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Krieg in Libyen: Die Instrumentalisierung des Völkerrechts

Von Norman Paech *

Drei Wochen nach der Verabschiedung der Uno-Resolution 1973 ist offensichtlich: Die westliche Kriegskoalition in Libyen kämpft an der Seite der RebellInnen gegen Muammar al-Gaddafis Truppen und foutiert sich damit um den Wortlaut des Mandats.

Was jetzt nicht mehr bestritten werden kann, war vorauszusehen. Die Raketen der Koali­tion der Willigen und nun auch der Nato versuchen in Libyen, den Aufständischen den Weg nach Tripolis freizubomben, um Muammar al-Gaddafi von der Macht zu vertreiben. Mit Resolution 1973 des Uno-Sicherheitsrats ist diese Art der Kriegführung jedoch nicht vereinbar.

Das hätten Russland, China, Indien und Brasilien, die sich im Sicherheitsrat der Stimme enthalten hatten, wissen müssen. Angesichts der in Paris und London herrschenden Kriegseuphorie war es naiv, zu glauben, die Koalition würde sich an das Mandat halten. Sie konnten sich nicht darauf verlassen, dass sich die Truppen nach der schnellen Zerstörung der libyschen Luftwaffe und Luftabwehr zurückziehen und sich nur noch defensiv dem Schutz der Zivilbevölkerung widmen würden.

In der jüngeren Geschichte hat es einen solchen Fall lediglich einmal gegeben: Als US-Präsident George Bush senior die irakische Armee 1991 aus Kuwait vertrieben hatte, lehnte er es ab, die eigenen Truppen nach Bagdad weiterzuschicken, um den damaligen irakischen Präsidenten Saddam Hussein aus dem Amt zu jagen. Er wurde dafür heftig kritisiert. Doch die Resolution 687 hatte lediglich die Befreiung Kuwaits von den irakischen Truppen erlaubt – mehr nicht.

Eskalation des Kriegs

Wir wissen, dass sich am 17. März bei der Abstimmung um die Resolution 1973 die beiden Vetomächte Russland und China nur unter äussersten Bedenken der Stimme enthielten, statt dagegen zu votieren. Inzwischen ist auch klar, dass der Bomben- und Raketeneinsatz nicht der Massgabe der Resolution entspricht, «alle notwendigen Mittel zu ergreifen, [...] um Zivilisten und von Zivilisten bevölkerte Gebiete, einschliesslich Benghasi, die von Angriffen der Libyschen Arabischen Dschamhariya bedroht werden, zu schützen». Die «Begleitung» des Vormarschs der Aufständischen auf Tripolis mit Bomben und Raketen erfüllt weniger den Auftrag der Resolution, er ebnet vor allem der Eroberung den Weg. Dies ist eine klare Verletzung der Resolution. Uno-Generalsekretär Ban Ki Moon hat dies nicht übersehen, aber er rügt sie nicht, wie er es sollte.

Doch das eigentliche Problem liegt wesentlich tiefer. Der Uno-Sicherheitsrat ist die einzige Instanz, die in einer internen gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen Aufständischen und einer Regierung intervenieren darf; sofern die Kampfhandlungen die Staatsgrenzen nicht überschreiten, sind auch die Nachbarstaaten zu strikter Neutralität verpflichtet. Gemäss Artikel 42 der Uno-Charta darf der Sicherheitsrat nur dann militärische Mittel erlauben, wenn «eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt». Diese Formulierung ist auf den klassischen Krieg zwischen Staaten ausgerichtet. Der Artikel gibt keine Antwort auf die Frage, wie auf innerstaatliche Revolten, Aufstände oder Putsche zu reagieren ist; hier gilt nach wie vor der Schutzmantel der Souveränität in Gestalt des Einmischungsverbots und der Garantie der territorialen Unversehrtheit der Staaten.

Kurdistan, Somalia, Haiti

1991 sah sich der Uno-Sicherheitsrat erstmals veranlasst, in einer Situation schwerer Menschenrechtsverletzungen eine Resolution zu beschliessen, um die kurdische Bevölkerung im Norden Iraks vor den Angriffen Saddam Husseins zu schützen. In der Resolution 688 behauptete der Sicherheitsrat, die Repression gegen die KurdInnen würde den internationalen Frieden und die Sicherheit in der Region bedrohen – ohne dies allerdings näher zu begründen. China, das der Resolution nicht zustimmen wollte, wurde vom Sicherheitsrat erst durch den Hinweis auf die zahlreichen Flüchtlinge, die sich über die Grenzen nach Syrien und Iran retteten, von der Gefährdung der internationalen Sicherheit überzeugt und zur Stimmenthaltung bewegt. Da die Resolution zwar die Souveränität der Regierung im Norden beschränkte, aber keine militärische Intervention erlaubte, war sie auch nicht so brisant.

Anders ein Jahr später in Somalia, als es darum ging, die allgemeine Gewaltsituation und die willkürlichen Angriffe bewaffneter Gruppen auf die Zivilbevölkerung einzudämmen und die Lieferung von Medikamenten und Nahrungsmitteln zu ermöglichen. Im Dezember 1992 ermächtigte der Sicherheitsrat in der Resolution 794 die Entsendung einer multinationalen Streitmacht und begründete die Gefährdung des Weltfriedens nur noch mit der verzweifelten Situation der Menschen in Somalia.

Für die US-amerikanischen SoldatInnen endete der Einsatz 1994 im Desaster; Somalia wurde durch die «humanitäre Intervention» nicht befriedet. Doch die Einstimmigkeit der Resolution signalisierte, dass der Weg des Sicherheitsrats zu neuen Ufern der Intervention auf Zustimmung stiess. Dies zeigte sich knapp zwei Jahre später, als der Sicherheitsrat im Dezember 1994 eine multinationale Truppe – sprich: die USA – mit seiner Resolution 940 ermächtigte, den von einem Militärregime gestürzten Präsidenten Jean-Bertrand Aris­tide in Haiti wieder einzusetzen. Hier ging es nur noch um die «Wiederherstellung der Demokratie» – die Gefährdung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit wurde mit keinem Wort erwähnt.

Das neue Instrument

Damit war die «humanitäre Intervention» als Instrument des Uno-Sicherheitsrats etabliert. Doch kaum fünf Jahre später, mit dem Überfall der Nato auf das ehemalige Jugoslawien, wurde es wieder missbraucht. Der Versuch, die Bombardierung Jugoslawiens ohne Zustimmung des Sicherheitsrats als «humanitäre Intervention» völkerrechtlich zu legitimieren, ging gründlich daneben.

Diese Niederlage bewegte jedoch den damaligen Uno-Generalsekretär Kofi Annan, eine Kommission einzurichten. Aus ihr ging das Konzept der Schutzverantwortung («Responsibility to Protect») hervor, zu der sich 2005 auch die Uno-Generalversammlung mit einer Resolution bekannte. Das Konzept legt die Verantwortung der Staaten fest, ihre BürgerInnen vor schweren Menschenrechtsverletzungen zu schützen. Sind sie dazu nicht in der Lage, geht diese Verantwortung auf die Staatengemeinschaft über, die notfalls auch mit Gewalt eingreifen kann. Dafür braucht sie jedoch eine Ermächtigung des Uno-Sicherheitsrats; für die einzelnen Staaten gilt nach wie vor das Gewaltverbot.

Resolution 1973 kann durchaus als Beispiel für die «Responsibility to Protect» gesehen werden, wenn man die jahrelange Verletzung der Menschenrechte in Libyen für genügend schwerwiegend hält. Die Mitglieder des Sicherheitsrats müssen sich zwar vorhalten lassen, dass die Menschenrechtslage in Libyen nicht erst seit ein paar Wochen bekannt ist und dass sie diese nicht nur geduldet, sondern durch ihre Zusammenarbeit mit Gaddafi erst ermöglicht haben. Doch auch wenn diese Vorgeschichte Zweifel an der Legitimität der jetzigen Massnahmen aufkommen lässt: An der Legalität der Intervention ändert dies nichts.

Auch dass der Uno-Sicherheitsrat etwa die viel grösseren Verbrechen im Gazakrieg im Winter 2008/09 tatenlos geschehen liess, dort auch keine Flugverbotszone errichtete und die ZivilistInnen nicht vor dem israelischen Einsatz von weissem Phosphor schützte, kann als ein «kollektives Verbrechen durch Unterlassen» gewertet werden. Doch hat er auch mit dieser Unterlassung nicht die Möglichkeit verwirkt, im Fall von Libyen zu intervenieren.

Angesichts der eindeutigen Verletzung der Resolution durch die Art der Kriegführung und das sich daraus offenbarende Kriegsziel haben sich die anfänglichen Zweifel bestätigt. Der Einsatz bewegt sich längst jenseits des Mandats und ist deshalb völkerrechtswidrig. Die nun zu ziehende Konsequenz wäre der Rückzug der Resolution. Doch auch dem müssten erst einmal die fünf Vetomächte zustimmen.

* Norman Paech ist emeritierter Professor für Völkerrecht und lebt in Hamburg.


Der Kriegsverlauf

Erdöl für eine Genfer Firma

Der westliche Militäreinsatz in Libyen könnte Monate dauern. Damit rechnet zumindest die Royal Air Force. In einem Interview mit der britischen Tageszeitung «The Guardian» sagte der Generaloberst der britischen Luftwaffe, Stephen Dalton, die Kampfflugzeuge würden wohl eher noch «ein paar Monate als ein paar Tage oder Wochen» im Einsatz stehen.

Der Schweizer Bundesrat hatte vor zwei Wochen entschieden, ausländischen Kampfjets grünes Licht für den Überflug der Schweiz zu geben. Entsprechende Gesuche seien bis jetzt aber noch keine eingegangen, so das Bundesamt für Zivilluftfahrt (Bazl).

Seit bereits drei Wochen nun sind vornehmlich westliche Kampfflugzeuge an der Seite der libyschen RebellInnen im Einsatz. Zuerst sah es danach aus, als gelänge es der Kriegsallianz, den RebellInnen den Weg bis nach Tripolis freizubomben. Doch seit mehreren Tagen werden die Vorstösse der Rebell­Innen immer wieder von Oberst Muammar al-Gaddafis Truppen zurückgedrängt. Zu Wochenbeginn hatten die RebellInnen die Stadt Brega eingenommen, um sie tags darauf gleich wieder an Gaddafi zu verlieren. Unter dem aktuellen Bürgerkrieg leiden vor allem die ZivilistInnen. Nicht nur unter der Gewalt von Gaddafis Truppen: Inzwischen mehren sich die Berichte, wonach RebellInnen Jagd auf dunkelhäutige Einwohner machen. Da Gaddafi aus den südlichen Nachbarländern Kämpfer für seine Truppen rekrutiert, werden Dunkelhäutige kollektiv verdächtigt, im Söldnerdienst von Gaddafi zu stehen.

Am Wochenende hat Gaddafi Interesse signalisiert, den Konflikt auf diplomatischem Wege beilegen zu wollen: Am Sonntag begab sich Libyens stellvertretender Aussenminis­ter Abdel Ati al-Obeidi unter anderem nach Athen und in die Türkei und forderte die Regierungen der beiden Länder auf, sich um die Schlichtung des Konflikts zu bemühen. Die italienische Regierung wies Gaddafis Vorstoss umgehend als «unglaubwürdig» zurück; die RebellInnen fordern Gaddafi dazu auf, seine Truppen komplett aus den von ihnen besetzten Städten zurückzuziehen. Vorher werde es keine Verhandlungen über einen Waffenstillstand geben. Gleichzeitig kritisieren sie die Nato, zu wenig für ihre Unterstützung zu tun.

Inzwischen haben sich die Rebellen neue finanzielle Mittel gesichert: Anfang der Woche haben sie einen ersten Deal über den Export von Erdöl abgeschlossen. Die erste Tank­ladung wurde an Vitol verkauft, einen der weltgrössten Energiehändler mit Sitz in Genf.

Yves Wegelin



* Aus: Schweizer Wochenzeitung WOZ, 7. April 2011


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