabilität.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, in Marokko hat König Mohammed VI. vor wenigen Tagen eine Verfassungsreform eingeleitet, die viele Forderungen aus der Gesellschaft aufgreift. Das macht Mut, aber es werden die Taten zählen. Das Beispiel Marokko zeigt, wie eine Regierung den Weg zur Öffnung und zur Demokratisierung der Gesellschaft einschlagen kann.

Mit großer Sorge blicken wir nach Jemen, wo ein von breiten Schichten der Gesellschaft getragener Protest immer gewaltsamer niedergeschlagen wird. Bereits vor einem Jahr, bei meinem Besuch im Jemen, habe ich Präsident Salih eindringlich darauf hingewiesen, wie notwendig der friedliche gesellschaftliche Ausgleich für die Stabilität des Jemen ist. Heute müssen wir feststellen: Die Zeit wurde nicht genutzt, und die Lage im Jemen hat sich dramatisch verschlechtert.

Mit Sorge verfolgen wir auch die alarmierenden Nachrichten aus Bahrain. Wir rufen alle Beteiligten im Land selbst zum Dialog auf, und wir rufen die Länder in der Region zur Zurückhaltung auf. Die Eskalation der Gewalt muss ein Ende haben und einem ernsthaften Dialog, einem nationalen Dialog zwischen Regierung und Opposition Platz machen. Eine Lösung muss im Land selbst gefunden werden.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Im Iran geht die Führung in diesen Tagen erneut mit äußerster Härte gegen die Opposition vor. Die iranische Regierung will mit diesem Vorgehen Stärke demonstrieren, sie offenbart aber nur Schwäche.

(Beifall des Abg. Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP))

Wir fordern die iranische Führung auf, die Unterdrückung der Opposition unverzüglich zu beenden und dem iranischen Volk die ihm zustehenden Freiheitsrechte zu gewähren.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Sehnsucht nach Freiheit und Teilhabe, nach Würde und Gerechtigkeit wächst auch in vielen anderen Ländern des Mittleren Ostens von Tag zu Tag und bricht sich Bahn. Die Lage in der Region ist von Land zu Land verschieden. Deshalb brauchen wir maßgeschneiderte politische Antworten. Eines aber haben alle diese Aufbrüche gemeinsam: den unbedingten Willen zu Freiheit, zu Teilhabe und zu neuen Chancen.

Ich danke den Frauen und Männern der Bundeswehr, den Angehörigen des auswärtigen Dienstes und den vielen Hilfsorganisationen für ihre Leistung bei der Evakuierung deutscher Staatsangehöriger aus Libyen und für ihren Beitrag, zahlreiche ägyptische Flüchtlinge wieder in ihre Heimat zu ihren Familien zu bringen. Wenn alles gut gegangen ist, denkt man, dass es einfach war. Aber ich weiß, dass es alles andere als einfach war. Deswegen möchte ich vor diesem Hohen Hause - ich hoffe, in Ihrer aller Namen - diesen Dank ausdrücklich aussprechen.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

In Libyen führt ein Diktator Krieg gegen das eigene Volk. Im Angesicht dieses Verbrechens ist sich die internationale Staatengemeinschaft einig: Der Diktator muss gehen. Mit seinen Taten stellt sich Oberst Gaddafi außerhalb der Völkergemeinschaft. Er hat jede Legitimation verwirkt. An dieser frühzeitig eingenommenen eindeutigen und entschiedenen Haltung der Bundesregierung ändern auch vergiftete Freundlichkeiten des Diktators nichts.

Wir haben mit unserer Forderung nach raschen Sanktionen breite Unterstützung im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und in der Europäischen Union erhalten. Die Auslandsvermögen der Herrscherfamilie wurden eingefroren. Reiseverbote sind in Kraft. Wir sind uns im Sicherheitsrat, in der Europäischen Union und auch unter den G-8-Staaten - das hat gestern das Treffen der Außenminister gezeigt - einig, dass der Diktator für diesen Feldzug gegen sein eigenes Volk zur Verantwortung gezogen werden muss. Das wird Aufgabe des Internationalen Strafgerichtshofs sein. Wir setzen uns in New York dafür ein, den politischen Druck weiter zu erhöhen, bis dieses Ziel erreicht ist. Wir werden im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen heute und in den kommenden Tagen das weitere Vorgehen abstimmen. Die Bundesregierung wirbt in New York nachdrücklich für noch umfassendere Wirtschafts- und Finanzsanktionen. Wir wollen die Geldflüsse in das System Gaddafi, soweit irgend möglich, stoppen. Wir wollen dem Regime die Grundlage seines Handelns und seines Krieges gegen das eigene Volk entziehen.

Die Bilder und die Nachrichten von vorrückenden Truppen Gaddafis, von blutiger Gewalt und von gefallenen Städten in Ostlibyen bedrücken uns. Aber die vermeintlich einfache Lösung einer Flugverbotszone wirft mehr Fragen und Probleme auf, als sie zu lösen verspricht. Die Flugverbotszone - darüber kann auch das Wort nicht hinwegtäuschen - ist eine militärische Intervention, bei der nicht einmal klar ist, dass sie in einem Land wie Libyen wirkungsvoll sein kann. Ich darf darauf aufmerksam machen, dass Libyen ein Land ist, das etwa viermal so groß ist wie die Bundesrepublik Deutschland.

Am Ende darf nicht genau das Gegenteil dessen stehen, was wir politisch erreichen wollen. Am Ende darf unser Handeln nicht zu mehr Gewalt - statt zu mehr Freiheit und zu Frieden - führen. Ein solches Ergebnis würde die demokratischen Bewegungen in ganz Nordafrika schwächen und nicht stärken. Jeder Schritt muss auch vor dem Hintergrund bewertet werden, welche Folgen er für die Staaten in Nordafrika hätte, die sich seit der Jasmin-Revolution in Richtung Demokratie, in Richtung von mehr Freiheit auf den Weg gemacht haben.

Die Folgen eines Militäreinsatzes würden nicht nur Libyen betreffen, sondern in die gesamte nordafrikanische Region und in die gesamte arabische Welt ausstrahlen. Wir verstehen, dass alle Möglichkeiten geprüft werden. Das Durchsetzen einer Flugverbotszone aber ist eine militärische Intervention. Niemand soll sich der Illusion hingeben, es gehe lediglich um das Aufstellen eines Verkehrsschildes. Um ein Flugverbot durchzusetzen, müsste zunächst die libysche Flugabwehr militärisch ausgeschaltet werden. Die Bundesregierung betrachtet deshalb ein militärisches Eingreifen in Form einer Flugverbotszone mit großer Skepsis. Wir wollen und dürfen nicht Kriegspartei in einem Bürgerkrieg in Nordafrika werden. Wir wollen nicht auf eine schiefe Ebene geraten, an deren Ende dann deutsche Soldaten Teil eines Krieges in Libyen sind.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der LINKEN - Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Da hat er recht! Das muss Ihnen nicht peinlich sein!)

- Ich wünschte, meine Damen und Herren von der Linksfraktion, Sie wären auch bei anderen Fragen so entschieden, wenn es um Demokratie und Freiheit geht.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Aber was geschieht, wenn die Angriffe am Boden weitergehen? Müssen wir Gaddafis Panzer dann aus der Luft bekämpfen? Und wenn das nicht reicht, müssen wir dann Bodentruppen schicken? Die Alternative ist nicht Tatenlosigkeit, sondern sind gezielte Sanktionen, die den Druck auf Gaddafi erhöhen. In den vergangenen Tagen haben wir zudem erste Kontakte mit dem Nationalen Übergangsrat geknüpft. Wir sehen in ihm einen wichtigen politischen Ansprechpartner.

Die Entscheidung über den richtigen Weg im Angesicht menschenverachtender Gewalt ist alles andere als einfach. Als Mitglied des Sicherheitsrates trägt Deutschland in dieser schwierigen Lage besondere Verantwortung für die internationale Sicherheit. Wir respektieren und begrüßen den Beschluss der Arabischen Liga vom vergangenen Wochenende. Aber wir sehen die Verantwortung für das weitere Handeln der internationalen Staatengemeinschaft zuerst bei den Staaten der Region. Dies wird auch unsere Haltung bei den Beratungen in New York bestimmen.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren, eine stabile Demokratie entsteht nicht über Nacht. Ein solcher Prozess kann Jahre, manchmal Jahrzehnte dauern. Wir wollen die Länder Nordafrikas dabei unterstützen, eine feste, tragfähige Demokratie in einer starken Zivilgesellschaft zu verankern. Wir stehen in der arabischen Welt vor einem Neubeginn voller Chancen. Aber nicht nur die Völker der Region, sondern auch wir brauchen einen langen Atem. Dieser arabische Frühling ist eine historische Chance für Frieden und Wohlstand in der gesamten Region mit positiven Folgen weltweit. Deutschland und Europa stehen als Partner bereit, damit der demokratische Aufbruch in Nordafrika und anderen Teilen der arabischen Welt tatsächlich gelingen kann.

Der Umbruch in Tunesien und Ägypten ging von der Mitte der Gesellschaft aus, und er wurde von ihr getragen. Wir haben größten Respekt vor dem Mut all jener, die friedlich und ohne Waffen auf die Straße gegangen sind, um sich den Herrschenden in ihren Ländern entgegenzustellen. In den Straßen von Tunis können die jungen Frauen und Männer vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben völlig frei reden. Sie haben vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben das Gefühl, ihre eigene Zukunft in den Händen zu halten. Sie spüren, dass sie selber entscheiden können, wie sie leben wollen.

Was sich die Menschen in Tunesien wünschen, was sie sich erträumen, ist unseren Wünschen und unseren Träumen sehr nah. Die Hoffnung auf ein Leben in Freiheit, in Würde und Gerechtigkeit verbindet uns über das Mittelmeer und über alle Grenzen hinweg. Gleichzeitig erreichen uns die Bilder von Flüchtlingsbooten vor Lampedusa. Klar ist: Wir können nicht alle Menschen aus Nordafrika in Europa aufnehmen. Wir wollen vielmehr dabei helfen, dass die Menschen im eigenen Land eine gute Zukunft für sich sehen. Jetzt zu handeln, jetzt vor Ort zu helfen, ist die beste Politik, um Flüchtlingsströme einzudämmen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Der Aufbruch, dessen Zeuge wir sind, ist eine große Chance für beide Seiten. Es ist die Chance auf ein neues, produktives Miteinander der Länder nördlich und südlich des Mittelmeers. Er ist auch eine Chance für Deutschland. Wenn diese Gesellschaften in neuer Freiheit ihre ganze Kreativität und ihre Talente entfalten, können neue Mittelschichten in Nordafrika unsere kommenden Partner - auch Wirtschaftspartner - werden. Umgekehrt können wir durch Investitionen und Handelsaustausch die wirtschaftlichen Chancen für die Menschen und gerade auch für die jungen Menschen dort verbessern.

Es bleibt ein unvergessliches Erlebnis, das ich auf dem Tahrir-Platz gewissermaßen stellvertretend für Sie und für viele andere Staatsbürgerinnen und Staatsbürger hatte, als auf dem Tahrir-Platz in Kairo Hunderte spontan zusammenkamen, weil sie erfuhren, dass eine deutsche Delegation dort ist, und sie riefen: Es lebe Ägypten, es lebe Deutschland! - Das war Ausdruck des hohen Ansehens, das wir uns in Ägypten erworben haben. Es zeigt, dass unsere Politik der Parteinahme für den demokratischen Aufbrauch, ohne dabei die ägyptische Souveränität dieses stolzen Volkes infrage zu stellen, richtig war. Es war aber auch Ausdruck der enormen Erwartungen gerade der ägyptischen Jugend an unser Land.

Wir haben Tunesien und Ägypten sehr früh eine Transformationspartnerschaft angeboten, weil wir den Aufbruch zu Demokratie von Beginn an nach besten Kräften unterstützen wollten. Das jetzt beschlossene Konzept der Europäischen Union für eine Partnerschaft für Demokratie und gemeinsamen Wohlstand trägt in weiten Teilen die Handschrift der Bundesregierung.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vier Punkte stehen dabei im Vordergrund.

Erstens. Die europäische Nachbarschaftspolitik muss neu ausgerichtet werden. Ihre strategischen Ziele und Grundsätze bleiben gültig. Aber mehr als bisher werden wir die Unterstützung der Europäischen Union an klare Erwartungen knüpfen. Am vergangenen Freitag hat der Europäische Rat beschlossen, dass wir Leistungen an unsere Mittelmeerpartner an sichtbare Fortschritte bei Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit, in Richtung unabhängiger Justiz und bei der Korruptionsbekämpfung knüpfen werden. Gerade die Zeichnung internationaler Menschenrechtsverpflichtungen, wie sie die tunesische Regierung nach dem Sturz Ben Alis auf die Tagesordnung der ersten Kabinettsitzung setzte, dokumentiert diesen Willen zum Neuanfang.

Zweitens stärken wir den Aufbau und Ausbau der Zivilgesellschaft. Träger des Aufbruchs sind neue politische und gesellschaftliche Kräfte, die noch am Anfang stehen. Sie sind kaum organisiert, und sie brauchen unsere Unterstützung; ich denke etwa an die eindrucksvolle Begegnung mit dem Vorsitzenden der tunesischen Menschenrechtsliga. Dafür wollen wir die etablierten Kontakte unserer Botschaften nutzen, aber auch die Netzwerke von Gewerkschaften, Wirtschaftsverbänden und Parlamentariergruppen.

Eine besondere Rolle kommt den politischen Stiftungen zu, mit denen wir uns in Tunis wie in Kairo getroffen haben und von denen es in Europa kaum ihresgleichen gibt. Sie verfügen über ein enges Netzwerk an Ansprechpartnern, von denen viele aktiv an den Freiheitsbewegungen beteiligt waren. Ihre langjährige Erfahrung wollen wir verstärkt nutzen und unseren neuen Partnern anbieten.

Drittens fördern wir eine umfassende Demokratisierung. Die Regierungen in Tunis und Kairo sind Übergangsregierungen, die in Zeiten des Umbruchs entstanden sind. Heute stehen teilweise schon andere Personen an ihrer Spitze als bei meinem Besuch vor wenigen Wochen. Ihnen fehlt noch die demokratische Legitimation. Für den Umbau der Gesellschaft brauchen die Regierungen aber den Rückhalt der Mehrheit im Volk. Die Zeit für die Organisation der freien politischen Willensbildung ist knapp, Erfahrungen darin noch knapper. Wir haben deshalb angeboten, bei allen Fragen der Vorbereitung und Durchführung freier und fairer Wahlen zu helfen.

Viertens wird es für das Gelingen des Aufbruchs in der arabischen Welt entscheidend sein, dass die Menschen die Früchte ihres Aufbegehrens auch im täglichen Leben spüren. Arme und ausgegrenzte junge Frauen und Männer haben ebenso wie die gut Ausgebildeten aus der Mitte der Gesellschaft nicht allein für Freiheit, sondern auch für ihre Lebenschancen demonstriert. Damit der politische Aufbruch Erfolg hat, müssen politische Entwicklungen und wirtschaftlicher und sozialer Fortschritt Hand in Hand gehen. Wenn uns an ihrem Erfolg liegt, dann müssen wir rasch und gezielt auch wirtschaftlich helfen. Damit meine ich vor allem Hilfe zur Selbsthilfe.

Die Tourismuswirtschaft spielt eine große Rolle, aber wir müssen auch mehr Handel zulassen und unsere Märkte in Europa öffnen. Auch über Agrarexporte, die für diese Länder eine wichtige Rolle spielen, werden wir in Brüssel sprechen müssen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Zugleich wollen wir die Voraussetzungen dafür schaffen, dass noch mehr als die beispielsweise 270 deutschen Unternehmen allein in Tunesien, die dort investieren, in der Region tätig werden. Die Rechtssicherheit in diesen Ländern muss gestärkt werden, sonst können private Investitionen kaum in großem Umfang fließen. Unser Angebot ist ein Nord-Süd-Pakt, der umfassend und auf Dauer angelegt ist.

Mittel- und langfristig entscheidet aber vor allem ein Thema über die Zukunft dieser Länder und Gesellschaften: die Bildung. Sie ist das Kapital der Zukunft bei uns - das wissen wir - genauso wie in Nordafrika. Die Bundesregierung wird den Deutschen Bundestag bitten, in den kommenden zwei Jahren insgesamt 100 Millionen Euro für Partnerschaften mit Nordafrika und dem Nahen Osten bereitzustellen. Das Kabinett hat heute Morgen einen entsprechenden Beschluss gefasst. 40 Millionen Euro davon wollen wir für ein Stipendienprogramm und für Bildungspartnerschaften mit den Schulen und Hochschulen dieser Länder nutzen.

Die Vernetzung junger Menschen, der Transfer unseres Know-hows und unserer gesellschaftlichen Werte und Maßstäbe sollen unseren Gesellschaften wechselseitig zugutekommen. Gemeinsam mit den Bundesministern Annette Schavan, Dirk Niebel und Rainer Brüderle werden wir zusätzliche Angebote für die Bildung, insbesondere die berufliche Bildung, entwickeln - eine der großen Stärken unseres deutschen Bildungssystems.

Wir müssen uns auch mit einer weiteren bedeutenden Frage befassen: Welche Folgen hat der Umbruch in der arabischen Welt für unseren Partner Israel? Die historischen Veränderungen in der Region dürfen nicht zu einem Weniger an Sicherheit für Israel führen. Darauf wird Deutschland besonders achten. Wir setzen uns dafür ein, dass die Zukunft Israels in einer stabileren und demokratischeren Nachbarschaft abgesichert werden kann. Auch deshalb machen die Umbrüche in der gesamten Region eine Lösung des Nahostkonfliktes durch eine gerechte Zwei-Staaten-Lösung umso dringlicher. Mut und Weitblick, nicht Zaudern und Zögern, sind jetzt gefragt,

(Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE))

damit der Stillstand bei den Friedensgesprächen endlich überwunden werden kann.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen, die Unterstützung des Umbruchs in der arabischen Welt entspricht unseren Werten wie unseren Interessen gleichermaßen. Dabei dürfen wir nie vergessen, dass jedes Land selbst über sein Schicksal zu entscheiden hat. Jeder Mensch schuldet jedem Menschen Respekt, und jedes Land schuldet jedem Land Respekt. Jede Bevormundung verbietet sich. Nur wenn die Reformen von den Gesellschaften Nordafrikas selbst getragen werden, werden sie von Dauer sein.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wir haben unsere Angebote gemacht: bei der Reform politischer Institutionen, beim Umbau der Verwaltung, bei der Verankerung und Stärkung von Meinungs-, Presse- und Religionsfreiheit und beim Ausbau der Bildung. Es geht uns dabei um rasche, aber nicht allein um kurzfristige Hilfe. Wir arbeiten für eine langfristig angelegte Partnerschaft, eine Partnerschaft auf Augenhöhe. Niemand kann heute mit Sicherheit vorhersagen, wie es in Nordafrika und der arabischen Welt weitergehen wird. Es wäre vorschnell, anzunehmen, der Wandel wäre einfach oder die Freiheit hätte bereits gesiegt.

Die Demokratiebewegung muss sich vielerorts stabilisieren, muss teils auch erst richtig beginnen, sich zu organisieren. Noch sind die alten Kräfte vielerorts fest im Sattel, noch verfügen sie über Geld und Einfluss. Die nächsten sechs Monate werden für die politische Entwicklung entscheidend sein, aber das Rad der Geschichte lässt sich nicht zurückdrehen.

Ich bin zuversichtlich, dass der Aufbruch am Ende erfolgreich sein wird. Der Impuls der Demokratiebewegungen kommt nicht von außen. Er kommt in jedem Land aus der Mitte der Gesellschaft. Die Umbrüche sind nicht vom Westen gestartet worden. Sie werden auch nicht vom Westen gesteuert. Das ist allein die Propaganda derer, die vieles im Sinn haben, nur nicht die Freiheit ihrer Völker.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Jedes Land muss seinen eigenen Weg finden, jede Gesellschaft ihren eigenen Weg gehen. Mit Rat und Tat wollen wir helfen, aber auch mit Respekt und Anerkennung für den großen Mut der Menschen.

Die Völker der arabischen Welt nehmen in diesen Monaten ihre Zukunft selbst in die Hand. Den Fahrplan zur Freiheit bestimmen sie selbst, aber wir Deutsche, wir Europäer stehen ihnen zur Seite.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit, und ich danke dafür, dass trotz der schrecklichen Bilder aus Japan, die wir sehen, und trotz der vielen Fragen, die uns beschäftigen, sich so viele von Ihnen die Zeit genommen haben, an dieser Debatte im Deutschen Bundestag über die Entwicklung in Nordafrika teilzunehmen. Ich glaube, allein schon das ist ein wichtiges Zeichen der Unterstützung an die gesamte Zivilgesellschaft in der arabischen Welt und in Nordafrika.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Lebhafter Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Nach dieser Regierungserklärung eröffne ich jetzt die Aussprache. Als erster Redner hat der Kollege Dr. Rolf Mützenich von der SPD-Fraktion das Wort.

(Beifall bei der SPD)

Dr. Rolf Mützenich (SPD):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat ist es angesichts der schrecklichen Bilder aus Japan schwer, sich heute im Parlament auf andere Themen zu konzentrieren. Wir müssen es tun, aber ich will an dieser Stelle sagen, dass wir gestern als Deutsch-Japanische Parlamentariergruppe auf Einladung des japanischen Botschafters in der japanischen Botschaft waren, um zu kondolieren und um noch einmal über die deutsch-japanischen Beziehungen in der Zukunft zu sprechen. Dabei ging es um Hilfsangebote und um die Frage, was der Deutsche Bundestag tun kann, aber auch um das, was wir vor einigen Wochen mit einem Antrag zu 150 Jahren deutsch-japanischen Beziehungen im Deutschen Bundestag beschlossen haben. Wir haben uns auf die Aktivitäten und die Arbeit in den nächsten Wochen und Monaten gefreut.

Ich wäre froh, wenn angesichts der Bilder aus Japan in der deutschen Debatte manchmal innegehalten würde, wenn wir leichtfertig den Begriff der Katastrophe für das eine oder andere bemühen, das uns in Deutschland möglicherweise belastet.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE])

In der Tat ist das, was in der arabischen Welt, in Nordafrika und in unserer unmittelbaren Nachbarschaft passiert, ein wichtiges Thema. Ich glaube, wir müssen eines deutlich machen: Libyen ist nicht das Gesicht der Veränderung in Nordafrika oder in der arabischen Welt. Das sind vielmehr die jungen Menschen, die mutigen Frauen; es sind diejenigen, die auf dem Tahrir-Platz oder in Tunis demonstriert haben – einige haben ihr Leben gelassen oder sind verletzt worden – und Regime gestürzt haben. Das ist das Bild, und das muss auch unser Bild der arabischen Welt insgesamt bleiben, weil das nach meinem Dafürhalten auch die Chancen deutlich macht. Diese Menschen wollen in ihren Gesellschaften leben. Sie wollen nicht fliehen. Sie wollen etwas aufbauen, das es ihnen möglich macht, mit Europa in einer wichtigen Region, in der Mittelmeerwelt, zusammenzuleben, die in der Zukunft Prosperität und Kultur zeigen kann. Ich glaube, wir müssen den deutschen Bundesbürgern auch vermitteln, dass selbst angesichts der Bilder aus Libyen in dieser Entwicklung mehr Chancen als Risiken liegen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Auch wenn an dieser Stelle nicht oft darüber gesprochen wird, sind natürlich Fehler gemacht worden, auch immer dann, wenn es um totalitäre Regime in unserer Nachbarschaft ging. Dennoch möchte ich Sie fragen, ob die scheinbar einfachen Antworten auf eine solche Frage wirklich zutreffen. Denn was wäre passiert, wenn wir in den 90er-Jahren nicht mit Gaddafi über den Verzicht auf Atomwaffen verhandelt und wenn wir nicht versucht hätten, das Gespräch über einen Verzicht zu suchen? Wir wären heute in einer Situation, die die Bearbeitung dieser internationalen Krise noch erschweren würde! Deswegen darf man nicht einfach diese Alternativen so aufbauen. Ich bekenne mich dazu, dass Fehler bei einzelnen Dingen gemacht worden sind. Aber man darf das nicht nur schwarz-weiß darstellen. Deswegen gibt es zum jetzigen Zeitpunkt keine einfachen Lösungen, um mit der libyschen Krise umzugehen, was nach meinem Dafürhalten in erster Priorität zivil und friedlich geschehen sollte.

Für mich zählt dazu, dass insbesondere die internationale Gemeinschaft geeint bleibt. Denn das ist eines der wichtigsten Instrumente, um überhaupt Einfluss zu nehmen. Deswegen war es gut, dass es die Sicherheitsratsresolution 1970 gegeben hat.

Das ist oft schnell zur Seite geschoben worden. Plötzlich haben auch einige Länder gesagt: „Wir sind für Sanktionen und sogar für das Instrument des Internationalen Strafgerichtshofes“, die das für sich selbst nicht wollen. Sie begreifen diesen Internationalen Strafgerichtshof als Fortschritt des Völkerrechts. Deshalb wollen sie ihn als Instrument einsetzen. Das sind wichtige Dinge, die nach meinem Dafürhalten in den letzten Wochen und Monaten vorangekommen sind. Herr Westerwelle, Sie haben auf die Sanktionen und auf andere Dinge hingewiesen.

Dennoch, Herr Bundesaußenminister: Die UN-Charta beinhaltet auch das Instrument der Flugverbotszone. Deswegen wäre es eine kluge Politik, wenn wir in der internationalen Gemeinschaft zusammenbleiben wollen, deutlich zu machen, dass wir alle Instrumente der UN-Charta wollen. Dann sollte man nicht schon im Vorgriff sagen, dass all diese Instrumente möglicherweise nicht wirken. Ich glaube, auch die Bundesregierung sollte etwas offener vorgehen; denn das gehört genauso wie damals zum Sanktionskatalog dazu, als die Resolution 1970 beschlossen worden ist.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Aber, Herr Außenminister, da gebe ich Ihnen recht: Man muss auch abwägen. Wir haben Erfahrungen im Irak, im Kosovo und an anderer Stelle gemacht. Wir machen auch die Erfahrung, dass es offensichtlich nicht nur die libysche Luftwaffe ist, sondern im Gegenteil: Wahrscheinlich macht es das, was auf dem Boden passiert, den Aufständischen so schwer, auch militärisch dem Druck von Gaddafi zu widerstehen. Auch diese Fragen müssen gestellt werden.

Aber dennoch: Innerhalb des Militärbündnisses müssen diese Optionen weiter auf dem Tisch bleiben, weiter geprüft werden, und unter Umständen, wenn es noch einen Beschluss im Sicherheitsrat geben sollte, muss auch hier erwogen werden, ob es notwendig ist, sie zu nutzen. Herr Bundesaußenminister, ich habe einen großen Teil Ihrer Versuche unterstützt, innerhalb der internationalen Gemeinschaft für Weltsicherheitsratsresolutionen und für anderes mehr zu werben. Aber was ich von Ihnen in Bezug auf die innenpolitische Diskussion gehört habe, hat, finde ich, dem Fass den Boden ausgeschlagen. Sie haben in einem Interview im Morgenmagazin am 11. März 2011 gesagt:

Meine Aufgabe als Außenminister ist, dafür zu sorgen, dass wir als Deutsche nicht leichtfertig in einen Krieg hineingezogen werden, aus dem wir dann viele Jahre nicht hinauskommen können.

(Dr. Rainer Stinner [FDP]: Ja!)

Das ist in der Tat richtig; das unterstütze ich auch. Aber unmittelbar danach sagten Sie folgenden Satz: Insoweit habe ich auch eine andere Vorstellung von Außenpolitik, als das vielleicht frühere Regierungen gehabt haben.

Diesen Vorwurf finde ich schändlich.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es sind wir von Rot-Grün gewesen, die verhindert haben, dass wir als Deutsche im Irakkrieg mit interveniert haben. Neben Ihnen sitzt eine Bundeskanzlerin, die nach Washington geflogen ist und den damaligen Präsidenten ermutigt hat, dort zu intervenieren.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Das ist die Wahrheit! – Zuruf von CDU/CSU: Unsinn!)

Als Vertreter der SPD-Fraktion lasse ich es mir nicht bieten, dass Sie diese Verknüpfung herstellen. Das ist schäbig. Ich finde, das gehört zu einem Versuch, eine gemeinsame außenpolitische Position des Deutschen Bundestages zu halten, nicht dazu.

Meine Damen und Herren, lassen Sie uns deswegen versuchen, diese innenpolitischen Debatten sein zu lassen. Ich habe das in den vergangenen Tagen versucht. Aber wichtig ist, Sie daran zu erinnern, dass auch Sie als Mitglied der Bundesregierung hierbei in der Pflicht sind.

(Beifall bei der SPD)

Oft ist hier über die Arabische Liga gesprochen worden und darüber, dass sie uns auffordert, einer Flugverbotszone zuzustimmen. Heute Morgen haben wir darüber auch im Auswärtigen Ausschuss gesprochen. Es bietet sich ein sehr spannendes Bild. Auf der einen Seite fordert die Arabische Liga eine Flugverbotszone, auf der anderen Seite sagt sie, die Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Länder sei nicht erlaubt. 24 Stunden später schickt ein wichtiges Land dieser Arabischen Liga, nämlich Saudi-Arabien, Truppen nach Bahrain und schafft damit möglicherweise eine zusätzliche Krisensituation. Dann erfahren wir, dass elf Außenminister bei der Sitzung der Arabischen Liga anwesend waren und zwei oder drei gegen diese Flugverbotszone gestimmt haben. Ich finde, zur Redlichkeit gegenüber diesem Instrument gehört – auch in der Berichterstattung –, über diese Entscheidungen hier zu informieren.

Herr Bundesaußenminister, Sie haben zum Schluss insbesondere über die Rolle der Europäischen Union gesprochen. Das haben auch wir in den vergangenen Wochen hier im Deutschen Bundestag getan. Ich unterstütze Ihre Aufforderung, zum Beispiel an Deutschland und andere europäische Staaten, im Bereich der Bildung etc. mehr zu tun. Das gilt aber genauso für die Agrarpolitik. Bei dieser Aussage ist eben hier geklatscht worden. Darüber wird es nicht nur zum Schwur innerhalb der Europäischen Union kommen; es kommt auch zum Schwur innerhalb des Kabinetts. Mich würde interessieren, wie Sie möglicherweise die anderen Kabinettsmitglieder von der Freizügigkeit überzeugen, die Sie an dieser Stelle eingefordert haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich glaube, es kommt darauf an, dass wir auch in dieser schwierigen Situation eine Außenpolitik betreiben, bei der die Parteien des Deutschen Bundestages zusammenbleiben. Ich biete Ihnen, Herr Bundesaußenminister, und dem gesamten Kabinett das an. Ich bitte Sie deshalb, von dem einen oder anderen Reflex, den Sie möglicherweise noch aus alten Zeiten übernommen haben, in Ihrer Regierungstätigkeit abzusehen.

(Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister: Und umgekehrt!)

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat der Kollege Dr. Andreas Schockenhoff von der CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Gaddafi führt Krieg gegen das libysche Volk. Ich sage bewusst nicht „gegen das eigene Volk“ oder „gegen sein Volk“; denn die Menschen in Libyen kämpfen für ihre Freiheit gegen einen Diktator, der schlimme Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht. Die libysche Führung muss abtreten und für ihr Handeln zur Rechenschaft gezogen werden.

Die Staatengemeinschaft hat entschlossen gehandelt, Gaddafi ist isoliert, die EU hat ebenso wie die USA schnell Sanktionen gegen das libysche Regime verhängt. Über weitere wird diskutiert. Der VN-Sicherheitsrat hat im Februar mit der Zustimmung Russlands und Chinas Strafmaßnahmen gegen die libysche Führung verhängt und den Internationalen Strafgerichtshof mit Ermittlungen beauftragt. Deutschland hat zu dieser Entscheidung im Sicherheitsrat maßgeblich ermutigt. Die CDU/CSUFraktion dankt der Bundesregierung für ihr Engagement und ihre klare Haltung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Aber ich sage auch: Das reicht nicht. Gestern hat Gaddafi in einem Gespräch mit RTL gesagt, Deutschland habe im Unterschied zu vielen anderen westlichen Ländern eine sehr gute Position eingenommen, weshalb er sich vorstellen könne, dass Deutschland weiterhin Ölaufträge bekomme. Das zeigt nur, wie paranoid dieser Mann ist und wie sicher er sich im Sattel fühlt. Es zeigt vor allem, wie wichtig es ist, dass wir im Sicherheitsrat weiter darauf drängen, alle verantwortbaren Maßnahmen zu prüfen, damit der Gewalt in Libyen so schnell wie möglich ein Ende gesetzt wird. Das sage ich nicht nur angesichts der Bilder von reihenweise abgeschlachteten Freiheitskämpfern. Der UNO-Sicherheitsrat muss weiter beraten, wie die libysche Bevölkerung vor den Verbrechen des Gaddafi-Regimes geschützt werden kann. Dabei dürfen auch Waffenlieferungen an die Freiheitskämpfer nicht ausgeschlossen werden.

Wir brauchen eine weitere Verschärfung der Sanktionen gegen Gaddafi und seinen Clan. Ich sage mit aller Klarheit für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion: Es muss alles getan werden, damit Gaddafi und auch seine Söhne, die jetzt das Abschlachten der Freiheitskämpfer organisieren, so schnell wie möglich vor den Internationalen Strafgerichtshof kommen.

Herr Mützenich hat es gerade schon angesprochen: Die Arabische Liga hat die Vereinten Nationen am Wochenende aufgefordert, eine Flugverbotszone zu verhängen. Zugleich lehnte sie aber jede Form einer ausländischen Intervention in Libyen ab und betonte die territoriale Integrität und Souveränität Libyens. Das ist – der Herr Außenminister hat darauf hingewiesen – ein Widerspruch in sich. Wenn man eine Flugverbotszone zum Schutz der libyschen Bevölkerung wirklich durchsetzen will, muss man zunächst auf dem Boden die libysche Flugabwehr und andere Bodenstationen und Einrichtungen im Land ausschalten. Damit interveniert man militärisch in Libyen.

Wenn die Arabische Liga eine Flugverbotszone also wirklich will, dann muss sie dies auch ohne Einschränkung sagen; vor allem aber muss sie selbst zur Durchsetzung einer solchen Flugverbotszone bereit sein.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Das von der Arabischen Liga geforderte Mandat der Vereinten Nationen ist sicherlich zwingend die erste Voraussetzung; entscheidend ist jedoch, dass auch beim Schutz der Zivilbevölkerung in Libyen die arabische Eigenverantwortung im Vordergrund steht. Jeder muss sich im Klaren darüber sein, dass allein durch die Einrichtung einer Flugverbotszone das Morden des Gaddafi-Regimes nicht beendet wird. Wer stoppt die Panzer, die Artillerie, die gut ausgebildeten Söldnertruppen Gaddafis? Spätestens dann stellt sich die Frage nach einem Einsatz am Boden. Saudi-Arabien entsendet Soldaten nach Bahrain, um das bedrängte Königshaus zu verteidigen. Zum Schutz einer Befreiungsbewegung in Libyen unternimmt Riad bislang nichts. Wenn dies aber ausschließlich von der NATO und der EU als Konsequenz aus der Erklärung der Arabischen Liga erwartet wird, muss ich sagen: Eine solche Arbeitsteilung ist mit uns nicht zu machen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Die Arabische Liga muss, wenn sie eine Flugverbotszone fordert, nicht nur politisch, sondern auch militärisch Verantwortung bei der Durchsetzung und den möglichen weiteren Konsequenzen übernehmen. Insbesondere Ägypten, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate sind hier gefordert; denn sie verfügen über die notwendigen militärischen Fähigkeiten, einschließlich einer modernen Luftwaffe. Die Arabische Liga spricht sich in ihrem Gründungsakt für die Einheit der arabischen Nation aus. Warum sind die arabischen Staaten, die das koloniale Erbe überwunden haben, bisher nicht bereit, dem bedrohten libyschen Brudervolk zu Hilfe zu kommen? Das wäre eine arabische und nicht erneut eine von außen geführte Intervention.

Wir lassen die Freiheitsbewegung nicht im Stich. Aber wie sollen, solange die Staaten der Arabischen Liga nicht bereit sind, militärisch zu handeln, die NATO oder die EU militärisch unterstützend tätig werden können? Es geht um politische und militärische Unterstützung; aber der Transformationsprozess – Herr Außenminister, darauf haben Sie zu Recht hingewiesen – muss von der libyschen Freiheitsbewegung gestaltet werden. In Ägypten und Tunesien geht es jetzt darum, in kurzer Zeit die institutionellen und verfassungsrechtlichen Voraussetzungen zu schaffen, um freie und faire Wahlen durchführen zu können. Der Zeitpunkt dieser Wahlen sollte so gewählt werden, dass wirkliche Chancengleichheit gewährleistet ist. Bei dem notwendigen Aufbau von Parteistrukturen und Jugendorganisationen können die deutschen politischen Stiftungen eine maßgebliche Rolle spielen.

Extreme Islamisten spielen bei den Umbrüchen in Nordafrika bisher keine Rolle. Viele Träger des Wandels in Ägypten und Tunesien sind neue politische und gesellschaftliche Kräfte. In Ägypten haben die Muslimbrüder ihr Oppositionsmonopol verloren. Frauen haben bei den Protesten – auch das wurde schon gesagt – eine maßgebliche Rolle gespielt. Mit diesen Kräften muss der Dialog verstärkt werden mit dem Ziel, eine gleichberechtigte Bürgergesellschaft aufzubauen. Dieser Prozess muss inklusiv sein und auch die moderaten islamischen Kräfte einbeziehen. Gerade die Muslimbrüder müssen in die politische Mitverantwortung für den demokratischen Wandel genommen werden. Von zentraler Bedeutung ist für unsere Fraktion, dass der politische und gesellschaftliche Wandel nicht zulasten religiöser Minderheiten geht. Das gilt gerade für die christliche Glaubensgemeinschaft der Kopten in Ägypten.

Meine Fraktion begrüßt ausdrücklich die führende Rolle, die die Bundesregierung in den vergangenen Wochen bei der Unterstützung dieses historischen Wandels in der arabischen Welt gespielt hat. Die von Deutschland mit Erfolg angestoßene Transformationspartnerschaft mit Tunesien und Ägypten sollte als Vorbild für die Zusammenarbeit mit weiteren Staaten dienen, auch mit denen, die noch nicht in erheblichem Ausmaß von der Protestwelle und dem demokratischen Transformationsprozess erfasst worden sind.

Es ist konsequent, dass die Europäische Nachbarschaftspolitik auf den Prüfstand gestellt wird. Auch hier hat die Bundesregierung eine führende Rolle übernommen. Unsere Unterstützungsmaßnahmen müssen viel deutlicher als bisher an gute Regierungsführung sowie an politische und rechtsstaatliche Reformen gebunden werden.

Zuallererst müssen wir jetzt kurzfristige Angebote machen, die in der kritischen Phase des Übergangs spürbare Wirkung für die Menschen zeigen und die deren wirtschaftliche Lage unmittelbar verbessern. Dazu gehört aber auch – das wurde hier ebenfalls bereits gesagt –, dass wir unsere Märkte für Produkte aus der Region öffnen – darin besteht Einigkeit, Herr Mützenich – und berufliche Bildung und Ausbildung in Deutschland ermöglichen. Gerade die Bildungszusammenarbeit, die Öffnung für die Bildungszusammenarbeit ist eine ganz entscheidende Voraussetzung für Zukunftschancen und für Lebenschancen der jungen Bevölkerung in Nordafrika. Wir brauchen mutige Entscheidungen; denn wir haben die historische Chance, unser Verhältnis zur arabischen Welt neu zu gestalten und auf eine gemeinsame Wertegrundlage zu stellen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Gehrcke von der Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE):

Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine SPD-Kollegen haben mir zugerufen, ich solle den Außenminister nicht allzu sehr loben. Ich glaube, das hofft er auch. Ich werde mir Mühe geben, ihn nicht allzu sehr zu loben. Es steht genügend zwischen uns.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich finde, wir sollten uns einen Moment darauf besinnen, die Bilder, die wir alle erleben, vielleicht auch im Inneren ein Stück weit zu verarbeiten und darüber nachzudenken, unsere Gefühle und möglichst auch unseren Verstand zu sortieren. Für mich ist das ein furchtbares Wechselbad von Gefühlen: die Riesenbegeisterung, die ich gehabt habe angesichts der Bilder vom Tahrir-Platz – ich war kurz vorher in Ägypten –, von dem Freiheitswillen, dem Ruf nach Freiheit, der von dort ausgegangen ist, dem Engagement für Freiheit, und dann die entsetzlichen Bilder aus Libyen, die ich wahrnehme, wo man versucht, den Freiheitswillen mit Militär zusammenzuschießen. Es ist außerdem ein Wechselbad der Gefühle, wenn ich die Bilder aus Japan auch nur ein Stück weit wirklich an mich herankommen lasse. Ich glaube, wir müssen uns zugestehen, dass wir in einer Zeitenwende, in einer wirklichen Zeitenwende leben. Wir erleben einen tiefen Bruch von Zivilisation und müssen neue Antworten darauf geben. Die alten Reden, die Phrasen der Vergangenheit tragen nicht mehr in die Zukunft. Ich finde, das ist ein Signal, das vom Bundestag ausgehen müsste.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich teile die Auffassung, dass der Umbruch in Ägypten nicht ein Werk des Westens war. Die Leute haben gesagt: Vom Westen wollen wir überhaupt nichts wissen. – Da habe ich eine ganz andere Wahrnehmung. Ich glaube auch nicht, dass Deutschland in erheblichem Maße an diesem Umbruch im positiven Sinne beteiligt war, sondern eigentlich eher im negativen Sinne. Wir haben all die Regime mit zu verantworten gehabt. Wir haben sie gestützt, gestärkt, ihnen die Hand gehalten, und wir haben mit ihnen paktiert. Auch das gehört zur Wahrheit dazu.

Deswegen sollte die erste Botschaft des Bundestages sein, dass wir uns mit großem Respekt an die Menschen wenden, die ihr Leben und ihre Gesundheit eingesetzt haben, um Freiheit, Demokratie und soziale Gerechtigkeit zu erreichen: in Ägypten, in Tunesien und auch in Libyen. Diesen Respekt sollten wir in diesem Hause aussprechen und sagen: Es war nicht unser Umbruch. Es war nicht unsere Revolution. Es war euer Umbruch. Es war eure Revolution. Dafür sind wir euch dankbar. Davon erwarten wir uns auch etwas für uns und für die Gestaltung hier in unserem Lande.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Rolf Mützenich [SPD])

Meine zweite Bitte ist, dass wir viel dafür tun, dass der Freiheitsimpuls aus den nordafrikanischen und arabischen Ländern durch die Unterdrückung der Freiheit durch Gaddafi oder Bahrain nicht verloren geht. Er muss im Vordergrund bleiben.

Da manche noch mit dem Bild herumrennen, Gaddafi habe angeblich einmal etwas mit einer antiimperialistischen Bewegung zu tun gehabt, möchte ich Folgendes sagen: Gaddafi ist nicht links, Gaddafi ist nicht Freiheit, sondern Gaddafi ist das Gegenteil von links und von Freiheit. Eine solche Politik darf man – und das gilt auch für eine ganze Reihe anderer Länder – nicht unterstützen, egal wo in der Welt man Verantwortung trägt.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Da machen Sie es sich zu einfach!)

– Ach komm, hör auf!

Ich möchte aber gerade in diesem Zusammenhang die Frage stellen: Wie kann man überhaupt helfen? Welche Möglichkeiten haben wir außer Krieg und dem Einsatz von Militär, wenn man diese nicht als Hilfsmittel ansieht, sondern eher als das Gegenteil davon? Ich denke, dass man, auch in Libyen, nach wie vor auf die Vermittlung zwischen den Bürgerkriegsparteien setzen muss. Das klingt nicht leicht; aber es wäre eine Aufgabe für Deutschland, das auch im Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen durchzusetzen. Vermitteln ist in einer solchen Situation besser, als die Menschen weiter aufeinander schießen zu lassen. Wer die Menschen wirklich retten will, muss sich für eine Vermittlung einsetzen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich bin strikt dafür, dass handelspolitische Maßnahmen ergriffen werden. Wenn wir für Öl kein Geld mehr bezahlen und die Öllieferungen ausgesetzt werden, wird uns das zwar in Probleme bringen. Es wäre aber ein wirksames Mittel in der Auseinandersetzung mit dem Gaddafi-Regime. Es ist interessant, dass über diese Frage kaum nachgedacht wird.

Ich bin ganz entschieden dafür, dass das Verbot von Waffenexporten nicht nur vorübergehend, sondern dauerhaft für die gesamte Region, also den Nahen Osten und Nordafrika, durchgesetzt wird. Es darf keine Waffenlieferungen mehr geben. Denn – diese Frage ist doch berechtigt – was passiert später mit den Waffen?

Ich sage ehrlich: Ich möchte, dass Deutschland als Nation und als Mitglied der Europäischen Union vorangeht, was die Aufnahme von Flüchtlingen angeht.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir können den Menschen doch nicht auf die Schulter klopfen und sagen: Ihr habt gut für Demokratie gekämpft, aber bleibt, wo ihr seid. – Wenn wir den Menschen, die für Demokratie gekämpft haben und kämpfen, Respekt entgegenbringen, muss unser Land sich für die Flüchtlinge öffnen und in dieser Hinsicht ein Vorbild sein. Dazu gehört, dass man FRONTEX aufkündigt. Dazu hat der Außenminister hier nichts gesagt – wohl aus guten Gründen.

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn man das tut, ist das schon eine ganze Menge. Ich füge hinzu, dass ich militärische Maßnahmen für völlig ungeeignet halte. Ich habe die Bilder vom Irakkrieg noch gut in Erinnerung, ebenso die Rede von Condoleezza Rice, die nach dem Irakkrieg glaubte, im Irak einen neuen Nahen Osten erkennen zu können. Das Ergebnis des Irakkrieges kennen wir alle. Deswegen warne ich davor, allzu leicht über Krieg und Militär zu reden und möglicherweise irgendwo hineinzurutschen, wo man vielleicht nicht wieder herauskommt. Ich sage kategorisch: Kein Krieg für Öl! Keine militärische Unterstützung, weder der einen noch der anderen Seite!

Ich gestehe der Bundesregierung zu, Herr Außenminister, dass sie sich in dieser Frage mit Bedacht bewegt hat. Das heißt nicht, dass jeder Schritt in Ordnung war. Wie wollen Sie denn mit dem französischen Präsidenten umgehen, der mit seiner Luftwaffe Ziele in Libyen bombardieren will? Frankreich ist doch, zusammen mit Großbritannien, einer unserer engsten Partner in der Europäischen Union. Was heißt es, sich in der NATO an Planungen zu beteiligen bis hin zu einem operativen Plan, wie heute noch einmal bestätigt worden ist? Wer plant, befindet sich schon mit einem halben Fuß in der Ausführung. Es darf weder Planung noch Teilhabe an den Planungen geben!

Bitte lassen Sie uns unserer Bevölkerung sehr deutlich sagen: Wer Flugverbotszonen einrichtet, Kollege Mützenich, oder sich diesbezüglich offen zeigt, muss bereit sein, sie auch durchzusetzen, das heißt, Flugzeuge abzuschießen und die Luftabwehr auszuschalten. Dann befindet man sich im Krieg und kommt so leicht nicht wieder heraus. Auch das ist eine Erfahrung aus internationalen Auseinandersetzungen. Das wollen wir nicht. Für uns ist völlig klar: Kein Krieg für Öl! Keine militärische Unterstützung, weder für Gaddafi noch gegen ihn! Das ist kein Mittel.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich schlage vor, dass wir auch über ein paar andere Dinge nachdenken, bei denen wir uns unserer eigenen Rolle vielleicht nicht ganz sicher sind. Ich fand den Einwand, dass man auch mit Schurken in Staatsämtern verhandeln muss, richtig; das war immer auch meine Position.

(Jörg van Essen [FDP]: Deswegen fahren Sie auch nach Kuba und Venezuela!)

Aber Verhandeln ist etwas anderes als Paktieren. Unser Land hat mit solchen Schurken in Staatsämtern paktiert, zum Beispiel mit Mubarak, den wir finanziert und im Amt gehalten haben. Unser Land hat mit Gaddafi paktiert, und zwar einzig und allein aus dem Grunde, dass er die Flüchtlinge in Libyen hält und diese nicht nach Europa lässt. Das Paktieren mit Schurken gilt auch in Bezug auf Ben Ali. Das darf sich nicht wiederholen. Das ist aber doch das Bild, das sich ergibt. Die Schlussfolgerung müsste sein: Verhandeln ja, aber nicht paktieren.

Ich möchte gern, dass hier klar wird: Wir stellen die Waffenexporte ein. Deutschland hat an Saudi-Arabien, an Libyen, an die Vereinigten Arabischen Emirate Waffen in großem Umfang geliefert und dafür Geld kassiert. Auch das muss hier einmal ausgesprochen werden: Ein Teil der Waffen, mit denen jetzt in Bahrain gegen die Demonstranten vorgegangen wird, stammt aus Deutschland bzw. ist von Deutschland geliefert worden. Wollen wir das etwa fortsetzen? Ich finde, darauf gibt es nur eine einzige Antwort: Sofort beenden!

(Beifall bei der LINKEN)

Es kann doch nicht dabei bleiben, dass wir mit unserer Politik dazu beitragen, dass sich die Preise von Nahrungsmitteln so erhöhen, dass sich Menschen in vielen Teilen der Welt sie nicht mehr leisten können. Die Politik muss sich nicht nur im Nahen Osten, in den arabischen Ländern ändern. Auch wir müssen die Grundlagen unserer Politik ändern. Damit zeigen wir, dass wir etwas von dem begriffen haben, was uns die Menschen auf dem Tahrir-Platz vorgemacht haben.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:

Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Dr. Rainer Stinner das Wort.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dr. Rainer Stinner (FDP):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Tunesien, Ägypten, Libyen, Bahrain, Jemen: Es zeigt sich, dass das, was in Tunesien anfing – vor einigen Wochen haben wir uns ja noch gefragt, ob das weitergeht –, mittlerweile Realität geworden ist. Allerdings bitte ich Sie alle sehr, zu beachten, dass die Situation in jedem Land völlig anders ist.

Es mag Sie angesichts der dramatischen Ereignisse in Libyen verwundern, dass ich mir die größten Sorgen um die Ereignisse in Bahrain mache; denn die Weiterungen, die sich aus der neuen Situation in Bahrain ergeben, sind völlig unübersehbar und können sehr viel dramatischer sein als das, was in Libyen noch herauskommen kann. In Bahrain erleben wir erstens, dass erstmals Staaten des Golf Cooperation Council in einen befreundeten Nachbarstaat einmarschieren. Es handelt sich um Truppen und Polizeikräfte aus Saudi-Arabien und Katar. Wir erleben zweitens, dass es um den Nukleus eines Konfliktes zwischen Sunniten und Schiiten geht, der zwar latent immer vorhanden war, aber nun aufzubrechen droht. Wir erleben drittens, dass Saudi-Arabien auch innenpolitisch einbezogen wird, weil eine schiitische Enklave in Saudi- Arabien nicht weit von der Grenze zu Bahrain entfernt ist. Wir erleben viertens – das wäre eine ganz große Gefahr –, dass sich der Iran in irgendeiner Weise als Vertreter der schiitischen Interessen einmischt. Daher mache ich mir größte Sorgen darüber, wie sich die Situation weiterentwickelt. Das müssen wir genau beobachten.

(Beifall bei der FDP) Wir erleben also wirklich einen Umbruch in der arabischen Welt von dramatischem Ausmaß.

Was Ägypten und Tunesien angeht, so kann ich das wiederholen, was ich vorletzte Woche gesagt habe: Wir sehen einen Weg, wir sehen Perspektiven. In Ägypten sind mittlerweile 23 Parteien zugelassen und in Tunesien, so glaube ich, sogar 37 Parteien. Der beschrittene Weg gibt Anlass zur Hoffnung. Mehr will ich dazu nicht sagen.

Kommen wir nun zu Libyen. Es ist ohne jeden Zweifel richtig, dass der Herrscher Gaddafi sein brutales militärisches Regime nutzt, um seine Bevölkerung in einem veritablen Bürgerkrieg zu massakrieren. Die Frage ist: Wie gehen wir damit um? Es ist wohlfeil, zu sagen: Da könnt ihr doch nicht zuschauen. – Diese Reaktion ist zwar ein erster menschlicher Impuls und daher völlig verständlich. Aber ich unterstütze voll und ganz Außenminister Westerwelle, wenn er davor warnt, dass Wort „Flugverbotszone“ als verharmlosendes Instrument in den Mund zu nehmen. Das Durchsetzen einer Flugverbotszone bedeutet militärische Operationen und den ersten Schritt in Richtung eines wohl auszuweitenden militärischen Engagements. In diesem Fall kann die Verwicklung in einen Bürgerkrieg in Libyen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit die Folge sein. Ich kann nur sagen: Ich bin froh darüber, dass sich die Bundesregierung hier sehr zurückhaltend verhält.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Jetzt ist natürlich völlig klar: Wenn es dazu kommen sollte, dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Einrichtung einer Flugverbotszone beschließt, dann muss sich Deutschland Gedanken darüber machen, wer denn dort eventuell eingreifen könnte. Ich stehe da unter dem Eindruck des Besuchs einer Konferenz in Oman am letzten Wochenende, wo wir öfter folgenden Dreiklang gehört haben: Erstens. Der Westen versteht uns nicht, hat keine Ahnung und hat in der ganzen Großregion – in Afghanistan, aber auch im Nahen Osten – vieles falsch gemacht. Zweitens. Jetzt muss dringend etwas gemacht werden in Libyen. Drittens. Das können nicht wir; das müsst ihr machen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das kommt bei mir nicht gut an. Deshalb sage ich unseren Freunden in der Arabischen Liga sehr deutlich: Jetzt ist die arabische Welt zunächst einmal selbst gefordert.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ich weiß nicht, wie die Entscheidung der internationalen Gemeinschaft ausfallen wird. Wenn aber die UN Entsprechendes beschließen, müssen auch wir neu nachdenken. Es wird allerdings unter keinen Umständen die Zustimmung von mir und meiner Fraktion finden, dass der Westen wieder einmal allein als Problemlöser auftritt und sich andere einen schlanken Fuß machen, um uns später dafür zu verdammen, dass wir etwas falsch gemacht haben. Das geht nicht mehr.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU])

Lassen Sie mich zum Abschluss noch ganz kurz auf den Vorwurf der Opposition eingehen, die Regierung hätte den rettenden Einsatz in Libyen rechtlich nicht richtig gehandhabt. Wir von der FDP-Fraktion haben diesbezüglich die weißeste Weste, die es auf Erden geben kann.

(Dr. Rolf Mützenich [SPD]: Oh Gott!)

Erstens hat unsere Fraktion das AWACS-Urteil erstritten. Zweitens haben wir zu Zeiten der rot-grünen Koalition ein Bundestagsbeteiligungsgesetz vorgelegt, das Sie leider abgelehnt haben. Hätten wir heute das Gesetz, das wir damals vorgeschlagen haben, wäre das Beteiligungsrecht des Parlaments deutlicher definiert und wir wären besser dran. Es war Ihr Fehler, unter dem Sie heute leiden.

(Beifall bei der FDP)

Wir haben uns die Entscheidung nicht einfach gemacht. Wir haben sorgfältig geprüft, und nach Abwägung aller Aspekte kommen wir zu dem eindeutigen Schluss – mich beeindruckt insbesondere eine Seite des AWACS-Urteils –, dass das Vorgehen der Bundesregierung in diesem Fall völlig richtig war und eine Mandatierung nicht notwendig ist.

Dennoch, lieber Herr Mützenich, ist es natürlich im Interesse der Bundesregierung und der sie tragenden Parteien, die Opposition möglichst umfassend in Entscheidungsprozesse mit einzubeziehen. Das ist im Vorhinein durch die Information der Fraktionsvorsitzenden und im Nachhinein durch die Information der Obleute geschehen. Herr Mützenich, die Bundesregierung hat ein großes Interesse daran, bei kritischen Einsätzen, die dem deutschen Interesse dienen – in diesem Fall wurde der Einsatz zum Glück gut ausgeführt –, weiter kooperativ zusammenzuarbeiten. Es ist in unserem Interesse, –

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:

Herr Kollege.

Dr. Rainer Stinner (FDP):

– dass wir mit den Oppositionsparteien eng zusammenarbeiten, auch wenn die rechtliche Situation uns nicht dazu zwingt.

(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Antrag vorlegen!)

Das dient unserem Interesse, und das dient vor allem dem Interesse der betroffenen Menschen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:

Herr Kollege, ich wollte Sie gar nicht stoppen, sondern Sie fragen, ob Sie eine Zwischenfrage zulassen wollen. Das ist aber jetzt nicht mehr möglich, denn die Redezeit ist leider überschritten.

Ich gebe dem Kollegen Frithjof Schmidt für Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind Zeugen eines historischen Umbruchs. Millionen Menschen in der arabischen Welt stehen auf gegen Unterdrückung und stehen auf gegen ihre korrupten Herrscher. Diese Menschen kämpfen unter Einsatz ihres Lebens für Freiheit und Demokratie. Ihnen gehört unsere Hochachtung und Solidarität.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Diese demokratische Revolution kam, glaube ich, für uns alle überraschend. Deutschland und die Europäische Union haben in dieser Region Politik nach den Prinzipien „Für Stabilität sorgen“ und „Kampf gegen den islamistischen Terrorismus“ gemacht. Deshalb hat der Westen einseitig auf enge Bündnisse mit autoritären Regimen gesetzt. Demokratische Bewegungen wurden nicht ausreichend unterstützt.

Ehrlicherweise müssen wir deshalb Selbstkritik üben. Das betrifft alle Regierungen der letzten zehn Jahre.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Herr Außenminister, diese Selbstkritik hätte ich heute auch von Ihnen erwartet.

(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)

Ich finde es schade, dass Sie nicht die Kraft aufgebracht haben, sich das für Ihr Regierungshandeln einzugestehen. Auch ein selbstkritisches Wort von der Frau Bundeskanzlerin wäre durchaus angebracht. Die Fehlkonstruktion der Union für das Mittelmeer geht maßgeblich auf das Konto von Präsident Sarkozy und das von Frau Merkel. Sie haben sich damals dafür feiern lassen. Das hat alle bisherigen Fehler der europäischen Politik in Nordafrika verschärft. Das fand damals bereits Kritik; diese aber haben Sie ignoriert.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Auch die Reaktionen der Europäischen Union, aber auch der Bundesregierung auf den Umbruch waren zu Beginn von Zaudern und Zögern geprägt. Herr Außenminister, auch Sie haben lange gebraucht, um sich eindeutig auf die Seite der Demokratiebewegung in Tunesien und Ägypten zu stellen. Ich meine, zu lange.

(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Münchener Sicherheitskonferenz!)

In diesen Ländern ist es gelungen, Machthaber zum Rücktritt zu zwingen, die bis vor kurzem noch als unantastbar galten. Dieser Erfolg hat in diesen Ländern zwar auch vielen Menschen das Leben gekostet, aber Armee und Teile der Sicherheitskräfte haben sich dort auf die Seite der Demonstranten gestellt und so ein schlimmeres Blutbad verhindert.

In anderen Ländern sieht das gerade leider nicht so aus. In Libyen, wo Gaddafi mit großer Brutalität gegen die eigene Bevölkerung vorgeht, spitzt sich die Lage zu, aber auch in Bahrain. Mit dem Einmarsch von etwa 1 000 saudi-arabischen Soldaten hat der Golfkooperationsrat dort eine neue, sehr gefährliche Stufe der Eskalation eingeleitet.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Auch im Jemen sucht die Regierung die Konfrontation. Das schreckliche Beispiel von Oberst Gaddafi strahlt bereits aus. Wenn wir die Bilder aus Libyen sehen, fühlen wir wohl alle Wut und Entsetzen.

Ja, es ist klar: Gaddafi muss weg. Und es ist gut, dass sich die internationale Gemeinschaft darin einig ist. Es war ein wichtiger Schritt, den Internationalen Strafgerichtshof einzuschalten. Ebenso wichtig war es, Sanktionen zu verabschieden. All diese Schritte waren gut, aber nicht ausreichend. Mir ist es völlig unverständlich, dass es noch immer nicht gelungen ist, Gaddafi den Geldhahn zuzudrehen.

(Beifall der Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])

Noch immer gibt es keinen Bann gegen Ölfirmen, die libysches Öl kaufen oder verkaufen. Es gibt nicht einmal eine Liste.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Noch immer fließt Ölgeld nach Libyen und füllt Gaddafis Kriegskasse. Das ist skandalös, und damit muss Schluss sein.

Auch bei der Stärkung der libyschen Opposition ist nicht genug getan worden. Sie, Herr Außenminister, haben Vertreter der Opposition hier in Berlin noch nicht einmal empfangen. Das verstehe ich nicht. Oder haben Sie sonst etwas getan, um die Opposition in Libyen zu stärken? Ich sehe da nichts.

Es zerreißt einen innerlich, wenn man Gaddafis Vormarsch sieht. Er hat gut ausgebildete Truppen mit neuen Waffen, die in den letzten Jahren geliefert wurden: aus Frankreich, aus Italien, aus Großbritannien. Auch Deutschland hat seit der Aufhebung des Waffenembargos 2004 Rüstungsgüter im Wert von über 112 Millionen Euro an Libyen geliefert, darunter auch Hubschrauber. Das war unverantwortlich.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wir alle haben schlimme Befürchtungen, was in Libyen passiert, sollte Gaddafi weitere Städte der Opposition einnehmen. Über Sanktionen hinaus wird ja auch die Einrichtung einer Flugverbotszone diskutiert, um Gaddafi zu stoppen. Ich halte eine solche Prüfung für richtig, wenn die Arabische Liga dies fordert. Es ist richtig, alle Optionen der UN-Charta zu prüfen, die helfen könnten, die Menschen im Osten Libyens vor Gaddafis möglicher Rache zu schützen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Der Einsatz von Militär ist aber die Ultima Ratio und setzt für uns zwingend ein UN-Mandat voraus. Darüber hinaus teile ich in diesem Punkt die Skepsis der Bundesregierung hinsichtlich der militärischen Durchsetzbarkeit und der Wirkung eines Flugverbotes am Boden. Wir dürfen aus dem verständlichen Wunsch nach schneller Hilfe nicht Dinge tun, die militärisch nicht funktionieren und kontraproduktiv sind. Auch das muss gesagt werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen die demokratischen Kräfte in der Region stärken. Selbst in Tunesien und Ägypten ist die weitere Entwicklung noch offen. Es gibt immer noch starke Kräfte, die weitreichende Veränderungen verhindern wollen. Die Uhren dürfen hier nicht zurückgedreht werden. Diese Völker brauchen Unterstützung, und sie wollen Unterstützung. Dass aus diesen Ländern erfolgreiche Demokratien werden, liegt nicht zuletzt auch im strategischen Interesse der Europäischen Union. Da geht es um Hilfe beim Aufbau von Parteien und Gewerkschaften und um Unterstützung zivilgesellschaftlicher Akteure; zentral ist die Stärkung der Rolle der Frauen in der Gesellschaft; da geht es um eine Ausweitung der Entwicklungszusammenarbeit, erweiterten Handelszugang, Hochschulkooperationen und vieles mehr.

Es ist schon gesagt worden: Es geht um nicht weniger als eine Neugestaltung der europäischen Nachbarschaftspolitik. Europa muss aber auch grundsätzliche Lehren aus der arabischen Revolution ziehen: Nie wieder und nirgendwo dürfen Demokratie und Stabilität so gegeneinander ausgespielt werden, wie wir es in Nordafrika gemacht haben.

i> (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Die Absage an autoritäre Herrschaft und der Glaube an die Kraft der demokratischen Bewegung müssen zum Leitmotiv europäischer Außenpolitik werden, und zwar nicht nur im arabischen Raum.

Danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:

Philipp Mißfelder hat das Wort für die CDU/CSUFraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Philipp Mißfelder (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am 17. Dezember vergangenen Jahres hat sich der tunesische Gemüsehändler Bouazizi vor lauter Verzweiflung selbst verbrannt, nachdem er seinen Gemüsestand verloren hat und von den Gerichten gedemütigt worden ist. Der Funke des Protestes, der sich daran anschloss und darin kulminierte, dass das Regime von Ben Ali gestürzt wurde, sprang nach Ägypten und auf die ganze Region über. Erst seitdem beschäftigen wir uns – das gehört zur Ehrlichkeit in dieser Debatte dazu – im notwendigen Maße und in angemessener Weise mit diesem Thema.

Ich begrüße zunächst einmal, dass unser Außenminister in den vergangenen Monaten nachhaltige Akzente gesetzt und deutlich gemacht hat, dass sich die Bundesregierung dieses Themas mehr annimmt, als es vorher der Fall war, und vor allem eine neue Aufgabenteilung in der Europäischen Union gefordert hat. Man muss selbstkritisch sagen: Themen, die die arabische Welt und den Mittelmeerraum insgesamt angingen, sind in der Europäischen Union viel zu lang früheren Kolonialmächten überlassen worden, die zum Teil aus nicht nachvollziehbaren Gründen politische Forderungen erheben, welche nach unseren Maßstäben nicht umsetzbar sind und deren Umsetzung aus unserer Sicht auch nicht erstrebenswert ist.

Vor diesem Hintergrund ist es dringend notwendig, dass sich die nördlicheren Länder in der Europäischen Union mehr einbringen; das hat der Außenminister gemacht. Ich möchte deshalb, Herr Minister, Ihre beiden erfolgreichen Reisen ansprechen: zum einen die Reise nach Tunis am 12. Februar und zum anderen die Reise nach Kairo am 23./24. Februar, von der Sie selbst berichtet haben. Beide Reisen waren ein Beitrag dazu, den Demonstranten und den neu aufkommenden politischen Kräften eine politische Perspektive zu bieten. Diesen Weg sollten wir weitergehen. Deshalb haben Sie, Herr Minister, unsere volle Unterstützung auf dem Weg des Dialogs.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vielfach habe ich allerdings den Eindruck, dass es zu Begriffsverschiebungen gekommen ist. Wenn für Freiheit demonstriert wird, dann müssen wir immer auch kritisch fragen: Für welche Freiheit wird dort demonstriert? Wer steckt dahinter? Welche Interessen verbinden sich unter Umständen damit? Ich habe gerade gehört – Rainer Stinner hat es gesagt –, dass in Ägypten 23 Parteien politisch aktiv werden wollen. Sicherlich sind einige darunter, die unter Freiheit nicht universelle Freiheit verstehen und auch nicht für universelle Menschenrechte eintreten, sondern zum Beispiel die Rolle der Frau einschränken wollen. Wir lesen in den Berichten von „Freiheit“ und der „Befreiung des Volkes“. Dazu sage ich deutlich: Einer der wichtigsten Punkte unserer wertegebundenen Politik im Hinblick auf diese Region ist die universelle Durchsetzung aller Menschenrechte und auch aller Freiheitsrechte; dazu gehört auch die Freiheit der Frau.

Wir müssen Radikalismus entgegentreten. Deshalb müssen wir die politische Dimension des Wandels viel stärker auf unsere Tagesordnung heben, als es in der Vergangenheit der Fall war, und in der Europäischen Union viel geschlossener agieren, als dies in den vergangenen zwei Wochen geschah.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich glaube nicht, dass Gaddafi und seine Schergen von dem Vorgehen der Europäischen Union in den letzten Wochen beeindruckt sind.

Ich glaube auch nicht, dass wir uns auf Dauer eine öffentliche Diskussion über das Für und Wider von Optionen leisten können. Ich glaube vielmehr, dass wir eigene Akzente setzen müssen. Ich denke, dass wir auf die Forderung der Arabischen Liga nach Einrichtung einer Flugverbotszone – Andreas Schockenhoff hat das zu Recht gesagt; ich stimme dem zu – reagieren müssen. Wir müssen dafür werben, dass sich die Mitglieder der Arabischen Liga in die Pflicht nehmen lassen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dann wird sich auch Deutschland seiner Verantwortung nicht entziehen können und auch nicht entziehen wollen. In der Debatte ist schon mehrfach zu Recht gesagt worden, dass ein solches Flugverbot von der Afrikanischen Union, von der UNO und der Arabischen Liga mitgetragen und letztendlich auch gemeinsam durchgesetzt werden muss.

All dies sind allerdings im weitesten Sinne Nachhutgefechte; denn leider ist es so – das ist unser Kenntnisstand am heutigen Tag –, dass sich die Situation der Freiheitskämpfer in Libyen verschlechtert hat. Über Maßnahmen, über die wir noch vor einer Woche diskutiert haben, müssen wir heute eventuell gar nicht mehr streiten, weil sie unter Umständen wirkungslos geworden sind. Ich bedauere es sehr, dass eine Chance verpasst worden ist, durch ein entschlosseneres, einheitlicheres Auftreten der Europäischen Union mehr zu erreichen. Angesichts dessen, was sich zurzeit in Libyen vollzieht, müssen wir uns sehr große Sorgen machen. Die Mittelmeerregion gehört zu unserer Nachbarschaft. Wir müssen dafür werben, dass es dort jetzt nicht zu einer Abrechnung mit der Opposition kommt, dass jetzt kein weiteres Blutvergießen stattfindet. Im Einvernehmen mit den Vereinten Nationen sollten wir alle politischen und weiteren Möglichkeiten dahin gehend prüfen, wie weiteres Blutvergießen verhindert werden kann.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Diese ganze Region ist für uns wichtig. Deutschland und Europa haben nicht nur, aber auch wirtschaftliche Interessen. Wir müssen das auch selbstkritisch sagen; dieses Thema ist vorhin schon angesprochen worden. Firmen, die sich in der Vergangenheit in dieser Region betätigt haben, fordere ich ausdrücklich auf, bei einem zukünftigen Engagement darauf zu achten, dass dadurch nicht nur die Herrscherfamilie an wirtschaftlichem Wohlstand gewinnt, sondern auch in die Ausbildung der jungen Menschen investiert wird, sodass diese eine Zukunftsperspektive erhalten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

In den vergangenen Wochen haben wir von eindrücklichen Beispielen gehört. Man kann zwar sagen, dass die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und Ägypten gut sind und die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und Tunesien ausgebaut wurden, man kann sogar sagen, dass die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und Libyen im vergangenen Jahrzehnt massiv ausgebaut wurden, aber das gilt nur auf dem Papier. Ich habe nämlich zunehmend den Eindruck, dass den normalen Bürgern in diesen Ländern, auch weil wir Fehler gemacht haben, dadurch kaum eine Perspektive eröffnet und auch keine Teilhabe am Wohlstand ermöglicht wurde. Ich fordere die deutsche Wirtschaft deshalb dazu auf, bei ihrem weiteren Engagement darauf zu achten, dass sie mehr ausbildet und damit auch den jungen Menschen – das ist gerade vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung in diesen Ländern wichtig – eine bessere Perspektive bietet und damit auch Zuversicht für die Zukunft mit auf den Weg gibt.

Die Situation in Bahrain, Saudi-Arabien und im Jemen ist je unterschiedlich. Jeder Fall birgt aber große Risiken für uns und tangiert unsere Interessen, auch unsere vitalen wirtschaftlichen Interessen, und darf uns deshalb politisch nicht ruhen lassen. Es hat sich herausgestellt, dass im Jemen in der Vergangenheit viele Aktivitäten geplant worden sind, die im Zusammenhang mit dem internationalen Terrorismus zu sehen sind. Sollte es dort zu einer weiteren Verschlechterung der politischen Situation kommen, wird das nicht spurlos an uns vorbeigehen. Wir stehen vor einem wirklichen Neubeginn, vor einer Neuausrichtung unserer Nordafrikapolitik, aber auch unserer Politik bezüglich des gesamten arabischen Raums. Wir bewegen uns dabei in dem klassischen Spannungsfeld von wertegebundener Außenpolitik und interessengeleiteter Außenpolitik. Selbstkritisch müssen wir sagen, dass wir in der Vergangenheit bei den Kooperationen, die wir mit einzelnen Regimeführern eingegangen sind, vielleicht ein Stück weit zu viel Realpolitik betrieben haben und den Bedürfnissen der Menschen in den einzelnen Ländern vielleicht nicht immer gerecht geworden sind.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Da fängt einer an, nachzudenken!)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:

Günter Gloser hat das Wort für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Günter Gloser (SPD):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem arabischen Frühling beweisen die Völker des Nahen Ostens eindrucksvoll ihr Streben nach Freiheit, Gerechtigkeit, aber auch nach sozialem Fortschritt. Ja, was vielleicht ungewöhnlich ist, was wir nie so recht geglaubt haben, sie kämpfen auch für die universellen Menschenrechte.

Nicht überall haben Revolutionen stattgefunden. Ich möchte die Diskussion wieder ein wenig darauf fokussieren, wie es in Tunesien und Ägypten weitergeht. Was geschieht in Libyen? Aber daneben gibt es noch andere Länder des Nahen und Mittleren Ostens. Saudi Arabien, Bahrain und Jemen wurden hier bereits angesprochen. Ich möchte auch den Maghreb nicht vergessen. In den letzten Tagen hat sich gezeigt, dass möglicherweise auch durch andere Art und Weise ein Umbruch geschehen kann. So hat der marokkanische König Mohammed VI. massive Reformen angekündigt. Einen Umbruch stellen wir uns eigentlich nicht so vor, dass der König diese Reformen einleitet. Aber wenn es dazu kommt, dass er in der Tat – das wäre auch eine Revolution – endlich mehr Macht an die Regierung, aber auch an das Parlament abgibt, dass man in Marokko darüber diskutiert, Politik zu regionalisieren, also eine Balance zwischen der zentralen Ebene und der föderalen Ebene ähnlich wie bei uns herzustellen, dann finde ich das einen guten Weg. Aber die erst vor kurzem zu Ende gegangene Reise der deutsch-maghrebinischen Parlamentariergruppe nach Algerien, Marokko und Mauretanien zeigte ja, dass es in anderen Ländern eben nicht so funktioniert. Die Verknüpfung zwischen Politik und Militär ist so eng, dass das politische Denken oft durch militärische Kategorien bestimmt wird, wie es zum Beispiel in Algerien, aber auch in Mauretanien der Fall ist.

Nachdem all diese Entwicklungen von uns gemeinsam so festgestellt worden sind, kommt es jetzt auf die Entschlossenheit der Europäischen Union an und darauf, ob es gelingt, diese Chancen des Aufbruchs zu nutzen, oder ob es am Schluss wieder enttäuschte Hoffnungen vieler Menschen gibt, die ja – beginnend mit dem 17. Dezember in Tunesien und noch weit darüber hinaus – doch sehr mutig waren. Der Kollege Mißfelder hat es bereits gesagt. Ich finde, zu dieser Enttäuschung sollte es nicht kommen.

Wir haben vorhin völlig zu Recht die Rolle der Arabischen Liga angeführt – damit komme ich jetzt auf das Thema Libyen und die Europäische Union zu sprechen – und darauf hingewiesen, dass die Position der Arabischen Liga teilweise unklar und unbestimmt geblieben ist, dass sie sehr lange gebraucht hat, um zu einer Entscheidung zu kommen, und es natürlich auch widersprüchliche Aussagen gegeben hat. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, wie sah es denn mit der Europäischen Union aus? An dieser Stelle korrigiere ich mich immer und sage: Ich meine nicht die Europäische Union, sondern ausdrücklich die Mitgliedstaaten. – Hier gab es Fehleinschätzungen, Zögerlichkeiten, Spaltung, Handlungsunfähigkeit! Herr Außenminister, die Sozialdemokratie hat an dieser Stelle schon bei den ersten Debatten vor einigen Wochen gesagt: Was passiert da eigentlich vor unserer Haustür, eine, zwei, drei Flugstunden von uns entfernt? Und die Europäische Union macht Business as usual. Wir haben damals schon gefordert, dass sich der Europäische Rat in einer Sondersitzung damit befassen muss. Dies ist erst jetzt am 11. März geschehen.

Ich sage ganz bewusst – ich kenne ja das Verhältnis von Exekutive zu Legislative –: Es gab kein nationales Parlament, es gab kein Europaparlament, es gab keinen Parlamentsvorbehalt, es gab auch kein Gerichtsurteil, das die Mitgliedstaaten der Europäischen Union daran gehindert hätte, schleunigst zu handeln. Ich weiß von den Diskussionen auf der letzten Sitzung des Außenministerrats – Kollege Staatsminister Hoyer hatte damals auch über die Initiativen der deutschen Bundesregierung berichtet; das haben wir damals auch ausdrücklich gewürdigt und unterstützt – und frage: Welches Bild geben diese Mitgliedstaaten ab?

Die Leute können nicht mehr verstehen, dass man sich mit der Krümmung der Gurken und anderen Dingen relativ schnell und zeitnah beschäftigt, die Mitgliedstaaten aber hinsichtlich dieser vor unserer Haustür stattfindenden Revolution uneinig sind.

Ich sage an dieser Stelle Folgendes ganz klar, obwohl ich jemand bin, der sowohl aufgrund früherer Funktionen als auch jetzt weiterhin zu den deutsch-französischen Beziehungen steht: Es ist ein Armutszeugnis. Ich sage dies nicht, um jemanden aus der Regierung gegen andere Partner auszuspielen. Es kann doch einfach nicht angehen, dass die französische Seite, ohne sich abzustimmen, Dinge fordert, von denen man weiß, dass sie nicht realisiert werden können, beispielsweise was Libyen angeht. Ich hätte mehr erwartet als immer nur die feierlichen Gipfel zwischen diesen beiden Ländern. Wir müssen diese Chance nutzen. Ich sage an dieser Stelle ganz offen – auch an meine französischen Freunde –: Die Franzosen haben in den letzten Wochen in dieser Region sehr viel Renommee verloren, obwohl sie eigentlich immer mehr oder weniger ein – in Anführungszeichen – Hausrecht hatten. Das ist vorbei.

Das wäre doch jetzt für uns eine Chance. Wir könnten zeigen, wie wir das jetzt wieder zusammenbringen. Wir müssen Deutschland und Frankreich als einen Motor sehen. Diese beiden Länder verfolgen gemeinsame Projekte; schließlich heißt es immer, man solle gemeinsam vorgehen und nicht außerhalb der Europäischen Union. Ich befürchte aber, dass Frankreich durch sein Vorpreschen in den letzten Wochen zu viel Kredit verspielt hat. Das tut auch der Europäischen Union nicht gut, weil die Europäische Union – das zeigen auch die Besuche und Gespräche dort – letztendlich ein sehr eigenartiges Bild abgibt.

Andererseits muss ich sagen, dass dies eine Chance für uns ist, die Sie, Herr Außenminister, mit Ihrem Brief an Lady Ashton deutlich gemacht haben. Deutschland kann in der Tat in dieser Region eine wichtige Aufgabe übernehmen. Aber – vielleicht werden wir hier in der nächsten Woche wieder über Libyen diskutieren – das Fenster ist nur noch einen Spalt breit geöffnet. Herr Außenminister, ich verstehe – wir alle haben das heute in der Diskussion freimütig geäußert –, wie schwer das Einrichten einer Flugverbotszone ist. Sie werden aber in den Zeitungen zitiert, man wisse nicht, mit wem man es in diesem libyschen Nationalen Übergangsrat zu tun habe. Dann stellt sich die Frage: Warum spricht man nicht miteinander? Das müssen ja nicht Sie machen, das können ja auch andere aus dem Auswärtigen Amt machen.

(Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister: Das ist doch geschehen!)

Aber es muss doch nicht erst gewartet werden, bis ein Beauftragter der Vereinten Nationen oder andere Kolleginnen und Kollegen mit ihnen sprechen. Sie sagen: Wenn man die Bilder sieht, ist man schockiert, dann muss man handeln. – Trotzdem muss man klug handeln, wobei sich die Frage stellt, was kluges Handeln in dieser Situation ist. Ich denke, es wäre notwendig gewesen, mehr Antworten auf die von Ihnen selbst gestellten Fragen zu geben.

Letztendlich kommen wir in der Europäischen Union nicht umhin, über unseren Schatten zu springen. Es geht nicht mehr an – das sagte der marokkanische Außenminister –, dass wir in der Europäischen Union schon Gefahren sehen, wenn mehr Produkte in die Europäische Union eingeführt werden, zum Beispiel schon bei weniger als 1 Prozent Tomaten aus Marokko, Frühkartoffeln aus Ägypten oder mehr Bekleidung. Wir können doch nicht ständig Sonntagsreden halten und sagen, dass wir mehr kooperieren müssen, und dann am Anfang der kommenden Woche, wenn wir zu entscheiden haben, uns dagegen wehren. Bei dieser Frage müssen wir über unseren Schatten springen genauso wie bei der Frage der Migration.

Ich stimme Ihnen zu, Herr Außenminister – das haben Sie mehrfach gesagt –, dass Hilfe zur Selbsthilfe notwendig ist, aber lesen Sie beispielsweise einmal die neuen Ausführungen der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Die haben wunderbare Statistiken veröffentlicht, die zeigen, welches Wachstum in den Ländern notwendig ist, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Wir alle wissen, wie schwer das ist. Zwischen der Zahl der Abgänger aus Schulen und Universitäten und der Zahl der Arbeitsplätze klaffen Lücken; dazu muss man auch das Wachstum betrachten. Hier geht es um zwei, drei verschiedene Punkte. Ich glaube, dass auch hier ein entsprechendes Handeln der Europäischen Union notwendig ist. Einige Mitgliedstaaten, auch unser französischer Partner, müssen bei der Agrarpolitik endlich über ihren Schatten springen.

Noch ein Punkt. Jemen wurde bereits angesprochen. „Friends of Yemen“ tagt seit einigen Monaten, auch mit Saudi-Arabien. Es war für mich schon immer etwas schwierig, nachzuvollziehen, dass man den Jeminiten Vorschläge macht, wie sie sich organisieren sollen, und dass man ihnen sagt, dass sie Wahlrechtsreformen durchführen müssen, während der saudi-arabische Partner dabeisitzt. Dazu kommen jetzt die Vorgänge in Bahrain. Mich würde interessieren, wie die Bundesregierung demnächst mit einer solchen Situation umgeht. Ich glaube, Saudi-Arabien hat da viel verspielt.

Mein letzter Punkt; dies muss auch deutlich in Richtung unserer Freundinnen und Freunde in Nordafrika gesagt werden. Der marokkanische Außenminister sagt: Dem Land gehen 2 Prozent Wachstum allein aufgrund des ungeklärten Konflikts und der fehlenden Zusammenarbeit zwischen Algerien und Marokko und des ungelösten Problems der Westsahara verloren. Wir erwarten aufgrund all der Anstrengungen, die wir unternehmen, dass endlich auch in dieser Region eine Süd-Süd-Kooperation eingegangen wird. Wenn wir über unseren Schatten springen, können wir dasselbe auch von den Ländern im Süden erwarten. Sonst sind unsere Anstrengungen für unsere Bürgerinnen und Bürger nicht verständlich. Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:

Marina Schuster hat das Wort für die FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Marina Schuster (FDP):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir alle stehen unter dem Eindruck der Fernsehbilder, die uns aus Nordafrika, aus der arabischen Welt erreicht haben und erreichen. Ich bin froh, dass unsere Bundesregierung von Anfang an klargemacht hat, auf wessen Seite sie steht. Wir stehen auf der Seite der Demokraten, und wir haben dies in unseren Positionierungen auch klar und deutlich so gesagt.

Ich erinnere daran, dass Alliot-Marie noch kurz vor dem Sturz von Ben Ali Truppen angeboten hat. Deutschland war das Land, das Motor war, das versucht hat, eine einhellige Meinung herbeizuführen, das früh Sanktionen ins Spiel gebracht hat, gerade im Fall von Libyen.

(Dr. Rainer Stinner [FDP]: Wohl wahr!)

Wir haben das Heft des Handelns in die Hand genommen und uns nicht von Mitgliedstaaten, die ihre eigene Politik verfolgen, beeinflussen lassen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Natürlich können wir mit dem Erscheinungsbild der EU nicht zufrieden sein. Umso wichtiger war es, dass wir einen klaren Kurs fahren. Dass die EU einheitlich und geschlossen auftreten muss, haben wir in vielen Plenardebatten, auch zu anderen Themen, immer wieder gefordert. Umso schlimmer ist natürlich, wenn wir gerade im Fall von Tunesien und Ägypten, aber auch im Fall von Libyen erleben, dass die Positionen der Mitgliedstaaten auseinandergehen.

Es ist mehrmals angesprochen worden, dass wir gerade in Libyen Kontakte zur Opposition pflegen sollten. Auf Arbeitsebene geschieht dies auch. Nur, eines müssen wir zur Kenntnis nehmen: Die Lage ist sehr unübersichtlich. Wir kennen die Figuren, die dem nationalen Interimsrat angehören. Ich glaube, es ist ein Gebot der Stunde, dass wir unsere Gesprächspartner und das Vorgehen auch hier mit Bedacht wählen.

(Beifall bei der FDP – Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frau Clinton hat es getan!)

Die Mitglieder des Menschenrechtsausschusses des Deutschen Bundestages haben in Genf an der Sitzung, in der über den Ausschluss Libyens aus dem Menschenrechtsrat diskutiert worden ist, teilgenommen. Die Entscheidung, die getroffen wurde, begrüße ich sehr. Ich bin froh, dass sich auch die Generalversammlung ganz klar positioniert hat. Angesichts der Schwere der Menschenrechtsverletzungen kann es hier keine andere Antwort geben. Libyen hätte nie einen Sitz im Menschenrechtsrat erhalten sollen.

Meine Damen und Herren, ich möchte kurz auf die Situation der Flüchtlinge eingehen. Markus Löning, der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, hat Flüchtlingslager an der tunesisch-libyschen Grenze besucht. Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass sich allein dort 250 000 Flüchtlinge befinden. Die Bundesregierung hat Hilfe in Höhe von insgesamt 5 Millionen Euro zugesagt. Dabei werden Mittel für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz bereitgestellt. Jetzt geht es auch darum, gerade in Libyen die medizinische Notversorgung sicherzustellen und die Entwicklung in den Flüchtlingslagern genau zu beobachten. Ich begrüße sehr, dass wir hier humanitäre Hilfe leisten, um die Situation der Flüchtlinge zu verbessern.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich möchte nun ganz kurz auf die politische Situation eingehen. Wir dürfen nicht vergessen: Die Länder Ägypten und Tunesien befinden sich in einer sehr wichtigen, aber auch fragilen Transformationsphase. Unseren politischen Stiftungen bietet sich jetzt die Möglichkeit, die Kontakte, die sie in den vergangenen Jahren aufgebaut haben, zu nutzen. In der Vergangenheit war die Situation allerdings eine andere. Die Angehörigen von Oppositionsparteien, zu denen wir Kontakte hatten, wurden inhaftiert, und die Parteien waren nicht zu Wahlen zugelassen. Jetzt ist die Möglichkeit da, sich auf die Wahlen vorzubereiten. Deswegen begrüße ich sehr, dass uns mit unseren politischen Stiftungen vor Ort Organisationen zur Verfügung stehen, die mit der Zivilgesellschaft zusammenarbeiten und die demokratischen Strukturen stärken können.

Eines dürfen wir nicht vergessen – das ist von meinen Vorrednern bereits angesprochen worden –: Jetzt geht es natürlich auch darum, eine ökonomische Perspektive zu schaffen. Die Forderung, unsere eigenen Handelshemmnisse für Agrarprodukte zu senken, betrifft natürlich auch den Textilsektor. Dazu gehört auch, dass wir den Tourismussektor wieder beleben, sofern die Sicherheitslage in den entsprechenden Gebieten dies zulässt.

Eines ist allerdings auch klar: Wenn die sozialen Missstände nicht behoben werden, wenn die ökonomische Verbesserung nicht eintritt, kann dies dazu führen, dass der gesamte Transformationsprozess ins Schlingern gerät. Deswegen ist es wichtig, eine ökonomische Perspektive zu bieten.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Einen letzten Punkt möchte ich noch ansprechen. Wir haben uns in den Debatten, die wir im Menschenrechtsausschuss geführt haben, auch um das Thema Religionsfreiheit gekümmert. Ich möchte am Beispiel Ägypten klarmachen, was es für ein Land, in dem die Staatsreligion der Islam ist, in dem die Bevölkerung tief religiös ist, heißt, jetzt eine politische Ordnung zu schaffen, die Religionsfreiheit, Toleranz und Pluralismus beinhaltet. Ich denke, dass auch solche Fragen diskutiert werden müssen und dass man sich auch damit befassen muss, wie der Schutz der Religionsfreiheit zugunsten der Menschen besser ausgestaltet werden kann.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:

Frau Kollegin!

Marina Schuster (FDP):

– Ich komme zum Schluss.

Unser Weg ist klar: Wir bieten Hilfe und Unterstützung an, allerdings nicht mit dem erhobenen Zeigefinger oder durch Bevormundung, sondern mit ehrlichen und brauchbaren Angeboten. Das ist unser Weg, und den werden wir auch weiterhin gehen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:

Das Wort hat der Kollege Dr. Wolfgang Götzer für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Seit Wochen sind wir Zeugen des dramatischen Umbruchs, der gewaltigen Umwälzungen in der arabischen Welt. Dabei hat vor allem die verbrecherische Gewalt, mit der Gaddafi in Libyen seine Macht sichern will, weltweit für Empörung gesorgt. Aber auch in anderen Ländern bleibt die Lage nach gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und Sicherheitskräften angespannt. In Algerien, Bahrain, Jordanien, Irak, Iran, Marokko und dem Jemen beispielsweise ist es in den vergangenen Wochen immer wieder zu Protesten gekommen. Dabei gab es zahlreiche Verletzte und auch Tote.

Am 11. März dieses Jahres ist daher der Europäische Rat zu einer außerordentlichen Sitzung zusammengekommen, und allein dies ist ein starkes Signal dafür, wie wichtig der Europäischen Union eine gemeinsame Reaktion auf die Geschehnisse ist. So etwas hat es in den vergangenen zehn Jahren nur dreimal gegeben: beim Georgienkrieg, beim Irakkrieg und nach den Terroranschlägen vom 11. September.

In vielen arabischen Ländern fürchten die Herrscher den Verlust ihrer Macht. In Tunesien und Ägypten ist der Sturz der Despoten bereits erfolgt. Bahrain ruft saudische Truppen ins Land. In Libyen droht die Revolte in einen langen und blutigen Bürgerkrieg zu münden, wofür die libysche Führung die alleinige Verantwortung trägt.

Die internationale Gemeinschaft sieht dem mörderischen Wüten Gaddafis nicht tatenlos zu. Zahlreiche Sanktionen und andere Konsequenzen wurden inzwischen von den Vereinten Nationen, der Europäischen Union und den USA beschlossen. Damit wurden klare Signale gesetzt, dass das menschenverachtende Vorgehen gegen das eigene Volk von der Weltgemeinschaft nicht hingenommen wird.

Was allerdings die Forderung nach der Errichtung einer Flugverbotszone angeht, so müssen wir uns – und das ist heute schon mehrmals angesprochen worden – darüber im Klaren sein, dass dies eine militärische Intervention bedeutet. Deshalb ist es auch ein klarer Widerspruch, wenn uns die Arabische Liga einerseits zur Errichtung einer solchen Zone auffordert, uns andererseits aber gleichzeitig vor jeglicher Form einer militärischen Intervention warnt.

Ein Flugverbot lässt viele Fragen offen und birgt viele Risiken. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich die Arabische Liga – derzeit hat es diesen Anschein – daran nicht beteiligen will. Ich nenne zum Beispiel das Risiko vieler ziviler Todesopfer. Zivile Todesopfer in einem arabischen Land durch eine westliche militärische Intervention könnten schnell zu einer Verschärfung der im arabischen Raum ohnehin weit verbreiteten antiwestlichen Stimmung führen.

Damit der Wandel hin zur Demokratie Erfolg und Bestand hat, muss – davon bin ich überzeugt – die Befreiung von den alten Machthabern durch die einheimische Bevölkerung selbst erfolgen. So etwas kann nicht in Brüssel oder in Berlin geschehen.

Was wir aber tun können und müssen, ist Folgendes: Wir müssen in enger Abstimmung mit den internationalen Partnern weiterhin darauf hinwirken, dass die Gewalt in Libyen sofort beendet wird.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Nach wie vor hat es auch höchste Priorität, alle humanitären Anstrengungen zu unternehmen, um die aus Libyen in die Nachbarländer geflohenen Menschen zu unterstützen. Gemeinsam mit den Partnern der EU sollte den Ländern Nordafrikas sowie des Nahen und des Mittleren Ostens ein breites Angebot für eine zielorientierte, bedarfsgerechte und partnerschaftliche Unterstützung des Wandels unterbreitet werden. Hierfür sollten auch im EU-Haushalt Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Bei diesem Angebot müssen die Gründe der Proteste zum Ausgangspunkt genommen werden, und es muss an den Bedürfnissen der Menschen ausgerichtet sein. Gerade in der Zeit des Übergangs sind schnelle, spürbare Verbesserungen der Lebensumstände und Erfolge vonnöten, damit der politische Wandel von einer breiten Mehrheit der Bevölkerung getragen und akzeptiert wird. Von besonderer Bedeutung ist, dass die Reformen institutionell und verfassungsrechtlich abgesichert werden.

Deshalb müssen wir unbedingt unsere Hilfe beim Aufbau eines Mehrparteiensystems, bei der Vorbereitung und Durchführung freier Wahlen, bei der Stärkung der Zivilgesellschaft, bei der Bekämpfung der Korruption und beim Aufbau einer unabhängigen Justiz anbieten. Die politischen Stiftungen spielen hier eine wichtige Rolle – auch das ist schon erwähnt worden; ich möchte das noch einmal unterstreichen – und können eine wertvolle Hilfe leisten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Klar muss auch sein: Finanzielle Unterstützungsleistungen der EU müssen zukünftig viel stärker als bislang von politischen und rechtsstaatlichen Reformen abhängig gemacht werden.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, bislang gab es keinen islamischen Staat mit einer funktionierenden Demokratie nach unseren Maßstäben. Der stattfindende Umbruch in der arabischen Welt ist eine Chance, dass sich daran etwas ändert.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Da können Sie aber lange warten!)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:

Das Wort hat der Kollege Ruprecht Polenz für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Ruprecht Polenz (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Umbruch in der arabischen Welt: Was hat sich im Vergleich zum vorigen Jahr eigentlich geändert? Ich glaube, der entscheidende Punkt ist: Die Menschen haben keine Angst mehr. Deshalb ist es so wichtig, dass wir ihnen moralische, materielle und politische Unterstützung geben, und ich finde, die Bundesregierung hat dies mit ihrer Antwort auf diese Umbrüche in der arabischen Welt auch entschlossen und klug getan.

Wir als Bundesrepublik Deutschland haben Hilfe in Form einer Transformationspartnerschaft in der ganzen Breite der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklung angeboten. Wir haben sie in den Blick genommen. Gleichzeitig haben wir aber deutlich gemacht: Es ist Sache der Araber, der Menschen in diesen Ländern selbst, darüber zu entscheiden, welchen Weg sie einschlagen wollen und wie sie sich ihre Zukunft vorstellen.

Die Region hat eine globale Bedeutung. Das haben wir in dieser Debatte vielleicht noch etwas wenig beleuchtet. In dem Gebiet von Marokko bis zum Persischen Golf liegen die Energiereserven an Öl und Gas für die ganze Welt, und die Bedeutung dieser Region wird durch die atomare Katastrophe in Japan eher zu- als abnehmen. Auch für Deutschland und die Europäische Union hat der Nahe und Mittlere Osten eine strategische Bedeutung, und wir haben dort eigene Interessen; das müssen wir in dieser Debatte auch sagen.

Was sind unsere Interessen?

Wir haben erstens ein Interesse an wirtschaftlicher Zusammenarbeit im Bereich der Energie: beim Öl, beim Gas und in Zukunft aber auch bei der Solarenergie. Wir haben ein Interesse an den Märkten, die sich in dieser Region auch für unsere Wirtschaft ergeben.

Wir haben zweitens ein strategisches Interesse an der Sicherheit Israels.

Wir haben drittens das Interesse, dass wir Migrationsund Flüchtlingsströme aus dieser Region oder durch diese Region nach Europa vermeiden, vor allen Dingen dadurch, dass wir die Ursachen für diese Flüchtlingsströme in diesen Ländern und gemeinsam mit diesen Ländern dann auch weiter südlich bekämpfen.

Deshalb haben wir viertens ein Interesse an Modernisierung, Reformen und guter Regierungsführung.

Last, but not least möchte ich fünftens das Interesse daran nennen, den Terrorismus, der in dieser Region seine Wurzeln hat, wie sich immer wieder zeigt, gemeinsam mit den Ländern dieser Region zu bekämpfen.

Was in Tunesien, Ägypten, Libyen und Bahrain geschieht, ist zuallererst Sache der Tunesier, Ägypter, Libyer und Bahrainer. Aber wir müssen ihnen dabei helfen, das selbst zu gestalten. In Tunesien und Ägypten geht es um Partizipation, Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte. Die Hilfen sind in der Debatte beschrieben worden. Es geht aber auch um Ökonomie, um die Marktöffnung auch im Bereich der Agrarpolitik, um Marktwirtschaft und Korruptionsbekämpfung.

Ich will an dieser Stelle ein Stichwort aufgreifen, das immer wieder genannt wird, wenn es heißt, die Region brauche jetzt einen Marshallplan. Das ist richtig. Sie braucht auch ein Konzept zur interregionalen Zusammenarbeit. Das ist sehr wichtig. Denn es gibt in der Region genug Geld. Es geht aber auch darum, dass wir dazu beitragen, dass das Milliardenvermögen der Ben Alis und Mubaraks, das eigentlich das Geld der Bevölkerung dieser Länder ist, wieder seinen Weg dorthin zurückfindet. Wir sollten dazu beitragen, dass die hohen zweistelligen Milliardenbeträge – es wird einem schwindlig vor Augen, wenn man hört, welche Summen diese Herrscher zur Seite geschafft haben – zugunsten des Aufbaus der Länder, um die es geht und denen das Geld eigentlich gehört, zurückgeführt werden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Ich will an das anknüpfen, was der Kollege Stinner im Hinblick auf Bahrain gesagt hat. Denn ich glaube, dass wegen der Diskussion um Libyen die Brisanz der Entwicklung in Bahrain etwas aus dem Blick gerät. Es gibt drei Besonderheiten, die den Konflikt und die Situation in Bahrain von allen anderen Ländern unterscheiden.

Das sind erstens die interreligiöse Dimension des Konflikts mit Blick auf die Sunniten und Schiiten und zweitens die grenzüberschreitende Dimension wegen einer Involvierung Saudi-Arabiens einerseits und möglicherweise des Iran andererseits, die es in anderen Ländern nicht gibt. Drittens gibt es eine internationale Dimension. Denn in Bahrain hat die fünfte amerikanische Flotte ihre Basis. Das alles macht die Lage dort so brisant.

Leider hat die Regierung, das Königshaus in Bahrain, auf die ursprünglichen Forderungen nach Partizipation und Reformen nicht konstruktiv reagiert. Sie hat den Zeitpunkt verpasst. Aber ich bin mit Ihnen, Herr Stinner, einer Meinung. Die Intervention durch den Golfkooperationsrat mit etwa 500 Polizisten und Saudi-Arabien mit etwa 1 000 Soldaten eskaliert. Auf diese Weise lassen sich die Unruhen nicht dauerhaft befrieden. Das ist nur durch Reformen und Partizipation möglich.

Man darf das nicht durch die enge religiöse Brille sehen, aber es besteht die Gefahr, dass gerade durch die Intervention Saudi-Arabiens diese Perspektive deutlich verstärkt wird. Wenn wir in Zukunft an einer möglichst widerspruchsfreien Politik für den Nahen Osten arbeiten wollen, dann dürfen wir nicht zulassen, dass das Reformtempo in Bahrain durch Saudi-Arabien bestimmt wird. Denn dann dauert es mit Sicherheit zu lange.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)

Noch eine letzte Bemerkung zu Libyen: Es ist viel zu den Problemen im Zusammenhang mit der Flugverbotszone gesagt worden. Ich habe mich dazu schon öffentlich geäußert. Ich bin bei meinem Besuch in Oman und Katar von meinen arabischen Gesprächspartnern darauf aufmerksam gemacht worden, warum Gaddafi gefallene Gegner exhumieren lässt. Das sind bestätigte Nachrichten. Er macht es deshalb, um sie zu identifizieren und sich an ihren Familien zu rächen. Das zeigt, was dort möglicherweise auch noch auf die Bevölkerung zukommt. Deshalb kann man, Herr Außenminister, wenn man erstens richtigerweise fordert „Gaddafi muss weg!“ und zweitens richtigerweise sagt, dass ihn der Internationale Strafgerichtshof erwartet, nicht nur abwarten, dass mittelfristig Sanktionen dazu führen, dass er irgendwann dort landen wird.

Ich glaube, wir stehen noch vor der Aufgabe, zunächst die Frage einer Resolution und der Beteiligung der Arabischen Liga zu beantworten. Dann geht es um die Umsetzung der Forderung „Gaddafi muss weg! Er muss vor Gericht gestellt werden“. Ich glaube, vor dieser Aufgabe stehen wir noch. Das wird uns auch im Sicherheitsrat noch einiges abverlangen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und des Abg. Dr. Rolf Mützenich [SPD])

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5040. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag?

– Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Entschließungsantrag bei Zustimmung durch die einbringende Fraktion abgelehnt. Die übrigen Fraktionen haben dagegen gestimmt.

Quelle: Deutscher Bundestag: Stenografischer Bericht, 95. Sitzung, Berlin, Mittwoch, den 16. März 2011; Plenarprotokoll 17/95; www.bundestag.de

Dokumentiert: Der Antrag der Linksfraktion

Drucksache 17/5040
16.03.2011

Entschließungsantrag

der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Paul Schäfer, Jan van Aken, Christine Buchholz, Sevim Dağdelen, Dr. Diether Dehm, Annette Groth, Nicole Gohlke, Heike Hänsel, Inge Höger, Andrej Hunko, Harald Koch, Stefan Liebich, Niema Movassat, Thomas Nord, Alexander Ulrich, Kathrin Vogler, Katrin Werner und der Fraktion DIE LINKE.

zu der Abgabe einer Regierungserklärung
durch den Bundesminister des Auswärtigen

Umbruch in der Arabischen Welt


Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
  1. Die Menschen, die in Libyen unter Gefahr für ihr Leben und ihre Gesundheit für ein freies, demokratisches, soziales Libyen demonstrieren, verdienen unsere Solidarität. Nichts kann die Niederschlagung der Proteste mit Waffengewalt durch die Regierung rechtfertigen.
  2. Mittlerweile findet in Libyen ein Bürgerkrieg statt, in dem zivile Artikulationsformen keinen Raum mehr haben.
  3. Eine Flugverbotszone aber könnte den Anfang einer militärischen Eskalation darstellen.
  4. Die Bundesregierung hat im Jahr 2009 die Lieferung von Rüstungsgütern imWert von 53,2 Mio. Euro an Libyen genehmigt. Sie erlaubte damit eine 13-mal so hohe Lieferung wie noch 2008 und hat damit Diktator Gaddafi dabei geholfen, Waffen gegen die eigene Bevölkerung zu richten.
  5. Der Bundestag protestiert gegen die Gewalttaten des Gaddafi-Regimes und fordert die sofortige Einstellung des Einsatzes der libyschen Armee, der Söldner und die Einstellung aller Kampfhandlungen.
  6. Bei der Lösung des Konfliktes ist die strikte Beachtung des Internationalen Rechts unverzichtbar. Das Parlamentsbeteiligungsgesetz wurde unter anderem durch den Einsatz von AWACS Flugzeugen, der durch das Mandat Operation Active Endeavour nicht gedeckt ist, missachtet.
II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
  1. dass Deutschland als Mitglied des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen dafür eintritt, dass der Weg für eine friedliche, gewaltfreie Lösung des Libyen-Konfliktes geöffnet wird. In geeigneter Art und Weise müssen die Vereinten Nationen internationale Vermittlungen zur Beendigung des Bürgerkrieges befördern und dabei das Internationale Recht strikt einhalten;
  2. dass Deutschland in der NATO eindeutig alle Maßnahmen zurückweist, die zu einer internationalen militärischen Auseinandersetzung führen könnten. Zu solchen Maßnahmen gehören die Aufforderung des französischen Präsidenten Sarkozy, Ziele in Libyen mit der Luftwaffe anzugreifen, die Einrichtung von Flugverbotszonen, das Zusammenziehen von Truppen im Mittelmeerraum und die Vorbereitung von Spezialkräften auf ein mögliches militärisches Eingreifen;
  3. das Parlamentsbeteiligungsgesetz zu beachten und dem Deutschen Bundestag unverzüglich das Mandat für den Einsatz „Pegasus“ und der AWACS-Flugzeuge vorzulegen;
  4. notwendige nichtmilitärische Maßnahmen zur Unterstützung der libyschen Bevölkerung zu ergreifen und humanitäre Hilfe für Flüchtlinge aller Nationalitäten bereit zu stellen. Deutschland soll innerhalb der Europäischen Union dafür eintreten, dass Flüchtlinge rasch und unbürokratisch von den Mitgliedsländern der Union einschließlich Deutschlands aufgenommen und die Verträge über die Zusammenarbeit im FRONTEX-Vertragssystem beendet werden;
  5. die Rüstungsexporte in die gesamte Region dauerhaft einzustellen und alle anderen Staaten aufzufordern dies ebenfalls zu tun;
  6. den Kauf von libyschem Erdöl und die Zahlungen dafür an Libyen sofort einzustellen.
Berlin, den 16. März 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Quelle: Deutscher Bundestag; http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/050/1705040.pdf




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